Titelbild Osteuropa 7/2003

Aus Osteuropa 7/2003

Editorial
Politik sehen

Manfred Sapper, Volker Weichsel

(Osteuropa 7/2003, S. 907–909)

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Flaggen und Wappen, Hymnen und Märsche sind die politischen Insignien des Zeitalters der in Nationalstaaten verfaßten Massendemokratie. Der nationale und demokratische Aufbruch der Jahre 1989-1991 in Osteuropa hat vor Augen geführt, daß allen Kassandrarufen zum Trotz das Ende des Nationalstaats noch nicht gekommen ist. Als Symbole der Massendemokratie sind Fahnen und Wappen hochpolitische Zeichen und doch ein Ausdruck unpolitischer Politik. Hochpolitische Symbole sind sie, weil die erste und wichtigste Frage jedweder Demokratie die nach dem demos ist – wer ist das Volk? – und nationale Symbole die Antwort visualisieren. Der Antwort voraus gehen Debatten über das Selbstverständnis der Nation, die in einer säkularisierten Welt immer auf eine historische Legitimation zielen. Unabhängig davon, welche Tradition sie auch beschwören mögen, zeigen die Zeichen der Nation vor allem eines: Legitimation durch Tradition. Transparent und wahrhaft demokratisch verlief die Suche nach der Nation dort, wo zum einen die Argumente verschiedener Gruppen in einem freien und fairen Wettbewerb zueinander standen, in dem die Bürger in Wahlen darüber entscheiden konnten, welche der angebotenen historischen Identitäten sie auch als die ihre erkannten und anerkannten. Gleichzeitig sind nationale Symbole unpolitisch, weil sie eine komplexe Welt auf zwei-drei Farben und ein Wappentier reduzieren. Zudem bleibt nicht selten denen, die sich zu der Ausdrucksseite der Symbole bekennen, die Inhaltsseite fremd. Solche Symbole sind visuell, also stumm, sie transportieren Botschaften, erlauben aber keinen Widerspruch. Sie vermitteln keine Argumente, sie fordern ein Glaubensbekenntnis. Das Politische hingegen ist verbal, es ist Rede und Gegenrede. Die Tiere, die Wappen zieren, stehen nicht für Dialog und Verständigung, sie symbolisieren Herrschaft: Adler und Löwe ﷓ der Kaiser der Lüfte und der König des Landes – zieren etliche Wappen. Welcher Staat schmückt sich mit Reh oder Schmetterling? Bisweilen löst sich gar die Ausdrucksseite von Symbolen aus dem Verbund mit der Inhaltsseite. Dann erhalten Fahnen und Wappen einen sakralen Charakter, mitunter werden sie zum Fetisch. Am deutlichsten ist dies, wo reale Ohnmacht kompensiert wird durch die haßgeladene symbolische Verbrennung der Fahne des Feindes. Lange haben Politikwissenschaft und Geschichtswissenschaft die visuelle Selbstdarstellung von Politik wenig beachtet. Solange das Erkenntnisinteresse auf das „Was?“ und „Warum?“ zielte, also die Frage nach den materiellen Interessen von Politik und kausalen Zusammenhängen im Vordergrund stand, versprachen schriftliche Quellen die ergiebigsten zu sein. Erst als die Kulturwissenschaften begannen, auch nach dem „Wie?“ zu fragen, rückten auch Bilder und Symbole der Macht ins Zentrum des Interesses. Osteuropa trägt mit der vorliegenden Nummer dieser berechtigten Forderung nach einer Erweiterung des Blickwinkels Rechnung und bricht wieder mit einer Tradition. Zum ersten Mal in den 53 Jahren ihres Erscheinens enthält Osteuropa einen farbigen Bildteil, der es dem Leser und der Leserin erlaubt, zum Seher bzw. zur Seherin zu werden und die im Textteil analysierten Flaggen und Wappen, Denkmäler und Bauten zu betrachten.