"Die Kirche steht auf der Seite der Wahrheit!"

In Belarus protestieren auch Gläubige vieler Konfessionen gegen das Regime. Auch Priester und einige Bischöfe der Orthodoxen Kirche und der Katholischen Kirche beteiligen sich. In Minsk findet täglich eine Prozession statt. Der orthodoxe Priester Aljaksandr Šramko, den das belarussische Exarchat des Moskauer Patriarchats im Jahr 2018 wegen Kritik am Patriarchen Kirill vom Priesteramt suspendiert hat, berichtet über die Motive der Gläubigen, den Gesinnungswandel des Metropoliten und das Verhältnis von Kirche und Politik.

Osteuropa: Wie entstand die Idee der Prozessionen?

Aljaksandr Šramko: Die erste Prozession fand am 13. August statt. Seitdem wird jeden Tag um 13 Uhr eine Prozession abgehalten. Die Initiative ging von jungen Orthodoxen aus. Ich habe mich dann angeschlossen, die Prozessionen aber nicht initiiert, wie es manchmal heißt. Ich habe nur Informationen weitergegeben. Die Teilnehmer finden spontan zusammen, es gibt keine Organisatoren. Die Orthodoxe Kirche, also das belarussische Exarchat des Moskauer Patriarchats, war anfangs alarmiert und gab eine Erklärung heraus, dass sie mit den Prozessionen nichts zu tun habe, dass es sich nicht um eine von der Kirchenleitung genehmigte Aktion handele. Dann hat die Kirche sich jedoch offiziell angeschlossen. Mitropolit Pavel hat die Orthodoxen eingeladen, gemeinsam mit ihm zu beten. An der Prozession hat er zwar nicht teilgenommen. Wir haben jedoch gemeinsam auf der Straße unweit der Kirche gebetet, neben dem Rathaus, und sind dann durch die Minsker Innenstadt gegangen, am KGB-Gebäude vorbei, über den Platz der Unabhängigkeit. Dann haben wir bei der Roten Kirche gebetet und vor dem Untersuchungsgefängnis, wo viele der in den Tagen zuvor Festgenommenen einsaßen.

Osteuropa: Hat die Erklärung des Exarchats etwas bewirkt?

Šramko: Nein. Mitropolit Pavel schwankte zunächst. Dann wurden ihm Bilder gezeigt, auf denen zu sehen war, wie brutal die Menschen geschlagen werden, wie die Behörden mit ihnen umgehen. Er war schockiert vom Ausmaß der Gewalt. Er hat sogar Verletzte im Krankenhaus aufgesucht, um ihnen sein Mitgefühl auszusprechen. Aber er hat natürlich mit der Staatsmacht zu tun, daher versucht er, eine Mittelposition einzunehmen. Zudem ist die Kirchenleitung generell skeptisch, wenn die Mitglieder der Gemeinde eigenständig etwas organisieren. In diesem Fall hat sie offensichtlich zunächst nicht nachgedacht, sich dann aber besonnen und entschieden: Diesen Kampf werden wir nicht gewinnen, besser stellen wir uns an die Spitze der Bewegung. So entwickelten sich die Dinge. Erst waren sie dagegen, heute veranstalten sie selbst jeden Tag um 13 Uhr die Gebete.

Osteuropa: Beteiligen sich ausschließlich Orthodoxe?

Šramko: Anfangs beteiligten sich Katholiken, Orthodoxe und Protestanten, überwiegend einfache Gläubige. Bei den Protestanten waren auch Pastoren dabei. Nachdem Mitropolit Pavel offiziell die orthodoxen Gläubigen eingeladen hatte, wurde jeden Tag in der orthodoxen Kathedrale und vor der Kathedrale gebetet. Auch um die Kirche finden Prozessionen statt. Danach schließt sich ein Teil der Orthodoxen dem gemeinsamen Gebet aller Christen an und zieht mit ihnen durch die Stadt. Bei den 13-Uhr-Gebeten nehmen die Protestanten jedoch nicht mehr teil, seit der orthodoxe Mitropolit sie abhält. Der Ablauf ist jetzt so: Erst beten die Orthodoxen mit dem Mitropoliten oder einem anderen Priester, dann beginnen in der Nähe Katholiken und Protestanten ihr Gebet, und wenn die Prozession der Orthodoxen vorbei ist, schließen diese sich den Katholiken und Protestanten an.

Osteuropa: Was ist das Motiv der Gläubigen?

Šramko: Die Situation in Belarus ist schrecklich. Die Mächte des Bösen haben sich gegen die Menschen zusammengerottet. Es handelt sich nicht nur um eine politische Auseinandersetzung. Die Staatsmacht hat ihr teuflisches Gesicht gezeigt. Sie tyrannisiert die Menschen. Gegen die Gewalt und die Gesetzlosigkeit, gegen all dies Teuflische, beten alle Christen. Die Idee ist ganz einfach: Wir sind alle Christen, also müssen wir auch gemeinsam beten. Darüber hinaus werden aber Gläubige aller Religionen in die Rote Kirche eingeladen, nicht nur Christen, auch Juden und Muslime, und alle anderen.

Osteuropa: Bei den Protesten wurden zwei katholische Priester verhaftet. Einer habe eine Kampagne mit der Losung „Katholiken fälschen nicht“ organisiert. Ist dies auch orthodoxen Priestern widerfahren?

Šramko: Ich habe bislang von keinem solchen Fall gehört. Aber es passieren sehr viele Dinge gleichzeitig. Vor einigen Tagen wurde ein junger Diakon mit seinem Auto mitten auf der Straße angehalten. Das war in der Woche nach den Wahlen gang und gäbe. Es wurden einfach Autos angehalten, die Fahrer herausgezerrt, die Scheiben eingeschlagen. Nach diesen Tagen der absoluten Gesetzlosigkeit ist es am Wochenende nach den Wahlen ruhiger geworden.

Osteuropa: Was tun die Priester außer Beten noch für die Demonstranten?

Šramko: In Minsk und in Hrodno helfen orthodoxe und katholische Priester Inhaftierten, indem sie ihnen dringend benötigte Dinge ins Untersuchungsgefängnis bringen. Einige Priester sind sogar auf Veranstaltungen der Opposition aufgetreten. Einfache Priester unterstützen also die Bewegung. Höhere Kleriker halten sich eher zurück. Nur der Erzbischof von Hrodna Artemij hat sich sehr klar geäußert und gegen die gegenwärtige Staatsmacht Stellung bezogen. Viele vertreten die Position: keine Gewalt. Von keiner der beiden Seiten. Also: Prügeln ist falsch, aber sich wehren ist auch nicht gut …

Osteuropa: Wie ist das bei den anderen Konfessionen?

Der katholische Erzbischof von Minsk – Mahilaŭ Tadevuš Kandrusevič – hat sich zurückhaltend geäußert. Der Bischof von Vicebsk Aleh Butkevič äußert sich schärfer. Auch bei den Protestanten werden unterschiedliche Positionen vertreten. Dort herrscht generell eine große Vielfalt, es gibt viele Richtungen und die Gemeinden sind in der Regel autonom. Einige Evangelikale und Adventisten des Fünften Tags haben Appelle verfasst. Die Baptisten haben keine gemeinsame Position, sie konnten keinen Konsens erzielen. Generell versuchen die Protestanten in Belarus sich nicht in die Politik einzumischen, um ihre Position nicht zu gefährden. Aber es gibt protestantische Gläubige und einige Pastoren, die die Proteste unterstützen.

Osteuropa: Ist die Einstellung der Gewalt am Wochenende nach den Wahlen ein Erfolg der Kirche?

Šramko: Nein. Der katholische Erzbischof Kandrusevič hat zwar vom Innenminister gefordert, die Gewalt einzustellen, und der orthodoxe Mitropolit Pavel hat einen Appell versprochen –den es dann jedoch nicht gab. Aber einen echten Einfluss auf den Staat hat die Kirche nicht. Der Staat hat einfach die Taktik gewechselt. Er hat die Gewalt der ersten Tage eingestellt und wartet jetzt erst einmal ab. Vielleicht verlaufen sich die Proteste ja … Aber mit der Kirche hat das nichts zu tun.

Osteuropa: Fordern die Gläubigen von der Kirche ein, dass sie Position bezieht?

Šramko: Absolut! Die Gläubigen wenden sich an die Priester und fragen: „Warum schweigt die Kirche?“ Sie sagen: „Ich komme in diese Kirche, sie muss aber für die Wahrheit einstehen.“ Und die Kirchenoberen müssen eine Antwort darauf geben. Die Kirche befindet sich daher in einer ähnlich schwierigen Position wie viele andere Institutionen, die mit dem Staat verbunden sind: Das Regime ist noch nicht gefallen, aber man kann die Staatsmacht auch nicht mehr unterstützen, weil man sich sonst den Ruf verdirbt.

Osteuropa: Wünschen Sie sich mehr politisches Engagement von der Orthodoxen Kirche?

Šramko: Grundsätzlich ja. Die Frage ist: Was heißt politisches Engagement? Generell steht die Kirche über der Politik. Sie ist nicht Teil der Politik in dem Sinne, dass sie eine politische Position bezieht, etwa bei Wahlen. Denn die Kirche vereint Menschen unabhängig von deren politischen Anschauungen. Aber hier geht es nicht um politische Ansichten, sondern darum, dass die Staatsmacht gegen die Gesetze der Moral handelt, sich außerhalb des Rechts stellt, Menschen foltert. Dies ist das Böse – und das verurteilt die Kirche. Und sie verurteilt den Betrug, also die Fälschungen, die es – für alle offensichtlich – bei der Wahl gab. Die Kirche verurteilt die Lüge. In der Sozialdoktrin der Orthodoxen Kirche steht: Wenn die Staatsmacht gegen die Gebote Gottes handelt, muss die Kirche Position gegen den Staat beziehen. Wenn der Staat eindeutig gegen christliche Gebote handelt, kann das bis zum zivilen Ungehorsam reichen. Genau damit haben wir es jetzt zu tun. Die Kirche stellt sich nicht auf eine bestimmte politische Seite, sie steht auf der Seite der Wahrheit. Darum geht es bei dem gesamten Protest: Erlaubt den Menschen, ehrlich ihre Meinung zu sagen, ihre Stimme abzugeben, ohne Betrug und Gewalt, ohne dass man wegen seiner Meinung verfolgt wird. Wenn dies der Fall ist, wird sich die Kirche nicht in die Politik einmischen.

Das Interview führte Alexandra Vagner, Prag. Es ist auf Russisch auf der Seite von Radio Svoboda erschienen: www.svoboda.org/a/30792357.html

Übersetzung: Volker Weichsel