Titelbild Osteuropa 11/2009

Aus Osteuropa 11/2009

Editorial
Reflexion statt Reenactment

Manfred Sapper, Volker Weichsel


Abstract in English

(Osteuropa 11/2009, S. 3–4)

Volltext

Soviel Erinnerung war nie. 2009 jährten sich in Deutschland die doppelte Staatsgrün-dung, die Verabschiedung des Grundgesetzes zum 60. Mal, der Überfall auf Polen und der Hitler-Stalin-Pakt zum 70. Mal. Jedes dieser historischen Ereignisse für sich bot hinreichenden Anlass zur historischen und politischen Selbstvergewisserung. Doch die größte Aufmerksamkeit schenkten Politik und Medien der Erinnerung an den 20. Jahrestag der friedlichen Revolution und des Mauerfalls. Wir wurden Zeugen einer bis dato kaum gesehenen Bewirtschaftung der Erinnerung. Eine Veranstaltung jagte die andere: Ausstellungen hier, Konferenzen dort, Bücher, Filme, neue Medien sowie Heroen auf Foren. Zum Höhepunkt sollte die offizielle Gedenkfeier der Bun-desregierung am 9. November werden. Thommy Gottschalk und Guido Knopp taten Ihr Bestes, um das Ereignis fernsehgerecht zuzurichten. Und mit purzelnden bunten Mauerteilen aus Styropor wurde der Mauerfall als Dominospiel nachgestellt. Die Erlebnisgesellschaft feierte Geschichte. Doch das Eigentliche geriet dadurch in den Hintergrund. Denn Reenactment ersetzt keine Reflexion. Ihr ist Osteuropa verpflichtet. Bereits im Februar 2009 luden wir für den großen OST-EUROPA-Band „Freiheit im Blick. 1989 und der Aufbruch in Europa“ Protagonisten von damals wie Adam Michnik, György Konrád oder Petr Pithart sowie eine Reihe von Au-toren ein, über den Geist der Freiheit nachzudenken, der sich damals Bahn brach. Zwei Fragen blieben damals unbeantwortet. Erstens: Worin liegt die Bedeutung von 1989 für die Geschichte und die politische Ideengeschichte? Zweitens: Wie steht es um jenes Land, das einen anderen Weg eingeschlagen hat als seine einstigen kommunistischen Bruderstaaten? Wie steht es um Russland zwanzig Jahre nach der Wende? 1989 ist, so Peter Graf Kielmannsegg in diesem Heft, neben 1848 und 1914 eines der wenigen Jahre in der Geschichte Europas, das die europäischen Völker als ein ge-meinsames Jahr wahrnehmen. Vor der Überwindung der kommunistischen Regimes in Ostmitteleuropa überwanden die Menschen die Furcht, nach Montesquieu das Charakteristikum jeder Despotie. 1989 ist der Widerruf der Oktoberrevolution und die Überwindung des Demokratieschismas. Damit geht die Einsicht einher, dass es zur Demokratie in verfassungsstaatlicher Gestalt keine Alternative gibt. Der Aufstand gegen die autoritäre kommunistische Herrschaft hat die besten ideellen Ressourcen der europäischen Freiheitstradition offengelegt: Der Mensch ist der Zweck und der Staat das Mittel – nicht umgekehrt. Aus diesem Geist der Freiheit speiste sich der Aufbruch in der Sowjetunion während der Perestrojka. Vergessen wir nicht: Der Wind der Veränderung blies aus dem Os-ten. Heute wissen wir, dass das Politbüro in Moskau bereits im Juli 1986 ausschloss, jene Methoden anzuwenden, welche die UdSSR in der Tschechoslowakei 1968 und in Ungarn 1956 angewendet hatte. Moskau schuf damit eine Voraussetzung dafür, dass die Emanzipation der ostmitteleuropäischen Gesellschaften von der kommunistischen Herrschaft überhaupt möglich werden konnte. Man kann es nicht oft genug wiederho-len: Erst der Abschied von der Brežnev-Doktrin eröffnete den Menschen in Ostmittel-europa den Raum, um ihre Interessen in die eigene Hand zu nehmen und die Dynamik zu entfalten, die 1989 in jene historisch einzigartige gewaltfreie Revolution ohne Revolution mündete. Doch das Jahr 1989 spielt für Russland heute praktisch keine Rolle. Die Zäsur kam zwei Jahre später, als die Sowjetunion implodierte. Seitdem hat Russland einen gewaltigen Weg zurückgelegt. Zunächst schien es sich im Takt der Entwicklung in Ostmitteleuropa zu bewegen. Doch bald zeigte sich, dass dieses Russ-land in seiner eigenen Zeit agiert und ein Land der Ungleichzeitigkeit ist. In den zwei Jahrzehnten seit der Wende hat Russland auf einigen Feldern wahre Epochensprünge hinter sich, in anderen ist es aus der Zeit gefallen. Wer könnte dies besser beschreiben als Karl Schlögel? In der Tradition von Georg Simmels Kultursoziologie zeichnet er mit feinsten Strichen das Gemälde einer Epoche und schlägt den Bogen vom Kollaps der sowjetischen Welt zum Crash der Weltökonomie. Offensichtlich ist: Die alten Rezepte haben sich erschöpft. Doch seit Putins Amtsantritt sucht Russland ausgerechnet in alten Rezepten sein Heil. Wieder ist der Obrigkeitsstaat der Zweck, dem die Menschen dienen sollen. Der Kreml inszeniert Russland als belagerte Festung, operiert mit Feindbildern, bedient sich pseudopatriotischer Retrokultur und bemüht das Selbstmitleid. Doch mit all dem, da ist sich Schlögel sicher, lässt sich auf Dauer kein Staat machen. Womit dann? Die Praxis der autoritären Herrschaft macht den Beobachter ratlos. Der Verlust so mancher Illusion in der Krise des Spekulationskapitalismus macht es nicht minder. Doch das Eingeständnis von Ratlosigkeit ist ein guter Ausgangspunkt, um gedanklich neu Tritt zu fassen. Grund genug für Reflexion und Analyse.