Titelbild Osteuropa 1-2/2021

Aus Osteuropa 1-2/2021

Editorial
Umkämpfte Erinnerung

(Osteuropa 1-2/2021, S. 3–4)

Volltext

„Die Natur verhält sich der Geschichte gegenüber gleichgültig. An der Stelle des Massengrabs ist das Gras nicht weniger grün als anderswo.“ Das bemerkte der Schriftsteller György Konrád, der 1944 im Alter von elf Jahren nur durch Glück der Ermordung der ungarischen Juden entkommen war.

Zart ist das Grün auf dem Titelbild. Zu sehen sind eine Senke, eine Wiese, deren Grasnarbe noch vom Winter mitgenommen ist, Bäume, die frisch austreiben und deren Krone noch nicht geschlossen ist, doch sie werfen schon Schatten. Offensichtlich erwacht der Frühling im Park. Doch das Eigentliche sehen wir nicht. Der Boden birgt ein Geheimnis. Er ist kontaminiert durch ein Verbrechen.

Der Park liegt heute mitten in Kiew. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs lag das Gelände am Stadtrand. Hier verlief eine tiefe Erosionsrinne, die Schlucht von Babyn Jar. Nachdem die deutschen Truppen im September 1941 Kiew besetzt hatten, ermordete ein Sonderkommando der Sicherheitspolizei und des SD mit mehreren Polizeibataillonen und Unterstützung der Wehrmacht an diesem Ort am 29. und 30. September 34 000 Menschen: überwiegend Frauen, Kinder und Alte. Sie wurden allein deshalb ermordet, weil sie Juden waren. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 entwickelten die Exekutoren des Vernichtungskrieges eine Routine: Die Wehrmacht besetzte ein Gebiet, ihr folgten Einsatzgruppen und Polizeibataillone. Sie durchsuchten die Dörfer und Städte, fahndeten nach „Politkommissaren“ und trieben die jüdische Bevölkerung zusammen, führten sie aufs offene Feld, in Sandgruben oder auf Waldlichtungen und erschossen sie. Im westukrainischen Kam’janecʼ-Podil’s’kyj brachten die Deutschen Ende August 1941 23 000 Jüdinnen und Juden um. Das größte Einzelmassaker während des Zweiten Weltkriegs war das vor den Toren der ukrainischen Hauptstadt. Allein auf dem Gebiet der heutigen Ukraine wurden mehr als eine Millionen Juden erschossen, 500 000 auf andere Art ermordet.

Babyn Jar wurde zum Symbol für die Massenerschießung von Juden. Die Welt wusste früh von dem Massaker. Bereits im November 1941 berichtete die New York Herald Tribune vom zehntausendfachen Mord an den Kiewer Juden. Nach der Befreiung Kiews Anfang 1943 durch die Rote Armee nahm eine sowjetische Kommission die Untersuchung der Gräueltaten auf. Ihren Bericht sandte sie nach Moskau. Dort wurde er allerdings umgeschrieben. Die Opfer wurden als „sowjetische Bürger“ bezeichnet. Dass vor allem Juden ermordet worden waren, wurde verschleiert. Das „Schwarzbuch“ über den Genozid an den sowjetischen Juden, das Vasilij Grossman und Il’ja Ėrenburg zwischen 1943 und 1947 zusammengestellt hatten und das mit einer Schilderung der Ereignisse von Babyn Jar einsetzt, durfte in der Sowjetunion nicht erscheinen.

Im Land der Täter dauerte es bis 1967, ehe sich Mitglieder des Sonderkommandos für die Tötung von ca. 60 000 Menschen verantworten mussten. Doch der sogenannte Callsen-Prozess, der wie der Frankfurter Auschwitz-Prozess maßgeblich vom Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer vorangetrieben wurde, fand kein Interesse. Die Zuschauerbänke im Landgericht Darmstadt blieben meist leer. Die Zeugenaussage von Dina Proničeva, einer der wenigen Überlebenden des Massakers, erregte keine öffentliche Aufmerksamkeit. Dieses Schlüsseldokument zur Geschichte des Massakers vom April 1968 wird im vorliegenden Band zum ersten Mal publiziert. Die Verbrechen der Einsatzgruppen und der Polizeibataillone wurden seinerzeit beschwiegen.

Doch auch in der Sowjetunion gab es darüber kein offenes Gespräch. Babij Jar, so der russische Name des Orts, wurde nachgerade zu einem Symbol für ideologische Verschleierung. Diese speiste sich aus mehreren Quellen. Zum einen aus dem spezifischen Antisemitismus des Spätstalinismus. Zum anderen daraus, dass sich in der Sowjetunion seit Ende der 1920er Jahre ein anationaler Internationalismus durchgesetzt hatte, hinter dem sich oft ein imperialer russischer Nationalismus verbarg. Die Erwähnung nationaler Opfergruppen war ideologisch nicht erwünscht. Ohnehin zielte die Erinnerungspolitik auf den Sieg im Krieg, die Menschen sollten sich an Helden erinnern, nicht an Opfer. So folgte auf das Massaker das Schweigen. Doch gegen dieses Schweigen regte sich Protest. Zwanzig Jahre nach dem Verbrechen beklagte der junge russische Lyriker Evgenij Evtušenko in dem berühmt gewordenen Gedicht „Babij Jar“, dass dort noch immer kein Denkmal stehe. Dmitrij Šostakovič vertonte das Poem in seiner 13. Symphonie. Er machte Babij Jar weltbekannt.

Die Öffnung der Archive ab den 1990er Jahren hat der wissenschaftlichen Erforschung des Zweiten Weltkriegs, der Besatzungspolitik und des Holocaust einen enormen Schub verliehen. Heute ist bekannt, dass in Babyn Jar vor und nach dem Massaker vom 29. und 30. September weitere Zehntausende Menschen umgebracht wurden: Kranke, Behinderte, Roma, Russen, Juden, Ukrainer, Kriegsgefangene, Kommunisten. Auch die Kollaboration mancher Ukrainer mit den deutschen Besatzern und ihre Mitwirkung an der Ermordung der Juden sind gut erforscht.

Auf dem Gelände von Babyn Jar gibt es heute über dreißig Denkmäler und Gedenkzeichen. Der Ort ist Schauplatz einer Erinnerungskonkurrenz, welche die Repräsentanten verschiedener Opfergruppen miteinander austragen. Aber niemand stellt mehr in Abrede, dass das Massaker von Babyn Jar ein Verbrechen war, das sich speziell gegen Juden richtete. Gleichwohl ist über die Frage, wie an das Verbrechen erinnert werden soll, ein Konflikt entbrannt, der weit über die Ukraine hinausstrahlt. Es geht um das seit 2016 geplante zentrale Holocaust-Gedenkzentrum Babyn Jar (BYHMC). Zunächst erregte die Gemüter, dass Unternehmer aus Russland den Bau des Zentrums finanzieren. Doch wichtiger sind die Konflikte um den Umgang mit dem Ort selbst und die Bestellung des russischen Regisseurs Il’ja Chržanovskij zum künstlerischen Leiter. Dessen zugleich sensationalistisches und naturalistisches Konzept möchte das Verbrechen „erfahrbar“ machen, die Besucher sollen in digitalen Welten in die Rolle der Opfer und der Täter schlüpfen können. Historiker und Museumsexperten befürchten, dass die Aufklärung über und die Erinnerung an das historische Geschehen dadurch verdrängt werden. Eben dies sollte aber im Zentrum stehen.

„Die Natur“, so schreibt György Konrád weiter, „trauert nicht und legt auch kein Zeugnis ab. Sich erinnern ist eine naturfeindliche, eine todesfeindliche Aktion. […] Erinnern ist das Humane an sich!“

Berlin, im April 2021                                             Manfred Sapper, Volker Weichsel