Der Sound des Protests

Fast fünf Wochen nach den Präsidentschaftswahlen fordern in Belarus weiter Hunderttausende Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft eine Wiederholung der zweifellos manipulierten Wahl. Eine wichtige Rolle spielen die Musik und die Musiker. Der Dirigent Vitali Alekseenok über die Stimmung in den Chören und Orchestern, die Angst und den Mut und den Sound des Protests.

Osteuropa: Herr Alekseenok, Sie haben sich sich seit dem 9. August öffentlich für Neuwahlen und ein Ende der Gewalt in Belarus eingesetzt. Haben auch andere Musiker das getan?

Vitalij Alekseenok: Jeder, der namentlich auftritt, muss mit massiven Konsequenzen rechnen. Viele haben dennoch die Angst überwunden. Der Bariton Illja Sil'čukoŭ, die Sopranistin Margaryta Ljaŭčuk, die Komponisten Ol'ga Podgajskaja, Vitalij Appov, Kanstancyn Jaskoŭ, Elena Gutina, Ekaterina Šimanovič und Maksim Kruglyj haben sich öffentlich geäußert. Auch die Dirigenten des Minsker Opernhauses und der Philharmonie. Ansonsten ist die „Partisanentaktik“ sehr verbreitet. Sehr viele Musiker nehmen an gemeinsamen Aktionen teil, treten aber nicht einzeln in Erscheinung. Praktisch alle Mitglieder der großen Ensembles sind Teil der Protestbewegung: die Orchester und Chöre des staatlichen Akademiesymphonieorchesters, des staatlichen Kammerorchesters, des staatlichen Rygor-Šyrma-Akademiechors, des Orchesters und des Chors des Operntheaters. Die Leitungen haben weggeschaut, das heißt, sie haben die Aktionen der Musiker geduldet, ohne sie zu unterstützen.

Osteuropa: Gibt es hochrangige Personen aus der Musikwelt, die ähnlich wie der Leiter des Janka-Kupala-Theaters Pavel Latuška ihre Arbeit in staatlichen Institutionen niedergelegt haben oder entlassen wurden?

Alekseenok: Die Rektorin der Belarussischen Staatlichen Universität für Kultur und Kunst (BGUKI) Alina Korbut wurde Ende August entlassen. Warum, ist nicht klar. Sie hatte sich nicht offen gegen das Regime gestellt und die Protestbewegung nicht unterstützt. Sie scheint lediglich nichts unternommen zu haben, um Solidaritätsaktionen der Studenten an der Universität zu unterbinden.

Die Komponistin Elena Gulina hat ihren Lehrauftrag an der Staatlichen Musikakademie mit sofortiger Wirkung beendet. Zuvor hatte sie eine Auseinandersetzung mit der Leitung der Akademie. Die Direktorin Ekaterina Dulova unterstützt bekanntermaßen das Lukašenka-Regime aktiv.

Druck wurde auf einige Musiker der Philharmonie ausgeübt. Eine Reihe von ihnen wurde von der Miliz vorgeladen. Entlassen wurde bislang meines Wissens nach jedoch noch niemand.

Osteuropa: Man hat den Eindruck, es handle sich in Belarus auch um einen Generationenkonflikt. Junge Menschen protestieren, alte stehen – von Ausnahmen abgesehen – hinter dem Regime?

Alekseenok: Man kann heute nicht mehr sagen, dass die ältere Generation hinter Lukašenka steht. Eher versucht sie, neutral zu bleiben, ein offenes Bekenntnis zu den Forderungen der Protestbewegung zu vermeiden.

Wer in Belarus heute älter als 50 Jahre ist, der wurde noch in der Sowjetunion politisch sozialisiert. Diesen Menschen fällt es äußerst schwer, eine eigene politische Position zu beziehen. Ihnen wurde jahrzehntelang eingeflößt, dass alle, die von der Linie der Partei abweichen, ihr eigenes Grab schaufeln. Und das waren keine leeren Worte, das war eine Drohung, die wahrgemacht wurde. Die Angst nach dem Massenterror der 1930er Jahre hielt sich Jahrzehnte. Man darf nicht vergessen: Unter den Eltern der heutigen Generation 50+ sind viele, die die Schrecken dieser Zeit noch selbst erlebt und die Angst an ihre Kinder weitergegeben haben. „Lehn' Dich bloß nicht zu weit aus dem Fenster!“ – das war für viele ein Lebensmotto.

Osteuropa: Spielt auch der Zugang zu Medien eine Rolle?

Alekseenok: Auf jeden Fall! Die ältere Generation hat im Durchschnitt weniger Zugang zu unabhängigen Informationen. Sie kennen nur das staatliche Fernsehen. Entsprechend leicht ist es für das Regime, das Weltbild dieser Menschen zu beeinflussen. Und wenn im Umfeld dieser Menschen nur sehr wenige junge Menschen mit Zugang zu anderen Quellen leben, dann ist niemand da, der dieses Weltbild in Frage stellen könnte. In vielen Kleinstädten und Dörfern ist dies der Fall.

Osteuropa: Spielt auch der Platz in der Hierarchie eine Rolle, Studenten protestieren, Professoren nicht?

Alekseenok: Eher nicht. Es sind andere Gründe. Schließlich sind auch die Löhne vieler Professoren, Ärzte und Ingenieure niedrig. Sie arbeiten hart und verdienen wenig. Entscheidend ist, dass sie dafür nicht die Staatsführung verantwortlich machen. Die Vorstellung, dass für ihre schlechte Lebensqualität eine schlechte Politik verantwortlich ist, diese Vorstellung geht ihnen ab. Und dann kommt die alte Angst vor Veränderungen dazu. „Hauptsache kein Krieg“ sagte man früher. Heute heißt es: „Bevor es schlechter wird, soll besser alles so bleiben!“

Osteuropa: Warum ist das bei den jüngeren Menschen anders?

Alekseenok: Die jungen Menschen haben diese Angst durchaus vererbt bekommen. Aber sie kennen sie nur aus der Ferne und aus der Ferne erscheinen die Dinge kleiner. Die junge Generation wurde nicht geschlagen – nicht von den Einsatzkräften der Polizei, und nicht vom Leben.

Osteuropa: Sie sind seit vielen Jahren im Westen unterwegs, seit 2017 musikalischer Leiter des Abaco-Orchesters der Universität München. Welche Rolle spielen persönliche Erfahrungen aus anderen Ländern für die Menschen, die heute ein anderes Belarus wollen?

Alekseenok: Belarus stand bis vor kurzem immer noch mit einem Bein hinter dem Eisernen Vorhang. Die offizielle Politik schottete das Land ab, Kontakte gab es auf dieser Ebene vor allem mit den postsowjetischen Staaten.

Gleichzeitig haben sehr viele Menschen das Land verlassen. Schätzungen gehen von weit mehr als 500 000 in den vergangenen 20 Jahren aus. Diese Menschen haben Erfahrungen gemacht und können das Leben in ihrer neuen Heimat mit dem in Belarus vergleichen.

Allerdings war die belarussische Diaspora anders als bei Ukrainern und Russen von Ausnahmen etwa in Polen und Tschechien abgesehen wenig organisiert. Das hat sich nun geändert. Egal, ob diese Menschen sich heute auf der Welle der Solidarität in Berlin, Paris oder London zusammenschließen, oder ob sie stets mit einem Bein in Belarus geblieben sind und sich heute dort engagieren: Ihr Wissen und ihre Fähigkeiten sind eine riesige Bereicherung für die belarussische Zivilgesellschaft.

Osteuropa: Nach einigen Streiks Mitte August scheinen Arbeiter heute kaum noch an den Protesten teilzunehmen. Täuscht der Eindruck?

Alekseenok: Zunächst: Dass sich Arbeiter aller großen Fabriken des Landes Mitte August zusammengeschlossen haben, um zu protestieren und zu streiken, ist ein absolut außergewöhnliches Ereignis für Belarus. Sie stehen wie kaum eine andere gesellschaftliche Gruppe unter dem Druck und dem Einfluss des Regimes. Für sie ist es noch schwerer als für viele andere, als Bürger des Landes das Wort zu ergreifen. Ich habe in diesen ersten Wochen des Protests einige Arbeitervertreter und Streikführer aus großen Betrieben und auch aus kleineren Unternehmen kennengelernt. Nach der ersten Streikwelle waren die Arbeiter jedoch mit scharfen Repressionen konfrontiert. Die Streikführer und andere Sprecher wurden verhaftet, allen anderen gedroht. Sjarhej Dyleŭski von der Minsker Traktorenfabrik, ein Mitglied des siebenköpfigen Präsidiums des Koordinationsrats der Opposition, ist seit dem 24. August in Haft. Viele wurden auf diese Weise eingeschüchtert.

Osteuropa: Anderen gesellschaftlichen Gruppen scheint es besser gelungen zu sein, durch Solidarität die Angst zu überwinden.

Alekseenok: Da das Lukašenka-Regime ebenso wie zuvor das sowjetische die Gesellschaft jahrzehntelang gespalten hat, sind Formen der gegenseitigen Unterstützung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen gerade erst am Entstehen. Daher ist es bislang so schwer, den an die Arbeiter gerichteten Drohungen des Staatsapparats etwas entgegenzusetzen. Es ist für die Arbeiter wesentlich schwieriger, ihre Bürgerrechte einzufordern, als es dies für Studenten, Wissenschaftler oder Künstler ist.

Aber aufgegeben haben sie auf keinen Fall! Großveranstaltungen in den Fabriken gibt es gegenwärtig keine. Doch was sich in den Köpfen abspielt, ist eine ganz andere Frage. Die Arbeiter benötigen ein klares Signal der Unterstützung und vor allem auch Zeit, um sich zu organisieren und neue Vertreter zu bestimmen.

Osteuropa: Wie ist heute, nach den Verhaftungen der letzten Tage, die Stimmung in den Musikhochschulen, den Orchestern?

Alekseenok: Da ich derzeit an keiner belarussischen Einrichtung arbeite, kann ich nur wiedergeben, was Kollegen berichten. Lehre, Unterricht sowie Orchester- und Chorproben finden statt. Während dieser Zeit steht die musikalische Arbeit im Vordergrund. Anders in den Pausen zwischen den Vorlesungen und Proben. Dort gibt es momentan fast nur ein Thema: die Gewalt auf den Straßen und die Verhaftungen. Es sind zwei Welten entstanden. Die Welt der Musik, in der alleine professionelle Kriterien eine Rolle spielen, die mit Politik nichts zu tun haben. Und in diese bricht immer wieder in existentieller Weise die andere Welt hinein, mit ihrer Geschwindigkeit und ihrer Grausamkeit. Jeder reagiert anders darauf. Nicht wenige wollen vor dieser Realität fliehen, denn akzeptieren kann man sie nicht.

Osteuropa: Gibt es einen „Sound“ der Revolution?

Alekseenok: In meinem Kopf tönt dieser unvorstellbare Lärm von Hunderten hupenden Autos und die Schreie und das Klatschen der Masse, die den Autofahrern zuwinkt. Das mag keine Melodie sein, aber für mich ist dieser Zusammenklang von Menschen und Maschinen der Sound der Solidarität.

Osteuropa: Haben Sie ein persönliches Stück, das für Sie untrennbar mit dem August 2020 verbunden ist?

Alekseenok: Einen unglaublichen Eindruck hat auf mich eine Aufführung des Gefangenenchors aus Verdis Oper Nabucco Mitte August vor dem Operntheater gemacht. „Va, pensiero, sull'ali dorate“ – „Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen.“ Der Chor ist ein Symbol für das italienische Risorgimento, er steht für die Hoffnung eines ganzen Volks auf einen baldigen Sieg. In der belarussischen Variante mischt sich das Hupen der Autos darunter. So wurde aus diesem überaus klassischen Chor ein sehr modernes Ereignis.

Osteuropa: Was können wir in Deutschland tun, um die Forderungen nach einem Dialog, nach freien und fairen Neuwahlen, einem Ende der Gewalt zu unterstützen?

Alekseenok: Es ist kaum möglich, auf ein autokratisches Regime von außen einzuwirken. Daher muss man die Gesellschaft unterstützen. Das bedeutet vor allem: Belarus nicht vergessen, wenn die Nachrichten aus dem Land es nicht mehr in die Schlagzeilen schaffen. Das wird unweigerlich geschehen, schon weil an anderen Orten der Erde neue Dinge geschehen.

Momentan erleben wir eine einzigartige Zeit. Die ganze Welt schaut mit angehaltenem Atem auf Belarus. Endlich hat die Welt von uns erfahren! Nicht nur von der Gewalt des Staatsapparats, sondern auch vom Zusammenhalt und der Kreativität der Gesellschaft. Jetzt müssen die Brücken zwischen der belarussischen Gesellschaft und anderen Gesellschaften ausgebaut werden. In der Kultur, in der Wissenschaft, im sozialen Bereich, überall muss es gemeinsame Programme geben. Dazu gehören natürlich Stipendien, Einladungen, Austauschprogramme, gemeinsame Projekte in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen. All dies sollte nicht nur Belarussen in andere Länder führen, sondern auch Menschen aus anderen Ländern nach Belarus. Denn der von Sjarhej Cichanoŭski geprägte Slogan war nicht nur ein Spruch für den Wahlkampf: Wir schaffen tatsächlich Tag für Tag „ein Land zum Leben“.

Das Gespräch führte Volker Weichsel am 15.9.2020.