Titelbild Osteuropa 5/2020

Aus Osteuropa 5/2020

Eisfrei über den Nordpol?
Die Suche nach einer Nordostpassage im 18. Jahrhundert

Kristina Küntzel-Witt

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Abstract in English

Abstract

Die Suche nach einer Seeroute durch das Nordpolarmeer begann im 16. Jahrhundert. Sie hing stets von der globalen Lage im Überseehandel ab. Das Zarenreich hatte lange kein Interesse, eine solche Route nach China zu erkunden. Es waren britische und niederländische Seefahrer, die eine solche Passage im Eis suchten. Erst unter Peter I. begann die Erforschung der sibirischen Küste am Nordpolarmeer. Gelehrte vieler Länder glaubten an eine eisfreie Passage über den Nordpol nach China. Auch der Universalgelehrte Michail Lomonosov vertrat diese These. Er initiierte 1765/1766 Vasilij Čičagovs erste Expedition in Richtung Nordpol. Deren Misserfolg führte dazu, dass im Russländischen Reich die Vorstellung von einer Passage über den Nordpol aufgegeben wurde. In Westeuropa erlebte sie im 19. Jahrhundert eine Renaissance.

(Osteuropa 5/2020, S. 23–37)

Volltext

Als britische und niederländische Seefahrer im 16. Jahrhundert begannen, nach einem Seeweg entlang der skandinavischen und sibirischen Küste von Europa nach Asien zu suchen, zeigte das Moskauer Reich daran wenig Interesse. Richard Chancellor (ca. 1521–1556), Stephen Borough (1525–1584) und Hugh Willoughby (gest. 1553) steuerten 1553 im Auftrag der von Sebastian Cabot (ca. 1474–1557) gegründeten Muscovy Company auf der Suche nach der Nordostpassage erstmals die Küste am Weißen Meer an. Damals existierte dort noch keine größere Siedlung. Die Hafenstadt Archangel’sk wurde erst 1584 von Ivan IV. gegründet, um den Handel mit ausländischen Schiffen weiter zu entwickeln.[1]

Die Vorstellung von der Existenz einer möglichen nördlichen Seeroute entlang der Kontinente gab es seit der Antike. Bereits damals ging man davon aus, dass Ozeane die Kontinente umschlossen.[2] Als Sigmund von Herberstein (1486–1566) in seinen berühmten Aufzeichnungen „Rerum Moscoviticarum commentarii“ 1546 über das frühe Russland eine Karte publizierte, auf der hinter der Mündung des Obʼ im äußersten Osten ein angeblicher Kithay Lacus eingezeichnet war, wurde damit in Westeuropa die Hoffnung auf einen kurzen Weg nach China geweckt.[3] Cabot und Chancellor wurden bei ihren Planungen von dem britischen Gelehrten und Astronomen John Dee (1527–1608) beraten, der mit Gerhard Mercator (1512–1594) eng befreundet war. Wahrscheinlich war es Dee, der Cabot mit Herbersteins Karte vertraut machte.[4]

Bis weit ins 16. Jahrhundert hinein betrieb Russland wenig Schifffahrt an der Weißmeerküste. Häufig waren es die einheimischen finno-ugrischen Ethnien wie die Nenzen (damals Samoeden), die Fischfang von kleineren Booten aus an der Küste betrieben. Auch nach der Gründung von Archangel’sk entwickelte sich die Hochseeschifffahrt in Russlands Norden nur äußerst schleppend. Das lag einerseits an den ungünstigen klimatischen Bedingungen, denn der Hafen fror häufig von Oktober bis Mai zu, andererseits zeigte der Moskovitische Staat auch kein Interesse am Aufbau einer eigenen Handelsflotte oder am Walfang.[5]

Solange Spanier und Portugiesen die südliche Schifffahrtsroute nach Asien für britische und niederländische Schiffe sperrten, suchten diese immer wieder nach einer Passage entlang der sibirischen Küste. Am berühmtesten sind sicherlich die drei Entdeckungsfahrten von Willem Barents (1550–1597), dem es auf seiner letzten Fahrt gelang, die nördliche Spitze von Novaja Zemlja zu umrunden und in die Karasee einzufahren, wo sein Schiff im August 1596 einfror. Barents kartographierte auf dieser Fahrt die westliche Küste und Spitze der Doppelinsel sehr genau. Nicht zufällig wurde die davor liegende See nach ihm benannt.[6] Auf einer Karte, die 1598 nach seinem Tode erschien, kann man genau sehen, welche Teile der Küste von Novaja Zemlja Barents untersucht hatte. Alle Buchten und Fjorde der zerklüfteten Küstenlinie sind eingetragen bis zu dem Punkt, wo man im Eis stecken blieb. Barents erkundete auch die Meerenge Matočkin Šar, die Novaja Zemlja zu einer Doppelinsel macht. Doch er erkannte diese Möglichkeit einer Passage in die Karasee nicht, vielmehr hielt er die Meerenge für einen weiteren Fjord.

Alle diese Entdeckungsfahrten endeten in der Karasee, da dort dichte Eisfelder unvorhersehbar auftreten konnten und sich als undurchdringlich erwiesen. Dabei hatte Barents nach den Vorschlägen des niederländischen Astronomen und Geographen Peter Plancius (1552–1622) einen Kurs möglichst fern von der Küste einhalten wollen, um den Eismassen in Küstennähe zu entgehen. Plancius und andere Gelehrte des 16. Jahrhunderts waren der Meinung, Eisberge könnten sich nur gespeist aus dem Süßwasser der Flüsse vor allem in der Nähe der Küste bilden. Mithin war es ihrer Ansicht nach möglich, dass es eine eisfreie Passage in größerem Abstand zur Küste gab.[7]

Barents selbst überlebte zwar die Überwinterung auf Novaja Zemlja, aber er verstarb 1597 auf dem Rückmarsch an Skorbut. Das Schiff hatte man aufgeben müssen. Als dann das spanische und portugiesische Monopol auf die Südroute nach Asien rund um Afrika zerfiel, stellten die neuen großen Seemächte England und die Niederlande die Suche nach einem nördlichen Seeweg zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein.

Auch als sich in dieser Zeit in Westeuropa der Walfang infolge des Bedarfs an Tran zu einer regelrechten Protoindustrie entwickelte, zeigte das Moskovitische Russland weiterhin keinerlei Interesse daran. Es fehlten nach wie vor eine Handelsflotte oder Walfangschiffe, denn der Fang von großen Robben und Walrossen reichte, um den russischen Bedarf an Tran zu decken. Da man diese im Frühjahr auf dem Eis oder an den Küsten von Novaja Zemlja fing, benötigten die russischen pomory[8] keine größeren Schiffe für die Jagd.[9]

Bezeichnenderweise wurde der Hafen von Mangazeja, der über den Fluss Taz mit der Mündung des Obʼ verbunden ist, 1618/1620 unter Zar Michail F. Romanov sogar geschlossen, als er von zu vielen ausländischen Schiffen angesteuert wurde. Die offizielle Begründung lautete, dass dort nur ungenügend Steuerabgaben erfolgten.[10] Das Moskovitische Reich definierte sich eindeutig als Landimperium, das an Schifffahrt und Flotte wenig interessiert war, ebenso wenig wie an der Suche nach der Nordostpassage.[11]

Die Suche nach einer Nordostpassage im 18. Jahrhundert

Bekanntlich änderte sich das Verhältnis des Russländischen Reiches zum Meer und seinen Möglichkeiten grundlegend mit dem Regierungsantritt von Peter I. Ganz im Gegensatz zu seinen Vorgängern begann der neue Zar umgehend damit, sowohl eine Handelsflotte als auch eine Marine aufzubauen. Peters großes Ziel, einen eisfreien Hafen zu bekommen, ist hinlänglich bekannt. In seiner Regierungszeit zeigte das Russländische Imperium erstmals Interesse an der Suche nach einer Schiffspassage entlang seiner nördlichen Küste. Auch die Sichtweise auf seinen asiatischen Teil veränderte sich.[12] Fedor Saltykov formulierte 1714 in einem Memorandum an den Zaren die Zweckmäßigkeit einer Schifffahrtsroute entlang der sibirischen Küste, umso schneller nach Asien zu gelangen und den Handel zu beleben.[13] Auch in Westeuropa flammte die Diskussion über eine mögliche nördliche Seeroute wieder auf und wurde von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und dem königlichen französischen Geographen Guillaume Delisle (1675–1726) an den Zaren herangetragen.[14]

Dazu musste allerdings aus Sicht der Gelehrten erst einmal die Frage geklärt werden, ob eine Passage überhaupt möglich war oder ob eine Landverbindung zwischen Asien und Amerika existieren würde, die eine „Durchfahrt“ unmöglich machen würde. Auf jeden Fall war Peters Interesse geweckt. Nach seiner Rückkehr nach Russland begann er ab 1719 damit, Sibirien und dessen Küsten und vor allem die Küste am Nordpazifik untersuchen zu lassen. Er veranlasste die erste Kamčatka-Expedition (1725–1730), die nach einer Landverbindung zwischen den Kontinenten suchen sollte. Als diese Frage von Vitus Bering (1681–1741), dem Leiter der Expedition, nicht eindeutig geklärt werden konnte, folgte daraufhin unter Zarin Anna Ivanovna mit der zweiten Kamčatka-Expedition (1733–1743) eine noch größere Unternehmung, auf der nicht nur der Seeweg von Kamčatka nach Alaska entdeckt wurde, sondern auch die gesamte sibirische Küstenlinie kartographisch erfasst wurde.[15]

Durch diese zweite Expedition, die in der sowjetischen Geschichtsschreibung die „Große Nordische Expedition“ genannt wurde, konnte zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass es keine Landverbindung zwischen Nordasien und Nordamerika gab. Dennoch kam es anschließend zu einer lebhaften Diskussion über die Möglichkeit einer Nordostpassage in Westeuropa, nachdem erste Ergebnisse der Expedition veröffentlicht worden waren. Angeregt hatte diese Diskussion Joseph-Nicolas Delisle (1688–1768), der jüngere Bruder von Guillaume Delisle, der 1726 nach Russland gekommen war, um zunächst in Petersburg ein Observatorium aufzubauen und später als einer der ersten Professoren an die neugegründete Akademie der Wissenschaften berufen wurde.[16]

Joseph-Nicolas Delisle hatte seinen älteren Bruder Louis Delisle de la Croyère (ca. 1687–1741) mit nach Russland gebracht und in Petersburg zum Astronomen ausgebildet.[17] Delisle de la Croyère gehörte zur Gruppe der Wissenschaftler, die an der Zweiten Kamčatka-Expedition beteiligt war. Er hatte auf dem Schiff von Aleksej Čirikov (1703–1748) 1741 an der Überfahrt nach Alaska teilgenommen. Delisle de la Croyère starb auf der Rückfahrt an Skorbut, und sein Bruder, der nach wie vor in Petersburg arbeitete, erhielt dessen Aufzeichnungen von der Expedition.

1747 durfte Joseph-Nicolas Delisle nach Paris zurückkehren, was zu Verwerfungen zwischen ihm und der russländischen Regierung und der Akademie der Wissenschaften führte, als bekannt wurde, dass er ohne Genehmigung russische Karten nach Paris geschickt hatte.[18] Noch angespannter wurde das Verhältnis zwischen ihm und Petersburg, als er 1752 mit dem Schwiegersohn seines verstorbenen Bruders Guillaume, Philippe Buache (1700–1773), eine Karte veröffentlichte, die den Nordpazifik und die angrenzende asiatische und nordamerikanische Küste zeigte. Auf dieser Karte sind drei Inseln eingezeichnet, die es in dieser Form nicht gibt: „Jeso“, „Yeço, Compagnieland“ und „da Gama-Land“.[19] Delisle zeichnete diese Inseln zwischen dem Ochotskischen Meer und Japan ein. Yeço hat eine beinahe sichelförmige Form und liegt unterhalb von Sachalin. Die anderen kleineren Inseln sind zwischen Yeço und den Kurilen eingezeichnet. Eigentlich hatten Bering und Čirikov mit ihrer Überfahrt bereits belegt, dass entweder die Lage dieser Inseln auf den Karten falsch eingezeichnet sein musste oder sie gar nicht existieren. Eine beigefügte Erklärung Delisles offenbarte zudem sein Unwissen über den Verlauf von Berings Überfahrt. Denn er behauptete, Bering sei bereits auf dem Hinweg auf der Beringinsel vor Kamčatka notgelandet. Bering war dort erst auf dem Rückweg mit seinem Schiff, der St. Peter, gestrandet. Vor allem hatte er auf der Überfahrt die Inselkette der Aleuten entdeckt, wovon in Delisles Ausführungen keine Rede war und er sie daher auch nicht auf der Karte eingezeichnet hatte.[20]

Darüber hinaus lieferte die Karte noch weiteren Gesprächsstoff, weil auf ihr ein großes „Westmeer“ auf dem nordamerikanischen Kontinent zu sehen war, dessen Existenz auf den apokryphen Bericht eines angeblichen spanischen Admirals de Fonte zurückging. Erst Jahrzehnte später sollte sich herausstellen, dass der Bericht von dem englischen Publizisten James Petiver erdacht worden war, um die Auflage seines Journals „Monthly Miscellany, or Memoirs for the Curious“ zu steigern.[21]

Die Karte rief das allgemeine Interesse der führenden Geographen des 18. Jahrhunderts hervor, da es in Frankreich bereits vorher eine lebhafte Diskussion über die Lage von Kamčatka gegeben hatte, wobei diskutiert wurde, ob es sich bei der Insel Jeso um Kamčatka handeln würde. Tatsächlich hatte man Jeso mit der japanischen Insel Hokkaido verwechselt.[22] Diese Diskussion zeigt anschaulich, wie vage das Wissen über den nordpazifischen Raum in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Westeuropa noch war.

Der russische Hof zeigte sich sehr verärgert über Delisles Veröffentlichung. Der deutschstämmige Gelehrte und Teilnehmer an der Zweiten Kamčatka-Expedition Gerhard Friedrich Müller (1705–1783) wurde gebeten, eine Gegendarstellung zu veröffentlichen, in der Berings Verdienste entsprechend den Tatsachen dargestellt werden sollten. Müller veröffentlichte seine Replik anonym in der „Bibliothèque Germanique“.[23] Damit wurde die Diskussion über die Entdeckungen im Nordpazifik nur noch stärker angeheizt, vor allem erregte in Westeuropa Misstrauen, dass Müller seinen vorgeblichen Brief anonym veröffentlicht hatte. Man zweifelte am Wahrheitsgehalt der russischen Angaben.

Gleichzeitig aber lebte die Diskussion um eine mögliche Passage nach Asien entlang der sibirischen Küste wieder auf, weil Delisles Karte eindeutig zeigt, dass keine Landverbindung zwischen den Kontinenten existiert. Zudem veröffentlichte Müller etwas später in seinen „Nachrichten von Seereisen“ in seiner „Sammlung Russischer Geschichte“ den Bericht des Kosaken Semen Dežnev aus dem Jahre 1648, der damals das nordöstliche Kap umrundet hatte.[24] Dadurch konnte zweifelsfrei belegt werden, dass es eine Meeresstraße am Kap gab, die man durchqueren konnte, d.h. aus geographischer Sicht stand einer, wie es in den damaligen Texten immer wieder heißt, „Durchfahrt“ nichts im Wege.

In Westeuropa zeigte sich insbesondere der Berner Geograph Samuel Engel (1702–1784) an der Möglichkeit einer Nordostpassage äußerst interessiert. Er begann zu dieser Frage zu publizieren und polemisierte gegen Müllers Schriften, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass Eismassen eine Passage unmöglich machen würden. Er glaubte, genau wie 150 Jahre zuvor Peter Plancius, dass nur Süßwasser gefrieren würde, aber kein Salzwasser – und daher Eisberge nur in der Nähe von Küsten auftreten könnten.[25]

Unabhängig von ihm entwickelte auch der russische Universalgelehrte Michail V. Lomonosov (1711–1765) eine Theorie von einer eisfreien Passage durch das arktische Polarmeer in Höhe des 80° Breitengrades aufgrund desselben Grundgedankens, wie ihn Engel vertrat, dass Salzwasser nicht gefrieren kann. Er veröffentlichte darüber einige Experimente in der Zeitschrift der Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Diese Artikel kannte Samuel Engel.[26] Aber Lomonosovs Memorandum konnte Engel nicht kennen, da Lomonosov es direkt an die Admiralität richtete, ohne die Akademie der Wissenschaften, an der er lehrte, zu informieren.

Lomonosovs Memorandum über eine eisfreie Passage

Lomonosov stellte sein Memorandum Kratkoe opisanie raznych putešestvij po severnym morjam i pokazanie vozmožnogo prochody sibirskim okeanom v vostočnuju indiju (Kurze Beschreibung verschiedener Wege durch die nördlichen Meere und Darstellung möglicher Zugänge durch die sibirischen Ozeane nach Ostindien) 1763 dem Admiralitätskollegium vor. Diese Schrift war somit nur für das Militär bestimmt und wurde nicht veröffentlicht.[27]

Wie intensiv sich Lomonosov mit diesem Problemkreis beschäftigte, zeigt schon der Umfang der Studie. Knapp 80 Seiten umfasste das Memorandum, später fügte er sogar noch weitere Ergänzungen hinzu. Er schildert darin die frühen britischen und holländischen Versuche, eine Nordostpassage zu entdecken und geht auch auf die von Arthur Dobbs (1689–1765) finanzierte sogenannte Middleton Expedition von 1737 ein, auf der vergeblich nach der Nordwestpassage gesucht wurde.[28] Dobbs, ein irischer Landadliger und Parlamentarier, der 1754 zum Gouverneur von North Carolina ernannt wurde, hatte den von Müller anonym verfassten Brief eines „Russischen Offiziers von der Flotte“ ins Englische übersetzt und vehement die russischen Angaben verteidigt.[29]

Interessanterweise heißt es im Titel des Memorandums, dass der Weg nach Ostindien gesucht werden sollte. China und Japan werden nicht erwähnt. Lomonosov erläutert das nicht weiter, aber es könnte ein Hinweis darauf sein, wie groß in Russland die Ernüchterung über den Handelsvertrag von Kjachta (1727) mit China war. Denn der Vertrag verbot Russland den Handel über die chinesischen Häfen. Außerdem hatte man seit der Entdeckung der Kurilen die Erfahrung machen müssen, dass Japan noch weniger als China an Handelsbeziehungen interessiert war. Daher versprach ein Seeweg zu den beiden asiatischen Großreichen für Russland Mitte des 18. Jahrhunderts keinen größeren Profit.[30]

Vor allem ging es Lomonosov jedoch um eine eisfreie Passage über den Pol. Ähnlich wie Engel beschäftigte Lomonosov sich mit der Wirkung der Sonnenstrahlung am Pol. Lomonosov war der Ansicht, da in den Sommermonaten die Sonne im Polgebiet unablässig scheint, müsste dadurch das Eis zum Schmelzen gebracht werden. Aufgrund dieser Annahme hatte in Europa lange die Vorstellung existiert, dass sich das Paradies am Pol befinden müsste.[31] Er glaubte deswegen genau wie Engel, dass das Polarmeer im Sommer befahrbar sein müsste. Genau wie der Berner Geograph interessierte sich Lomonosov sehr für Semen Dežnevs Entdeckerfahrt. Er war überzeugt davon, dass damals das Kap eisfrei gewesen sein musste. Außerdem gelang es auch Bering auf der Ersten Kamčatka-Expedition, die Küste zumindest bis zum Kap hochzufahren. Sie muss also damals ebenfalls eisfrei gewesen sein.[32] Genau das war der Punkt in den russischen Darstellungen, der Engels Argwohn geweckt hatte, weil er ihn als widersprüchlich empfand. Lomonosovs gesamte Schrift ähnelt Engels Ansichten sehr, aber Engel kann sie nicht gekannt haben, weil sie, wie erwähnt, nicht veröffentlicht worden war. Ansonsten hätte er sie sicherlich in seinen Schriften verwendet und damit seine Argumentation untermauert.

Den Fischreichtum des arktischen Ozeans sah Lomonosov als ein weiteres Indiz für ein pflanzliches Wachstum im Meer an, was es nur dank Sonneneinstrahlung geben kann.[33] Außerdem beschäftigte er sich intensiv mit den Windverhältnissen in der Arktis und auch da glaubte er, belegen zu können, dass es im Sommer zum Abschmelzen der Eismassen am Pol kommen müsste.[34]

Zudem vermutete Lomonosov, dass sich in der Nähe des Pols Inseln befinden müssten, wodurch sich die Existenz der Eisberge erklären ließe.[35] An dieser Stelle erwähnt er zwar genauso wenig wie Engel Gerhard Mercator, aber es ist offensichtlich, dass sich beide von dessen Polkarte aus dem Jahr 1595 inspirieren ließen.[36] Auf dieser wird rund um den Nordpol (Polus Arcticus) eine große Insel gezeigt, die durch vier Flüsse geteilt wird. Hier spiegelt sich die Vorstellung von einem großen Süßwasservorkommen am Pol. Nach antikem Vorbild wird das Nordpolarmeer auf Mercators Karte „Oceanus Scythicus“ genannt. Sehr interessant ist die Frage, warum Mercator Novaja Zemlja als Doppelinsel darstellt. Wie erwähnt, hat selbst Barents die Durchfahrt nicht erkannt und Novaja Zemlja ohnehin erst ein Jahr nach Erscheinen von Mercators Karte detailliert kartographiert.[37]

Lomonosov schätzte eine Passage über den Pol auf insgesamt etwas über 3000 km Länge. Er hält sie ausdrücklich für möglich und legt am Ende der Schrift konkrete Anweisungen für eine Expedition über den Pol vor.[38] Zudem fügte er ihr eine eigene Polkarte bei.[39] Sie wurde in Westeuropa wesentlich bekannter als die Denkschrift, von der es keine vollständige deutsche Übersetzung gibt.[40]

Die Karte sollte die möglichen Routen über den Pol illustrieren. Eine davon verläuft zwischen Grönland und Spitzbergen jenseits des 80° Breitengrades.[41] Eine zweite Route, die Lomonosov in seinem Text vorschlägt, läuft über die Spitze von Novaja Zemlja und am später als Kap Dežnev bezeichneten Landvorsprung vorbei. Sowohl die Ostküste von Novaja Zemlja als auch das Kap Dežnev sind gestrichelt eingezeichnet. Ebenso eine größere Insel, die sich vor der Mündung der Kolyma im Eismeer befinden sollte, deren Existenz Lomonosov als „zweifelhaft“ angibt. Weitere Inseln sind nicht eingezeichnet, obwohl Lomonosov im Begleittext angibt, dass es sie geben muss. Beim nordasiatischen Kap Dežnev hat er sich offenbar an Müllers Angaben gehalten, aber das gestrichelte Einzeichnen ist ein klarer Hinweis darauf, dass er sie für unbewiesen hielt. Tatsächlich ist das Kap zu groß gezeichnet. Die gegenüberliegende amerikanische Seite hat Lomonosov nur skizziert, aber stark vorspringend eingezeichnet und einige vorgelagerte Inseln dazu. Weiter südlich, an der amerikanischen Pazifikseite, findet sich auch ein „more zapadnoe“ ein „Westmeer“. Das hat er aber nicht als Binnenmeer eingezeichnet wie Delisle und Buache, sondern als Einbuchtung. Dafür hat er im Norden einen großen „Lac Bernardo“ (Bernardovo Ozero) angelegt, von dem ebenfalls nur im De Fonte-Report berichtet wird, den Delisle zitiert hatte. Insgesamt mischen sich auf der Karte belegte und phantastische Angaben sehr stark. Vor allem die amerikanische Seite ist eher als phantasievoll zu charakterisieren, doch auch die sibirische Halbinsel Tajmyr ist viel zu weit vorspringend und zu schmal angegeben. [42]

Lomonosov hatte sich zweifellos intensiv mit der Möglichkeit einer Passage beschäftigt, aber an keiner Stelle ist ein Bezug auf Engels Artikelserie in der „Nouvelle Bibliothèque Germanique“ sichtbar. Engels Monographien erschienen ohnehin erst später. Die beiden Gelehrten entwickelten also zeitgleich und weitgehend unabhängig voneinander die gleichen Hypothesen. Das war nur möglich, weil sie über die gleiche Wissensbasis verfügten. Dieser Wissensstand begann sich dank der Expeditionen entlang der sibirischen Eismeerküste und dank Cooks Entdeckungsfahrten in arktische Gewässer langsam zu ändern. Bei der Entstehung seines Memorandums dürfte auch Lomonosovs Kindheit eine Rolle gespielt haben, denn er wuchs an der Küste von Archangel’sk auf und gehörte damit zu den erwähnten „pomory“.[43] Allerdings stellt die Küste am Weißen Meer klimatisch gesehen im Vergleich zur angrenzenden sibirischen Küste und dem Nordpolarmeer eine Besonderheit  dar, denn in der Barentssee bringt der Ausläufer des Golfstroms das Eis im Frühjahr schneller zum Schmelzen als in der Kara- und der Laptevsee. Wegen des Golfstroms friert das Nordkap an der norwegischen Küste selbst im Winter nicht zu im Gegensatz zum nordasiatischen Kap Dežnev. Damals war jedoch das Phänomen des Golfstroms noch unbekannt.

Lomonosovs pragmatische Herangehensweise äußert sich noch an einer anderen Stelle seines Memorandums. Dort verweist er darauf, am besten solle man den Walen folgen, denn sie würden die eisfreien Gewässer instinktiv kennen und dorthin schwimmen.[44] Außerdem empfahl er die Mitnahme von Dolmetschern, vor allem Čukčen, und Jägern, die Eisbären erlegen konnten. Sehr wichtig war ihm auch die Verpflegung. Es sollte für drei Jahre ausreichend Proviant mitgenommen werden.[45]

Seine Schrift fand den Zuspruch der Admiralität. Ein Jahr später finanzierte Katharina II. die erste russische Expedition in den arktischen Ozean, die sogenannte Čičagov-Expedition. Auch bei den späteren Expeditionen wurde immer wieder Lomonosovs Schrift herangezogen.[46] Sie spielte damit für die Geschichte der russischen Expeditionen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle.

Die Čičagov-Expeditionen zum Nordpol 1765 und 1766

Die Admiralität bestimmte Vasilij Ja. Čičagov (1726–1809) zum Leiter der Expedition, für die in Archangel’sk drei Schiffe mit verstärktem Rumpf extra gebaut wurden. Wegen der Vorbereitungen konnte die Expedition erst 1765 beginnen, kurz zuvor war Lomonosov an einer fiebrigen Erkrankung verstorben. Čičagov sollte von der Kola-Halbinsel aus Spitzbergen ansteuern, wohin bereits eine Expeditionsgruppe voraus entsandt worden war, um dort ein Lager für den Fall einer notwendigen Überwinterung einzurichten. Dieses Camp steuerte Čičagov zunächst an, um dort einen kurzen Halt einzulegen, Vorräte auszutauschen und danach weiter gen Norden zu segeln, wo er in Höhe des 80º26’’ Breitengrades am 23. Juli so plötzlich von einem Eisfeld umschlossen wurde, dass er nur mit Mühe herausfand. Unterwegs traf er auf mehrere Walfänger aus Hamburg und den Niederlanden, die ihm alle berichteten, niemals weiter nördlich als bis zum 80º Breitengrad gekommen zu sein.[47] Er hielt dennoch einige Tage weiter einen nördlichen Kurs ein, aber nachdem er wieder auf Eisfelder traf, drehte er am 29. Juli um und kehrte, ohne die auf Spitzbergen zurückgelassene Mannschaft mitzunehmen, nach Archangel’sk zurück. Dort traf er am 20. August 1765 mit allen drei Schiffen ein.[48]

Diese frühe Rückkehr brachte ihm viel Kritik von der Admiralität ein, die mit den Ergebnissen der Expedition nicht zufrieden war. Man hatte auf spektakuläre neue Entdeckungen gehofft, aber Čičagov hatte keine neuen Inseln gefunden. Darüber hinaus warf man ihm vor, das Lager auf Spitzbergen auf dem Rückweg nicht besucht zu haben, wo die zurückgebliebenen Matrosen eine zweite Überwinterung überstehen mussten. Man warf dem Kapitän vor, zu vorsichtig gewesen zu sein und zu früh aufgegeben zu haben. Deshalb wurde für das nächste Jahr eine zweite Expedition angeordnet. Čičagov und seine Besatzungen mussten statt in Archangel’sk auf der Kola-Halbinsel überwintern, damit sie im nächsten Jahr früher in See stechen konnten.[49] Aber dieser zweite Versuch 1766, eine eisfreie Passage jenseits des 80º Breitengrades zu finden, blieb ebenso erfolglos wie die erste Expedition. Immer wieder drohten die Schiffe von Eisfeldern umschlossen zu werden, Eisberge versperrten ihnen den Weg, bis sie schließlich umkehren mussten.

Eine Anekdote verdeutlicht die geplanten Dimensionen dieser Expedition, denn im Grunde war die Čičagov-Expedition weitreichender oder auch „phantastischer“ angelegt, als es zunächst den Anschein hatte. In einem geheimen Zusatz des Admiralitätskollegiums wurde bestimmt, dass Čičagov bei einer erfolgreichen Überquerung des Pols mit der gleichzeitig stattfindenden Krenicyn-Levašov-Expedition im Nordpazifik zusammentreffen sollte. Auch diese Expedition fand unter der Führung der Admiralität statt. Auf ihr sollten von 1764 bis 1771 die Beringstraße sowie die Küste Alaskas und die Aleuten untersucht werden. Lydia Black schreibt, nach Anweisung der Admiralität sollten dort die Mannschaften ausgetauscht werden, um anschließend die Rückfahrt anzutreten.[50] Diana Ordubadi behauptet, dort hätten die gesammelten Materialien ausgetauscht werden sollen.[51] Und Lev Usyskin weiß zu berichten, dass im Falle, dass sich die beiden Expeditionen getroffen hätten, sie ihre Berichte austauschen und auf der Route der anderen Expedition hätten heimkehren sollen.[52] Doch selbst wenn es hier Differenzen in der Darstellung der Instruktionen gibt, so ist letztendlich der Eindruck entscheidend, dass sowohl bei der Admiralität als auch bei der Regierung eine gewaltige Fehleinschätzung der Dimensionen des Polarmeers und des Nordpazifiks vorliegt, denn wie sich die beiden Expeditionen in der Weite des Nordpazifiks finden sollten, wo und in welchem Jahr, wurde im Admiralitätskollegium nicht diskutiert. In der Realität wurde die Krenicyn-Levašov-Expedition so lange in Ochotsk aufgehalten, da sich der Bau der benötigten Schiffe verzögerte, dass sie erst im August 1766 den Hafen von Ochotsk in Richtung Kamčatka verließ. Zu dem Zeitpunkt kehrte Čičagov gerade wieder von der zweiten Expedition nach Archangel’sk zurück.[53]

Die Krenicyn-Levašov-Expedition gilt als ähnlich erfolglos wie die Expeditionen unter Čičagov, weil sie ebenfalls keine neuen Entdeckungen vorweisen konnte. Petr K. Krenicyn (gest. 1770), der Leiter der Expedition, erlitt vor Bol’šereck auf Kamčatka Schiffbruch, weshalb auf der Halbinsel neue Schiffe gebaut werden mussten. Erst 1768 konnte er endlich mit der eigentlichen Expedition in den Nordpazifik beginnen. Die Expedition erreichte die Aleuten, aber da die Mannschaften bereits schwer von Skorbut geschwächt waren, gelang es nicht, die Inseln weiter zu erforschen. Nur Unalaska wurde von Michail D. Levašov (auch Levašev, 1739–ca. 1775) kartographisch erfasst und näher untersucht. Krenicyn starb 1770 auf Kamčatka, woraufhin Levašov die Leitung der Expedition übernehmen musste. 1771 kehrte er nach St. Petersburg zurück, ohne neue Entdeckungen präsentieren zu können.[54]

Genau wie die Expeditionen unter Čičagov wurde diese Expedition geheim gehalten. Westeuropa hatte lange Zeit keine Kenntnis von den Expeditionen. Erst Jahrzehnte später erlaubte Katharina II. Peter Simon Pallas (1741–1811) und dem schottischen Historiker William Robertson (1721–1793), darüber zu berichten.[55]

Die große Ernüchterung: keine eisfreie Passage in Sicht

Mindestens drei Faktoren sind an der Čičagov-Expedition bemerkenswert: Erstens handelte es sich um die erste Expedition in die Arktis überhaupt. Zuvor waren nur Walfänger so weit in die Nähe des Nordpols gekommen. Zweitens stand die Expedition unter strenger Geheimhaltung. Im Unterschied zur späteren Billings-Saryšev-Expedition von 1785–1795 unter Katharina II. drangen tatsächlich keinerlei Neuigkeiten nach Westeuropa. Bis heute ist Čičagovs-Expeditionsbericht auch nicht auf Russisch veröffentlicht worden. Er befindet sich nach wie vor im Marinearchiv. Das dürfte mit ein Grund dafür sein, dass der Bericht in Vergessenheit geriet.[56]

Drittens wurde die Expedition von keinem Wissenschaftler begleitet. Zunächst hatte Lomonosov seinen Kollegen S.Ja. Rumovskij, einen Astronomen, mitschicken wollen, aber nachdem es zwischen beiden zum Streit gekommen war, unterrichtete Rumovskij nur vor der Expedition Čičagov und seine Offiziere, die entsprechenden Messinstrumente für die Observationen zu bedienen.[57] Damit war die Expedition vergleichbar mit der ersten Kamčatka-Expedition, die ausschließlich unter militärischer Führung stattfand und deren Hauptzweck nicht in der wissenschaftlichen Erforschung der bereisten Region, sondern in der Entdeckung einer neuen Schiffsroute bestand.

Die fehlende wissenschaftliche Dokumentation der Expedition hat dazu geführt, dass die Rezeption der Čičagov- und der Krenicyn-Levašov-Expeditionen bis heute defizitär ist. Da die russländische Regierung sie damals als Desaster ansah, hatte sie kein Interesse daran, dieses Fiasko öffentlich zu machen. Trotzdem bleibt die Frage, warum sie die Expeditionen von Anfang an geheim hielt.[58] Nur um ein etwaiges Scheitern nicht zugeben zu müssen? Zweifellos war es von Anfang an ein ambitioniertes Projekt mit ungewissem Ausgang. Andererseits war Katharina II. immer bemüht, Russland auch als neue wissenschaftlich bedeutsame Macht zu präsentieren. Praktisch gleichzeitig zu den geheim gehaltenen Expeditionen drängte sie Peter Simon Pallas, den Reisebericht von seiner Expedition durch Sibirien möglichst schnell zu veröffentlichen.[59] Allerdings handelte es sich bei Pallasʼ Reise um eine Expedition innerhalb der russländischen Grenzen, während die oben genannten Expeditionen die territorialen Grenzen des Russländischen Imperiums überschritten.[60] Trotzdem hatte die russländische Regierung unter Zarin Elisabeth mit Müllers Veröffentlichung der „Nachrichten von Seereisen“ bereits mehr Öffentlichkeit gewagt.

Vor allem bleibt festzuhalten, dass die Theorie von einer eisfreien Passage durch die arktischen Gewässer in Russland keine Anhänger mehr fand. Auch in Westeuropa wurde daran Kritik geübt, die erstaunlich aktuell klingt. So heißt es in einer Rezension zu Engels Schriften:

 

Allein will der Mensch denn immer die Natur zwingen? Glaubet man denn, ewig ihren Gesetzen widerstreben zu können? Ist es denn weise, Herrschaften und Reichthümer in der Ferne zu suchen, die man um sich herum vernachläßiget? Ist es denn noch nicht genug, daß wir die schönsten Gegenden von Europa und America besitzen, und daß wir einen geraden Weg zum Mittelpuncte der neuen Welt haben? Müssen wir denn noch durch beyde Pole dahin gehen wollen?[61]

 

Trotz dieser Kritik lebte in Deutschland in den 1870er Jahren noch einmal die Theorie über eine eisfreie Passage über den Nordpol durch den Geographen August Petermann auf.[62]

Es ist unübersehbar, dass die Suche nach einer nördlichen Seeroute immer von der globalen Lage im Überseehandel abhing. Fraglos waren ökonomische Motive für die westeuropäischen Staaten bei der Suche nach einer Passage ausschlaggebend, während sie für das Russländische Reich eine weniger große Rolle spielten. Schließlich hatte Russland eine gemeinsame Grenze mit China und war nicht auf den Seeweg angewiesen.

Gleichzeitig ist das Zusammenwirken von Gelehrten und Entdeckern an all diesen Expeditionen bemerkenswert. Ohne die Einflussnahme von Dee, Plancius, Lomonosov und Engel hätte es möglicherweise keine dieser Expeditionen gegeben. Denn auch Engels Schriften blieben nicht ohne Wirkung: Sie entfachten das Interesse der britischen Regierung an einer erneuten Suche nach der Nordwestpassage, und so wurde 1773 Kapitän Constantine Phipps auf die (erfolglose) Suche danach geschickt.[63]

Was bis heute an diese Zeit und die lebhaften Diskussionen über eine mögliche Passage durch den arktischen Ozean erinnert, sind nicht zuletzt die geographischen Bezeichnungen wie Barentssee oder der unterseeische Lomonosov-Rücken, wo vor einigen Jahren Russland eine Nationalflagge in den Meeresboden rammen ließ und damit weltweit Aufmerksamkeit erregte.

 

 


[1] Samuel H. Baron: Muscovy and the English Quest for a Northeastern Passage to Cathay (1553–1584), in: Ders.: Explorations in Muscovite History. Norfolk 1991, S. 1–17. – Kristina Küntzel-Witt: „Mythos Nordostpassage“: Der Traum vom kurzen Weg nach China, in: Friedrich Edelmayer, Gerhard Pfeisinger (Hg.): Ozeane. Mythen, Interaktionen und Konflikte. Münster 2017, S. 203–233, hier S. 212f.

[2] Eugen Seibold: Antike Vorstellungen und die Nordostpassage, in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur: Abhandlungen der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse. 2/2005. Stuttgart 2005, S. 4f. – Eugen Seibold: Land am Nordpol? Spekulationen auf alten Karten, in: Helwig Schmidt-Glintzer (Hg.): Neue Blicke auf alte Karten und die Dynamik der europäischen Kulturgeschichte. Wiesbaden 2007, S. 97–136.

[3] Peter Sager: Zu Sigismund Herbersteins Karte von Moscovia, in: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Sammler und Landeshistoriker, 30/1974, S. 3–13.

[4] Zwischen Samuel H. Baron und Walter Leitsch gab es eine lebhafte Debatte darüber, wie groß Herbersteins Einfluss auf die britische Expedition war: Walter Leitsch: Herberstein’s Impact on the Reports about Muscovy in the 16th and 17th centuries: Some Observations on the Technique of Borrowing, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 24. Wiesbaden 1978, S. 163–177, hier S. 173. – Baron, Muscovy and the English Quest for a Northeastern Passage [Fn. 1], S. 6, Anm. 11. – Zur Rolle von Dee als Cabots Berater: Ulla Ehrensvärd: The History of the Nordic Map. From Myth to Reality. Helsinki 2006, S. 112. – Küntzel-Witt, Mythos Nordostpassage [Fn. 1], S. 211f.

[5] Aleksei Krajkovski: Profits from under the water: The international blubber market. Russian monopolistic companies and the idea of whaling development in the eighteenth century, in: The International Journal of Maritime History, 1/2019, S. 34–49, hier S. 35.

[6] Rayner Unwin: A Winter Away from Home. William Barents and the North-East Passage. London 1995, S. 59.

[7] Ebd., S. 24.

[8] Als „pomory“ werden die russischen Küstenbewohner am Weißen Meer oder an der Barentssee bezeichnet, die sich mit den dort ansässigen finno-ugrischen Ethnien vermischt hatten.

[9] Krajkovski, Profits from under the water [Fn. 5], S. 35, 40.

[10]             Andreas Renner: Goldsprudel an der Nordost-Passage, in: Helena Holzberger, Andreas Renner, Sören Urbansky (Hg.): Russlands Orte in Asien. Berlin 2021, im Erscheinen, hierzu Manuskript, S. 4–5.

[11] Vgl. Mark Bassin: Expansion and Colonialism on the Eastern Frontier. Views of Siberia and the Far East in pre-Petrine Russia, in: Journal of Historical Geography, 14/1988, S. 2–21, hier S. 19–21.

[12] Andreas Renner: Peter der Große und Russlands Fenster nach Asien, in: Historische Zeitschrift, 1/2018, S. 71–96.

[13] Martina Winkler: Imagining the Arctic, the Russian Way: Concepts and Projects for the Arctic Ocean in the Eighteenth Century, in: New Global Studies, 2/2013, S. 73–99, hier S. 77–83. – Saltykovs Memorandum ist abgedruckt in: Basil Dmytryshyn, Elisabeth A.P. Crownhart-Vaughan, Thomas Vaughan (Hg.): Russian Penetration of the North Pacific Ocean 1700–1797. Portland 1988, S. 59–63.

[14]             Kristina Kuentzel-Witt: Peter the Great’s Intermezzo with G.W. Leibniz and G. Delisle, in: Quaestio Rossica, 1/2018 [DOI 10.15826/qr.2018.1.282.], S. 63–78, hier S. 66, 68.

[15] Wieland Hintzsche (Hg.): Briefe und Dokumente zur II. Kamčatka-Expedition 1730–1733 – Akademiegruppe. Bearbeitet von Wieland Hintzsche in Zusammenarbeit mit Natasha Ochotina Lind, Peter Ulf Møller unter Mitarbeit von Heike Heklau, Kristina Küntzel und Bert Meister. Halle 2004. – Natal’ja Ochotina-Lind, Peter Ul’f Mëller (Hg.): Vtoraja Kamčatskaja ėkspedicija. Dokumenty 1730–1733. Čast’ 1. Morskie otrjady. Moskau 2001.

[16] Kristina Küntzel-Witt: Wie groß ist Sibirien? Die russischen Entdeckungen im Pazifik und die Kontroverse zwischen Joseph Nicolas Delisle, Samuel Engel und Gerhard Friedrich Müller im 18. Jahrhundert, in: Jörn Happel, Christophe von Werdt (Hg.): Osteuropa kartiert – Mapping Eastern Europe. Unter Mitarbeit von Mira Jovanović. Berlin, Zürich 2010, S. 155–172, hier S. 164f.

[17] Den Beinamen „de la Croyère“ hatte sich Louis zugelegt, um das Erbe seines Großvaters mütterlicherseits antreten zu können. Wegen des Namenzusatzes wird in der Literatur häufig gesagt, er sei nur ein Halbbruder von Joseph-Nicolas gewesen, aber das ist unzutreffend. Nelson-Martin Dawson: L’Atelier Delisle. L’Amerique du Nord sur la table à dessin. Avec la collaboration de Charles Vincent. Sillery 2000, S. 21. – Lucie Lagarde: Le Passage du Nord-Ouest et la Mer de l’Ouest dans la Cartographie française du 18e Siècle, Contribution à l’Etude de l’Ouevre des Delisle et Buache, in: Imago Mundi, 41/1989, S. 19–43, hier S. 20.

[18] Bis heute heißt es in manchen russischen historischen Darstellungen, Delisle sei ein Spion gewesen. Elena Gusarova: K voprosy ob ėtičeskoj storone „al’ternativnogo“ vzgljada na dejatel’nost’ astronoma Delilja v Rossii, in: Petrovskie vremja v licach – 2013. K 400-letiju Doma Romanovych (1613–2013). Materialy naučnoj konferencii. Sankt Petersburg 2013, S. 121–136, hier S. 133. – Dem haben Irina und Dmitrij Gouzévitch nachdrücklich widersprochen: „V načale byl Delisle“, ili gipoteza o pričinach razformirovanija odnoj francuzskoj kollekcii, in: Petrovskie vremja v licach – 2014. K 300-letiju pobedy pri Gangute (1714–2014). Materialy naučnoj konferencii. Sankt Petersburg 2014, S. 112–120.

[19]  Karte abgedruckt in Einschub I in diesem Band.

[20] Joseph-Nicolas Delisle: Histoire Abregée Des Nouvelles Découvertes Au Nord De La Mer Du Sud, Lûe dans l’Assemblée publique de l’Académie Royale des Sciences le 8 Avril 1750 par M. De L’Isle de la même Académie. Paris 1750, S. 7. – Küntzel-Witt: „Mythos Nordostpassage“ [Fn. 1], S. 225.

[21] Der Bericht war bereits im August 1708 veröffentlicht worden, ohne zunächst Aufsehen zu erregen. Henry R.Wagner: Cartography of the Northwest Coast of America to the year 1800. Berkeley 1937, S. 158.

[22] Nicolas Verdier: Des Cartes en situation d’intercertitude: La controverse sur le Kamtchatka entre 1737 et 1738 comme révélateur d’une crise de la cartographie française, in: S.Ja. Karp, E.E. Ryčalovskij, Jean-Yves Sarazin (Hg.): Vek Prosveščenija. Vyp. 5: Geografija ėpochi Prosveščenija: meždu voobraženiem i real’nost’ju. Moskva 2015, S. 100–120, hier S. 108–110.

[23] Lettre d’un Officier de la Marine Russienne à un Seigneur de la Cour concernant la Carte des nouvelles Découvertes au Nord de la Mer du Sud, & le Mémoire qui y sert d’explication publié par Mr. De l’Isle. A Paris en 1752. Traduit de l’Original Russe, in: Nouvelle Bibliothèque Germanique, 13/1753, S. 46–87.

[24] Gerhard Friedrich Mueller: Nachrichten von Seereisen, und zur See gemachten Entdeckungen, die von Russland aus längst den Küsten des Eismeeres und auf dem östlichen Weltmeere gegen Japan und Amerika geschehen sind. Zur Erläuterung einer bey der Akademie der Wissenschaften verfertigten Landkarte, in: ders. (Hg.): Sammlung Rußischer Geschichte, Bd. 3. St. Petersburg 1758, S. 1–304.

[25] Samuel Engel: Nachrichten und Anmerkungen über die Lage der nördlichen Gegenden von Asien und Amerika und dem Versuch eines Weges durch die Nordsee nach Indien, 2. Teil. Basel 1777, S. 164–168.

[26] Ebd. – Peter Hoffmann: Ostsibirien und Nordpazifik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Diskussion um die Ausdehnung Asiens. Frankfurt/Main 2013, S. 143, wo er sich auf Aleksandr I. Andreev (Trudy Lomonsova po geografii Rossii, in: Lomonosov. Sbornik statej Bd. II. Moskva, Leningrad 1946, S. 139) bezieht.

[27] Michail Lomonosov: Trudy po russkoj istorii. Obščestvenno-ėkonomičeskim voprosam i geografii 1747–1765gg, in: Pol’noe sobranie sočinenij. Akademia Nauk SSSR. Band 6. Moskau, Leningrad, S. 417–498. – Peter Hoffmann: Michail Vasil’evič Lomonosov (1711–1765). Ein Enzyklopädist im Zeitalter der Aufklärung. Frankfurt am Main u.a. 2011, S. 213. – Martina Winkler: Das Imperium und die Seeotter. Die Expansion Russlands in den nordpazifischen Raum, 1700–1867. Göttingen 2016, S. 167f. – Winkler, Imagining the Arctic [Fn. 13], S. 84–88, wo sie hervorhebt, dass Lomonosov die klimatischen Gefahren der Tropen betonte, um den nördlichen Seeweg als attraktiver für Russland darzustellen.

[28] Lomonosov, Kratkoe opisanie raznych putešestvij, in: Ders.: Trudy [Fn. 26], S. 435. –Hoffmann, Ostsibirien und Nordpazifik [Fn. 25], S. 140, Anm. 32.

[29] A Letter from a Russian Sea-Officer, to a Person of Distinction at the Court of St. Petersburgh: Containing His remarks upon Mr. de l’Isle’s Chart and Memoir, relative to the New Discoveries Northward and Eastward from Kamtschatka. Together with some Observations on that Letter. By Arthur Dobbs, Esq., Governor of North-Carolina. To which is added, Mr. de l’Isle’s Explanatory Memoir on his Chart Published at Paris, and now translated from the Original French. London 1754. – Küntzel-Witt, Wie groß ist Sibirien? [Fn. 16], S. 167.

[30] Aleksandr Petrov, Aleksej Ermolaev: Značenie Kjachty v istorii Dal’nego Vostoka i Russkoj Ameriki“, in: Rossijskaja Istorija, 2/2018, S.51–66, hier S. 56–58.

[31] Benedicte Gamborg Briså: In den Norden an den Rand der Welt. Honningsvåg. Nordkapmuseum 2010, S. 10.

[32] Lomonosov, Kratkoe opisanie [Fn. 27], S. 449–451.

[33] Ebd., S. 458.

[34] Ebd., S. 459ff.

[35] Ebd., S. 469.

[36]  Karte abgedruckt in Einschub I in diesem Band.

[37] Gerhard Mercator: Septentrionalium Terrarum Descriptio, Amsterdam 1595, hier Kopie von 1613, abgedruckt in Briså, In den Norden [Fn. 30], S. 43. Auf einer Karte von Plancius wird Novaja Zemlja ebenfalls als Doppelinsel dargestellt; vgl. Petrus Plancius, Europam ab Asia et Africa segregant Mare mediterraneum, Amsterdam 1594. Universiteitsbibliotheek van Amsterdam, Sig. OTM:HB-KZL O. K. 119. Permalink: hdl.handle.net/11245/3.2702.

[38] Lomonosov, Kratkoe opisanie [Fn. 27], S. 483–498.

[39] Ebd., S. 424.

[40] Michail Lomonossow: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Berlin 1961, Band II. Vorwort und Schlussbemerkungen des Memorandums, S. 144ff.

[41] Lomonosov hat die Karte nicht selbst gezeichnet, sondern von seinem Schüler Il’ja Abramov 1763 zeichnen lassen. Lydia T. Black: Russians in Alaska, 1732–1867. Fairbanks 2004, S. 82.

[42] Ebd., S. 82f.

[43] Lomonosov, Kratkoe opisanie [Fn. 27], S. 478.

[44] Ebd., S. 490.

[45] Ebd. S. 485f.

[46] Diana Ordubadi unterstreicht in ihrer Arbeit explizit die Bedeutung von Lomonosovs Manifest für die folgenden Expeditionen. Diana Ordubadi: Die Billings-Saryčev-Expedition 1785–1795. Eine Forschungsreise im Kontext der wissenschaftlichen Erschließung Sibiriens und des Fernen Ostens. Mit einer Übersichtskarte. Göttingen 2016, S. 30–42.

[47] Lev Usyskin: Vasilij Čičagov. Rassuždenija o morskich delach doblestnogo admirala Ekateriny Velikoj, slavnoj rossijskoj imperatricy. Moskva 2009, S. 75.

[48] Ordubadi bietet einen sehr guten Überblick über die Čičagov-Expedition: Die Billings-Saryčev-Expedition [Fn. 44], S. 43–47.

[49] Usyskin, Vasilij Čičagov [Fn. 45], S. 75.

[50] Black, Russians in Alaska [Fn. 39], S. 84.

[51] Ordubadi, Die Billings-Saryčev-Expedition [Fn. 44], S. 49. Erstaunlicherweise berufen sich Black und Ordubadi jeweils auf V.A. Perevalov: Lomonosov i Arktika. Moskva 1949.

[52] Usyskin, Vasilij Čičagov [Fn. 45], S. 69.

[53] Glynn Barratt: Russia in Pacific Waters 1715–1825. A Survey of the Origins of Russia’s Naval Presence in the North and South Pacific. Vancouver, London 1981, S. 62.

[54] Ordubadi, Die Billings-Saryčev-Expedition [Fn. 44], S. 49f.

[55] Robertson bedankt sich ausdrücklich bei Katharina II. für die ihm zugänglich gemachten Berichte: William Robertson: The history of America, 3 Volumes, a new Edition, Basel, Tourneisen, Legrand, 1790 (Erstausgabe Dublin 1777), hier vol. 1: Preface S. X, XI. – Peter Simon Pallas: Bericht von der in den Jahren 1768 und 1769 auf allerhöchsten Befehl der rußischen Monarchin unter Anführung des Capitains Krenitzyn und Lieutenants Lewaschef von Kamtschatka nach den neuentdeckten Inseln und bis an Uläska oder das feste Land von America vollbrachten Seereise, in: Nordische Beyträge, 1/1781, S. 249–272. Kurz darauf veröffentlichte Pallas den etwas ausführlicheren Artikel: Nachricht von den russischen Entdeckungen in dem Meer zwischen Asia und Amerika, in: Magazin für die neue Historie und Geographie, 16/1782, S. 235–286.

[56] Nach Ordubadi, Die Billings-Saryčev-Expedition [Fn. 44], S. 46 wird der Report im Rossijskij Gosudarstvennij Archiv Voenno-Morskogo Flota (RGAVMF), fond 212, delo 38 aufbewahrt.

[57] Usyskin, Vasilij Čičagov [Fn. 45], S. 67.

[58] Martina Winkler betont, dass auch andere Nationen eine strikte Geheimhaltungspolitik betrieben. Winkler, Imagining the Arctic [Fn. 13], S. 92.

[59] Dittmar Dahlmann: Peter Simon Pallas’ wissenschaftliches Werk und die Entfaltung der Wissenschaften an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Friedrich Wilhelm Graf, Edith Hanke, Barbara Picht (Hg.): Geschichte intellektuell. Theoriegeschichtliche Perspektiven. Tübingen 2015, S. 314–334, hier S. 316.

[60] Winkler, Imagining the Arctic [Fn. 13], S. 92f.

[61] Auszug aus den Reisen und Entdeckungen längst den Küsten des Eismeers, in: Allgemeine Historie der Reisen, Bd. 20. Leipzig 1771, S. 380–395, hier S. 386. Leider ist der Verfasser unbekannt.

[62] Philipp Felsch: Wie August Petermann den Nordpol erfand. München 2010. – Ders.: Der arktische Konjunktiv. Auf der Suche nach dem eisfreien Polarmeer, in: Osteuropa, 2–3/2011, S. 9–20. Felsch konzentriert sich ganz auf Petermann und die von ihm initiierten Expeditionen unter Koldewey (1868, 1869/1879), Payer und Weyprecht (1872).

[63] Ann Savours: „A very interesting point in geography“: The 1773 Phipps Expedition Towards the North Pole, in: Arctic. Journal of Arctic Institute of North America, 4/1984, S. 402–428, hier S. 422. In Anm. 8, S. 426, ist sogar die Rede von einem geheimen Memorandum von Engel „das von Seiner Majestät mit vielen weiteren Dokumenten gnädig angenommen wurde“. Es befindet sich in den Dartmouth papers, Staffordshire County Record Office, D (W) 1778/III/320.

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