Titelbild Osteuropa 4-6/2021

Aus Osteuropa 4-6/2021

Exportweltmeister Tschechien?
Grundlagen und Abgründe eines Wirtschaftsmodells

Petr Zahradník

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Abstract in English

Abstract

Die Tschechische Republik ist mit Abstand das am weitesten entwickelte Land in Ostmitteleuropa und liegt gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner auf Augenhöhe mit Italien und Spanien, nicht allzu weit entfernt von Frankreich. Dazu hat in großem Maße der Export beigetragen. Damit sich die positive Entwicklung der vergangenen drei Jahrzehnte fortsetzt, muss sich etwas ändern. Strukturprobleme im Exportsektor führen dazu, dass das wirtschaftliche Potential der Tschechischen Republik nicht in vollem Maße genutzt wird. Firmen in tschechischem Eigentum haben es versäumt oder nicht vermocht, an der weiterhin bedeutenden und in vielen Zweigen dominanten Stellung ausländischen Kapitals zu rütteln. Auch die Prager Politik hat bislang darauf verzichtet, mit einer entsprechenden Investitionsförderungspolitik dazu beizutragen, dass die Tschechische Republik ihr Entwicklungspotential voll ausschöpft. Ohne eine Überwindung dieser Probleme wird es dem Land nicht gelingen, in die Gruppe der überdurchschnittlich entwickelten Staaten der EU vorzustoßen.

(Osteuropa 4-6/2021, S. 279–296)

Volltext

Das Wirtschaftsmodell der Tschechischen Republik basiert auf Grundlagen, die Anfang der 1990er Jahre mit der fundamentalen Transformation von einer Zentralverwaltungswirtschaft zu einer Marktwirtschaft geschaffen wurden. Zentrale Elemente waren die Freigabe der Preise, die Liberalisierung des Außenhandels, die freie Konvertibilität der Währung zu einem auf dem Devisenmarkt gebildeten Kurs, der Aufbau eines marktkompatiblen Haushalts- und Fiskalsystems – etwa durch die Einführung einer Mehrwertsteuer und die massive Senkung der Körperschaftssteuer oder durch die Abschaffung der staatlichen Subventionierung unrentabler Unternehmen – sowie die Errichtung sozialstaatlicher Institutionen, insbesondere einer Arbeitslosenversicherung. Ziel des Umbaus war es, dass Tschechien wieder Anschluss an die hochentwickelten Staaten Westeuropas und der übrigen Welt gewinnt. Die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft, die Effizienz und Stabilität der Institutionen sowie der Lebensstandard der Menschen sollten sich an das Niveau der westlichen Staaten angleichen.

Auf die einmaligen Transformationsschritte folgte eine Übernahme der Standardinstrumentarien marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik. In einer ersten Phase ging es vor allem um die Etablierung einer Währungs- und Fiskalpolitik, die auf eine Verhinderung von allzu starker Inflation sowie Schuldenbegrenzung zielt. Im Verlaufe der 1990er Jahre wurden dann im Zusammenhang mit der Vorbereitung auf den Beitritt zur Europäischen Union auch die Regeln für den Finanzmarkt und viele weitere Sektoren neu gesetzt.[1]

Die grundlegenden Arbeiten zum Aufbau marktwirtschaftlicher Institutionen waren zu Beginn des neuen Jahrhunderts abgeschlossen. Weitere Strukturreformen kamen nur noch langsam voran. Diese sind jedoch unerlässlich, da sich das in den 1990er Jahren geschaffene Modell an europäische und globale Trends anpassen muss. Andernfalls scheitert es. Zentrale Herausforderungen sind der Klimawandel, die demographische Entwicklung, der technologische Fortschritt und die globalen Sicherheitsrisiken. Eine nachhaltige und konkurrenzfähige Volkswirtschaft muss diesen Risiken frühzeitig begegnen und eigene Impulse setzen.

Wachstumsmotor Außenhandel

Seit Beginn der Industriellen Revolution in der ersten Hälfte der 19. Jahrhunderts waren die böhmischen Länder stets eng in den internationalen Warenhandel eingebunden. In der Ära der Zentralverwaltungswirtschaft von Ende der 1940er bis Ende der 1980er Jahre war diese Offenheit allerdings erheblich eingeschränkt. Über 80 Prozent des Außenhandels wurden administrativ in die Länder des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe gelenkt. Nach dem Umbruch von 1989 kam es bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zu einer Kehrtwende um 180 Grad. Der Erfolg tschechischer Unternehmen auf den westlichen Märkten war sowohl der Qualität der Waren als auch den günstigen Wechselkursbedingungen zu verdanken (Tabelle 1).

Tabelle 1: Exporte aus Tschechien nach Ländergruppen 1989–2004, Anteile in Prozent

 

Entwickelte Marktwirt-schaften

Entwicklungs-

länder

Ehemalige europäische staatssozialistische Staaten einschließlich GUS

Andere

(Slowakei)

1990

45,1

9,5

40,9

4,5

1993

58,5

6,3

32,6

2,1

19,7

1995

88,1

5,0

6,2

0,7

14,0

2000

91,4

3,8

4,5

0,3

7,7

2004

91,6

3,2

4,7

0,6

n.v.

 Quellen: Statistical Yearbook of the Czech Republic – 2004 und 2005, <https://www.czso.cz/csu/czso/10n1-04-_2004-1100>. – <https://www.czso.cz/csu/czso/10n1-05-_2005-1100>

Allerdings trug der Außenhandel in den 1990er Jahren noch nicht in dem Maße zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts bei, wie dies seit Mitte der 2000er der Fall ist. In diesen Jahren wurden in allen Wirtschaftszweigen die Produktionsanlagen modernisiert. Daher gab es eine große Nachfrage nach Investitionsgütern, die nur im Ausland gedeckt werden konnte. Nach vierzig Jahren Mangelwirtschaft war zudem die Nachfrage nach Konsumgütern aus dem Ausland hoch. Viele Menschen wollten endlich das kaufen, was ihnen lange vorenthalten worden war. Entsprechend war in dieser Dekade die Handelsbilanz in den meisten Jahren negativ.

Erst mit dem Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union änderte sich dies grundlegend. Seit die tschechische Volkswirtschaft im Jahr 2004 Teil des europäischen Binnenmarkts ist, wurden stets mehr Waren und Dienstleistungen aus Tschechien exportiert als importiert, das heißt: der Außenhandelssaldo (Außenbeitrag) war positiv. Gleichzeitig nimmt der Beitrag des Außenhandels zum BIP in den vergangenen Jahren leicht ab. Die Binnennachfrage – sowohl nach Investitionsgütern als auch nach Konsumgütern – ist für das Wirtschaftswachstum wichtiger geworden (Tabelle 2).

Tabelle 2: Anteile der Exporte, Importe und des Saldos von Export und Import von Waren und Dienstleistungen (Außenbeitrag) in Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu laufenden Preisen sowie Veränderung des Außenbeitrags zu Preisen des Vorjahrs

 

Export

Import

Außenbeitrag

gesamt

Waren

Dienst-

leistungen

gesamt

Waren

Dienst-

leistungen

Anteil am BIP*

Veränderung**

1995

40,2

26,3

13,9

43,3

34,3

9,0

-3,1

-

1996

38,1

24,6

13,5

43,0

33,7

9,3

-4,9

-4,1

1997

40,2

26,6

13,7

44,4

35,5

8,9

-4,2

0,4

1998

42,1

28,1

13,9

42,4

33,7

8,7

-0,3

1,4

1999

42,8

27,7

15,1

43,2

34,1

9,1

-0,4

-0,1

2000

48,1

31,8

16,3

50,0

40,9

9,1

-1,9

0,3

2001

48,9

33,7

15,2

50,2

41,9

8,3

-1,3

-1,1

2002

45,0

32,6

12,4

46,3

38,5

7,8

-1,3

-2,1

2003

46,7

35,2

11,6

48,2

40,4

7,8

-1,5

-0,4

2004

57,1

46,5

10,5

56,4

48,7

7,7

0,7

1,4

2005

61,8

52,2

9,6

59,5

51,6

7,9

2,3

3,3

2006

64,9

54,7

10,1

62,2

54,1

8,1

2,7

2,1

2007

66,1

56,0

10,1

63,7

55,7

8,0

2,4

0,8

2008

63,0

52,9

10,0

60,8

53,0

7,8

2,2

0,7

2009

58,3

48,5

9,9

54,5

46,7

7,8

3,8

0,6

2010

65,5

55,1

10,5

62,5

53,9

8,5

3,0

0,4

2011

70,8

60,1

10,7

67,0

58,1

8,9

3,8

1,8

2012

75,6

64,2

11,5

70,9

61,2

9,7

4,7

1,3

2013

76,1

64,7

11,3

70,4

60,7

9,7

5,7

0,2

2014

82,0

69,9

12,0

75,6

64,9

10,7

6,4

-0,4

2015

80,6

68,2

12,4

74,6

64,1

10,5

6,0

-0,2

2016

79,1

66,7

12,4

71,5

61,3

10,2

7,6

1,3

2017

79,0

66,6

12,5

71,5

61,5

10,0

7,5

1,3

2018

77,0

64,6

12,3

71,0

60,9

10,1

6,0

-1,2

2019

74,4

62,3

12,1

68,4

58,1

10,3

6,0

0,0

Anmerkung: Der Außenbeitrag ist die Differenz (der Saldo) von Waren und Dienstleistungsexporten  und -importen.
* zu Preisen des Berichtsjahrs
** zu Preisen des Vorjahrs.
Quelle: Czech Statistical Office, Database of national accounts, <https://apl.czso.cz/pll/rocenka/rocenkavyber.makroek_vydaj_en>. – Key macroeconomic indicators, <https://www.czso.cz/csu/czso/hmu_ts>.

Dennoch ist der Export seit dem Beitritt Tschechiens zum Gemeinsamen Binnenmarkt der EU im Jahr 2004 ein starker Motor für das Wirtschaftswachstum. In der Wirtschaftskrise der Jahre 2008–2012 trug er nach einem Einbruch 2007 rasch wieder positiv zum BIP bei. Die tschechische Exportwirtschaft ist somit auch in schwierigen Zeiten eine Wachstumsstütze.

Die Tschechische Republik ist eine stark exportorientierte Volkswirtschaft, was sich an der hohen Außenhandelsquote zeigt, die zwischen 1996 und 2015 stets zugenommen hat. Dies belegt, dass sich die Exportwirtschaft flexibel an die Nachfrage auf den Märkten der hochentwickelten Länder anpassen kann. Dies gilt ungeachtet dessen, dass der Offenheitsgrad der tschechischen Volkswirtschaft, gemessen am Anteil der Exporte und der Importe am Bruttoinlandsprodukt (Außenhandelsquote) seit 2015 rückläufig ist.

Der Rückgang der Außenhandelsquote ist kein negatives Zeichen, sondern Ausdruck einer natürlichen Entwicklung: Mit zunehmender Annäherung an die hochentwickelten Volkswirtschaften spielt die Binnennachfrage gegenüber der Nachfrage nach importierten Gütern eine wachsende Rolle. Die Haushalte verfügen über größere Einkommen, die sie für den Erwerb von Gütern ausgeben, die im Inland produziert werden, weil die Unternehmen mittlerweile über das Kapital für Investitionen und der Staat über ausreichend Steuereinnahmen für Infrastrukturmaßnahmen verfügen. Dieser Trend zeigt sich allerdings bislang nur in Tschechien, nicht aber in den anderen ostmitteleuropäischen Staaten (Tabelle 3).

Wie stark der tschechische Exportsektor ist, zeigt sich etwa daran, dass der Gesamtwert der Waren, die im Jahr 2019 aus Tschechien exportiert wurden, das Fünffache des Werts der aus Griechenland ausgeführten Waren hatte. Zählt man die Dienstleistungen hinzu, war der Wert der tschechischen Exporte immer noch 2,5fach größer als der der griechischen.[2]

Tabelle 3: Offenheitsgrad (Außenhandelsquote) 2004 und 2019

 

2004

2014

2019

Polen

71,5

93,5

106,4

Slowenien

111,6

145,5

159,0

Slowakische Republik

139,6

178,2

184,5

Tschechische Republik

113,5

157,6

142,8

Ungarn

123,3

168,2

161,3

Deutschland

66,2

84,6

88,0

Anmerkung: Die Außenhandelsquote entspricht dem Anteil der Summe von Exporten und Importen (Waren und Dienstleistungen) am BIP.
Quelle: <www.theglobaleconomy.com/rankings/trade_openness/European-union>

Es ist kein Zufall, dass der Außenhandel genau in jenem Moment ein bestimmendes Element der tschechischen Volkswirtschaft wurde, in dem das Land in die letzte Phase der Vorbereitungen auf den Beitritt zur EU ging. Zum einen kam in der ersten Hälfte der 2000er Jahre die erste Transformationsphase zum Abschluss. Die modernisierte und mit mehr Kapital ausgestattete tschechische Industrie konnte ihre Produktionskapazitäten erweitern und nun nicht mehr nur den relativ kleinen tschechischen Markt beliefern, sondern auch auf Auslandsmärkte expandieren. Zum anderen waren zu diesem Zeitpunkt bereits relevante Teile der tschechischen Industrie im Besitz ausländischer Unternehmen. So kaufte etwa der deutsche Volkswagen-Konzern bereits 1991 einen 30-prozentigen Aktienanteil am tschechischen Autohersteller Škoda, den er bis zum Jahr 2000 auf 100 Prozent ausbaute. Škoda Auto ist seit vielen Jahren mit großem Abstand das umsatzstärkste Unternehmen des Landes; zweitgrößter Konzern in ausländischem Eigentum ist die tschechische Tochter des Elektronikkonzerns Foxconn aus Taiwan, die in Pardubice seit dem Jahr 2000 Computer herstellt und für das gesamte Europageschäft des Unternehmens zuständig ist. Drittgrößtes ausländisches Unternehmen ist Unipetrol, eine Aktiengesellschaft, in der die gesamte tschechische Petrochemie-Branche zusammengefasst ist und die seit 2004 eine 100-prozentige Tochter des polnischen PKN Orlen ist.[3]

Viele dieser Unternehmen hatten in Tschechien genau zu dem Zwecke investiert, um dort hergestellte Güter auf den europäischen Markt oder den Weltmarkt zu bringen. Dies trifft allerdings nur für Waren zu, nicht für Dienstleistungen. Bis heute haben nur wenige ausländische Unternehmen in Tschechien investiert, um von dort weltweit Dienstleistungen anbieten zu können. Daher ist der Wert der exportierten Waren ungefähr um das Fünffache höher als der Wert der exportierten Dienstleistungen. In vergleichbaren Ländern wie Irland ist hingegen der Export von Waren und Dienstleistungen ausgeglichen oder die Dienstleistungen überwiegen sogar.

Am steilsten stieg der Wert der Warenexporte genau im Jahr des EU-Beitritts 2004 an: im Vergleich zum Vorjahr um 33 Prozent. Ein solcher Anstieg war weder zuvor erreicht worden, noch hat er sich seitdem jemals wiederholt.

Der bevorstehende Beitritt zum Binnenmarkt der EU gab nicht nur tschechischen Unternehmen einen Anstoß, zwecks Kapazitätsausweitung in neue Anlagen zu investieren. Er zog auch ausländische Investoren an. Diese kamen sowohl aus Westeuropa als auch aus außereuropäischen Staaten, anfangs vor allem aus Japan, in den letzten Jahren zunehmend aus Südkorea. Sie alle sahen in der Tschechischen Republik ein günstiges Umfeld, in dem vergleichsweise niedrige Lohn- und Lohnnebenkosten und eine hohe Qualifikation der Arbeitskräfte zusammenkamen. Investoren aus Ländern außerhalb der EU schufen sich zugleich einen guten Zugang zum EU-Binnenmarkt, den sie vom Standort des Mutterkonzerns aus nicht hatten. Der steile Anstieg von Einfuhr und Ausfuhr war also in erheblichem Maße mit dem Zufluss von ausländischen Direktinvestitionen verbunden, deren Zweck nicht die Erschließung des kleinen tschechischen Markts, sondern des viel größeren Binnenmarkts der EU war.

Seit der Umorientierung des Außenhandels von Ost nach West Anfang der 1990er Jahre hat sich an der geographischen Ausrichtung der Ausfuhren nichts mehr wesentlich verändert.

Tabelle 4: Tschechischer Außenhandel 2005–2020: Anteil an den Gesamtexporten und -importen nach Ländergruppen

 

EU

davon Eurozone

Nicht-EU

ohne Angabe

Export

Import

Export

Import

Export

Import

Export

Import

2005

83,3

69,7

70,9

59,4

16,7

30,2

0,1

0,1

2010

81,3

63,5

68,1

51,5

18,6

36,2

0,1

0,4

2015

78,7

66,2

65,0

52,3

21,2

33,0

0,1

0,8

2020

79,6

63,6

64,7

48,7

20,4

35,8

0

0,6

Quelle: Czech Statistical Office, International trade in goods, <www.czso.cz/csu/czso/vzonu_ts>

Die massive Steigerung der Exporte, die zu einer konstant positiven Handelsbilanz mit großer Bedeutung für das tschechische BIP führte, kann jedoch als eine weitere fundamentale Umwälzung gelten. Im Zuge der Anpassung an neue Trends auf dem Weltmarkt ändert sich die Zusammensetzung der exportierten Waren, es findet eine Anpassung an die fortschreitende Digitalisierung statt, neue Informations- und Kommunikationstechnologien führen zur Entwicklung neuer Verkaufsmodelle und Marketingmethoden. Diese Anpassung ist den exportorientierten Unternehmen mit Standort in der Tschechischen Republik in einem von hoher Konkurrenz geprägten Umfeld sehr gut gelungen, so dass sich in den vergangenen 15 Jahren die Qualität tschechischer Exporte massiv verbessert hat. Dies zeigt sich daran, dass insbesondere exportierte Endprodukte Made in Czechia nicht mehr im billigeren Segment liegen. Der günstige Preis ist bei weitem nicht mehr der entscheidende Faktor, wenn sich Kunden für Waren aus Tschechien entscheiden.

Strukturprobleme der tschechischen Außenwirtschaft

Wenngleich die auf Export ausgerichteten Unternehmen zu einem Aushängeschild der tschechischen Volkswirtschaft geworden sind, so gibt es doch Strukturprobleme im Exportsektor, die dazu führen, dass das wirtschaftliche Potential der Tschechischen Republik nicht in vollem Maße genutzt wird. Einige dieser Probleme wurden durch die genannten Umwälzungen nicht nur nicht beseitigt, sondern durch sie erst hervorgerufen oder verstärkt. Ohne eine Überwindung dieser Probleme wird es der Tschechischen Republik nicht gelingen, in die Gruppe der überdurchschnittlich entwickelten Staaten in der EU vorzustoßen. Denn der Außenhandel ist ein Indikator für den Zustand der gesamten tschechischen Volkswirtschaft. Deren Strukturprobleme sind oft hausgemacht und können daher auch beseitigt werden. Dies ist für ein Land, in dem der erwirtschaftete Außenhandelsüberschuss fünf Prozent des BIP beträgt, von großer Bedeutung.

Schwacher Dienstleistungssektor

Eine der wichtigsten Funktionsstörungen ist die schleppende Anpassung an die Digitalisierung. In Tschechien ist die Überzeugung tief verankert, dass das, was man nicht anfassen kann, nicht existiert. Die Ökonomie virtueller Güter wird jedoch immer wichtiger. Der Anteil von Dienstleistungen am tschechischen BIP hat zwar seit 1989 erheblich zugenommen. Doch der stärkste Zuwachs fand in den ersten Jahren des Umbaus statt, als dieser Anteil in nur fünf Jahren um zehn Prozentpunkte zunahm. Der weitere Zuwachs auf die heutigen 63 Prozent fand dann nur noch schleppend statt.

Tabelle 5: Anteil des Dienstleistungssektors am BIP, ausgewählte Staaten

 

2000

2005

2010

2015

2019

Ø EU

69,9

72,1

73,3

73,8

73,9

Polen

64,0

64,1

63,9

63,3

65,4

Ungarn

62,5

64,1

66,6

64,2

66,5

Slowakei

64,7

61,9

64,3

63,3

65,1

Deutschland

68,1

69,9

69,2

69,1

69,4

Österreich

66,4

68,2

69,8

70,5

70,2

Tschechien

59,7

60,3

61,6

60,0

63,0

Quelle: Eurostat, National accounts aggregates by industry,  <https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/nama_10_a64/default/table?lang=en>

Bei den Exporten wächst der Anteil der Dienstleistungen sogar überhaupt nicht, er sinkt vielmehr und ist heute geringer als Mitte der 1990er Jahre (Tabelle 2). Beide Zahlen zusammengenommen – der wachsende Anteil der Dienstleistungen am BIP und der sinkende Anteil am Export – zeigen, dass Dienstleistungen in Tschechien vor allem auf dem heimischen Markt angeboten werden. Nur im Tourismus- und im Transportsektor bieten in Tschechien angesiedelte Firmen internationale Dienstleistungen an. Anders als etwa in Österreich, den Niederlanden oder den skandinavischen Staaten, die mit Tschechien vergleichbar sind, ist der Sektor der handelbaren Finanzdienstleistungen schwach. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass der Finanzsektor nahezu vollständig von ausländischen Unternehmen dominiert ist, die auch in den ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten ebenfalls Filialen haben, so dass kein Anreiz besteht, aus Tschechien diese Märkte zu erschließen.

Hinzu kommt, dass es sich bei den ins Ausland verkauften Dienstleistungen nahezu ausschließlich um solche mit eher geringer Wertschöpfung, etwa solche im Telekommunikationssektor handelt. Der Verkauf von Lizenzen, Patenten, Technologien, intelligenten Lösungen, Innovationsmodellen, Unternehmenskonzepten und Marketingstrategien ins Ausland spielt hingegen fast keine Rolle. In diesen Sektoren wird der globale Markt von Unternehmen aus Westeuropa und Nordamerika dominiert.

In den am höchsten entwickelten Ländern tragen Dienstleistungen und immaterielle Güter bereits mit mehr als 70 Prozent zum erwirtschafteten BIP bei. Trotz aller Hindernisse werden diese auch zunehmend leichter international handelbar. Die tschechische Wirtschaftspolitik sollte einen marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmen schaffen, der zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit tschechischer Unternehmen in diesem Bereich beiträgt.

Allerdings stehen hinter mehr als drei Vierteln des Exports Unternehmen, deren Stammsitz im Ausland liegt. Ein bedeutender Anteil der Exporte entfällt auf Fertigwaren, die von Tochtergesellschaften internationaler Konzerne in Tschechien gefertigt werden. Der Rest entfällt jedoch auf Komponenten, Bauteile und Halbwaren, die von kleinen und mittleren tschechischen Unternehmen vorgefertigt werden und zur Endfertigung ins Ausland, überwiegend nach Deutschland, bislang auch noch in nicht unerheblichem Maße nach Großbritannien, exportiert werden.

Die starke Rolle ausländischer Unternehmen geht auf die Transformation der tschechischen Volkswirtschaft in den 1990er Jahren zurück, als internationales Kapital zur Modernisierung benötigt wurde. Bestimmte Privatisierungen waren daher in diesen Jahren so angelegt, dass nur ausländische Konzerne die Bedingungen erfüllen konnten. So wurde etwa verlangt, dass Unternehmen Erfahrungen auf dem Weltmarkt mitbringen. Oft war bei öffentlichen Ausschreibungen der Einstiegspreis so hoch angesetzt, dass heimische Investoren nicht mitbieten konnten. Auch bei der Investitionsförderung wurden Mindestinvestitionssummen verlangt, die nur ausländische Konzerne aufbringen konnten.[4]

Dies war jedoch richtig. Ausländisches Kapital war unverzichtbar für die Modernisierung der tschechischen Volkswirtschaft. In den 1990er Jahren fehlte tschechischen Unternehmen das Kapital, der Finanzsektor war schwach und unter­entwickelt. Neben der Voucher-Privatisierung, bei der Anteilsscheine an die Bürger des Landes ausgegeben wurden, um so mit der Zeit eine Kapitalbildung zu erreichen, war es unumgänglich, auch ausländische Investoren in die Privatisierung einzubeziehen.

In den 2000er Jahren war dann nicht mehr Kapitalmangel das zentrale Problem. Nun wurden Investoren aus dem Ausland vor allem gesucht, um einen Transfer von Wissen, Erfahrungen und Managementkompetenzen zu ermöglichen und den Zugang zu internationalen Märkten zu erleichtern. Dies galt vor allem für den Bankensektor: Die österreichische Erste Group übernahm im Jahr 2000 ein 50-Prozent-Paket an der traditionsreichen tschechischen Bank Česká spořitelna und erhöhte es zwei Jahre später auf 100 Prozent. Im Jahr 2001 verkaufte der Staat seinen 60-prozentigen Anteil an der Komerční banka an die französische Société Générale Group, die auf Unternehmenskunden spezialisierte ČSOB ging an die belgische KC Group. Im Bereich der Versorgungsunternehmen kaufte die deutsche RWE das Gashandelsunternehmen Transgas, die deutsche E.ON erwarb mehrere regionale Stromversorger, die französische Veolia zahlreiche Wasserversorger. Raffinerien wurden von Agip, Shell und Conoco übernommen, später vom polnischen Konzern PKN Orlen.

Kurzum, ohne ausländisches Kapital wäre die Modernisierung der tschechischen Volkswirtschaft nach 40 Jahren der Isolation nicht gelungen, die ersehnte „Rückkehr nach Europa“ hätte nicht stattgefunden.

Gleichwohl ist es wenig schmeichelhaft für die tschechischen Firmen, dass sie es bis heute nicht vermocht haben, ihre Marktposition gegenüber Firmen in ausländischem Besitz zu erhöhen. Das gilt nicht nur für die Kreditinstitute, sondern auch für den Einzelhandel und die großen Brauereien mit Ausnahme von Budvar. Dem Staat ist es nicht gelungen, eine Verbesserung ihrer Stellung auf dem Binnenmarkt zu stimulieren. Daher ändert sich jene Struktur, die unter den sehr spezifischen Bedingungen der 1990er Jahre entstanden ist, nur sehr langsam. Bis heute tut der tschechische Staat auch kaum etwas für Unternehmen, die expandieren und auf ausländische Märkte vordringen wollen. Einige tschechische Unternehmen wie z.B. die Finanzholding PPF und der Bergbau- und Energiekonzern Sev.en haben sich sogar wegen des ungünstigen Investitionsklimas in ihrem Heimatland entschlossen, ihren Firmensitz ins Ausland zu verlegen, wo sie ein besseres institutionelles Umfeld vorfinden.

Kein Fortschritt in der Wertschöpfungskette

Ein weiteres Problem der Exporte im speziellen und der tschechischen Volkswirtschaft im Allgemeinen ist, dass der Aufstieg der gefertigten Waren in höhere Segmente der Wertschöpfungskette nur noch sehr langsam vonstattengeht. Damit können die Unternehmen ihre Gewinne nicht steigern und diese für weitere Investitionen einsetzen. Es ist schwer zu klären, ob dies an der Eigentümerstruktur liegt oder ob vor allem Unternehmen in tschechischem Besitz diesen Aufstieg nicht schaffen. Vielleicht ist auch entscheidend, dass es an einer koordinierten staatlichen Unterstützung fehlt, die es exportorientierten Unternehmen ermöglichen würde, Märkte selbst zu schaffen, indem sie neue Waren anbieten und die Bedingungen, unter denen diese gehandelt werden, selbst definieren. Hierher gehört auch die Frage nach dem fairen Wettbewerb. Wie anders als durch Dumpingpreise ist es zu erklären, wenn Waren aus Ländern mit einem dreifach höheren Lohnniveau auf dem tschechischen Markt wettbewerbsfähig sind und viele importierte Einzelhandelsgüter zu Preisen verkauft werden, die nicht einmal die Produktionskosten decken?

Auch auf die Warenstruktur der tschechischen Ausfuhren ist in diesem Zusammenhang ein Augenmerk zu werfen. Die exportierten Güter kommen zwar aus einem sehr breiten Spektrum, und einige Unternehmen produzieren tatsächlich im höchsten Segment. Gleichwohl verengt sich in den vergangenen Jahren das Spektrum der exportierten Waren. Früher exportierte Tschechien auf die Kunden zugeschnittene Anlagen und Ausrüstungen für Brauereien, Textil- und Lebensmittelfabriken. Heute ist dies nur noch selten der Fall. Auch Exportmärkte für traditionelle Erzeugnisse wie Prager Schinken, Kartoffeln, Zucker, Schuhe, Textilien und Motorräder sind verloren gegangen.

Eine dominante Rolle nimmt in der tschechischen Volkswirtschaft und bei den Exporten aus Tschechien die verarbeitende Industrie ein. Diese benötigt eine große Zahl qualifizierter Arbeitskräfte. Solche sind bereits seit einigen Jahren auf dem tschechischen Arbeitsmarkt, der von einer EU-weit einzigartig niedrigen Arbeitslosenquote gekennzeichnet ist, kaum noch zu finden. Dies führt dazu, dass neue Aufträge nicht angenommen werden, weil es niemanden gibt, der sie erfüllen könnte. Die Sars-CoV-2-Pandemie hat das Problem weiter verschärft.

Eng damit verbunden ist die Frage nach der Zukunft der verarbeitenden Industrie. Die Rede ist von der vierten industriellen Revolution durch die Digitalisierung.[5] Will die tschechische Volkswirtschaft international konkurrenzfähig bleiben und auch auf den Märkten der Zukunft bestehen, sind riesige zusätzliche Investitionen notwendig.

Wichtigster externer Faktor ist dafür das reibungslose Funktionieren des Gemeinsamen Binnenmarkts der EU, nicht nur bei Waren, sondern auch bei Dienstleistungen, im Kapitalverkehr, bei der Freizügigkeit der Arbeitskräfte und der Ansiedlung von Unternehmen. Gewisse protektionistische Maßnahmen, wie sie beispielsweise während der Krise im Euroraum um das Jahr 2012 zu beobachten waren, zentrifugale Tendenzen, wie sie etwa im Austritt Großbritanniens aus der EU zum Ausdruck kommen, und insbesondere Grenzschließungen und andere Maßnahmen, die gegenwärtig der Eindämmung der Pandemie dienen sollen, haben äußerst negative Auswirkungen auf den tschechischen Exportsektor und damit auf die gesamte Volkswirtschaft.

Kapitalabfluss

Bislang stand die Aus- und Einfuhr von Waren und Dienstleistungen im Zentrum der Betrachtung. Zur Zahlungsbilanz trägt jedoch in erheblichem Maße auch der grenzüberschreitende Fluss von Erwerbs- und Vermögenseinkommen bei. Hier sieht die Lage wenig rosig aus. Während es beim Handel mit Waren und Dienstleistungen einen langfristigen deutlichen Überschuss gibt, fließt in großen Mengen Kapital aus der Tschechischen Republik ab. Es handelt sich insbesondere um Dividenden, aber auch um andere Einkünfte. Dies hat vor allem mit der großen Rolle ausländischer Investoren in Tschechien zu tun. Dieses chronische Defizit, das sich seit langem auf ungefähr sieben Prozent des BIP beläuft, beeinflusst erheblich den Saldo der Leistungsbilanz.[6] In Jahren, in denen der Handelsüberschuss aufgrund florierender Warenexporte groß ausfällt, ist die Leistungsbilanz leicht positiv. Ist der Warenexport etwas schwächer, kommt es zu einem Leistungsbilanzdefizit. Dies ist ein international eher untypisches und gewiss kein schmeichelhaftes Phänomen für eine Volkswirtschaft wie die tschechische. Es kommt sogar zu einem paradoxen Effekt: Da ein erheblicher Anteil der Warenexporte auf die Tochterunternehmen internationaler Konzerne entfällt, verschlechtert sich die tschechische Leistungsbilanz, je mehr Gewinne diese mit den in Tschechien hergestellten und dann exportierten Waren erzielen. Grund ist, dass die Gewinne in Form von Dividenden ins Ausland fließen. Dem steht ein alljährlicher Überschuss bei der Kapitalbilanz gegenüber, der auf die zuströmenden ausländischen Direktinvestitionen zurückzuführen ist, denen kein entsprechender Kapitalexport aus Tschechien gegenübersteht. Daher wird in der Leistungsbilanz der gesamte, durchaus beachtliche Kapitalzufluss aus dem Warenexport durch den Abfluss von Dividenden und anderen Primäreinkommen aufgehoben.

Die tschechische Politik reagiert bislang nicht auf diesen Kapitalabfluss. Zwei Möglichkeiten stünden zur Verfügung. Die erste bestünde darin, dieses Ungleichgewicht zu beseitigen, indem man heimische Unternehmen fördert, damit sie konkurrenzfähiger werden, nicht zuletzt indem man ökonomisch sinnvolle Investitionen im Ausland fördert. Die andere Möglichkeit ist, hinzunehmen, dass jährlich Kapital in einem Umfang von sieben Prozent des tschechischen BIP abfließt, man jedoch mit einer Anpassung des Wirtschaftsmodells und des rechtlichen Rahmens reagiert, wie dies Irland und Luxemburg getan haben. Diese beiden Länder waren in einer ähnlichen Lage, konnten jedoch eine große Zahl ausländischer Firmen aus den Bereichen Finanzdienstleistungen, Informations- und Kommunikationstechnologien und internationale strategische Unternehmensberatung anziehen und so in den vergangenen 20–30 Jahren ihr Bruttoinlandsprodukt um ein Vielfaches steigern, wodurch sie – gemessen am BIP pro Kopf zu Kaufkraftparitäten – zu den reichsten Ländern in der EU geworden sind.

Ausländische Direktinvestitionen – Segen mit Haken

Ausländische Direktinvestitionen waren in den 1990er Jahren und darüber hinaus eine der wichtigsten Voraussetzungen für den erfolgreichen Umbau der tschechischen Volkswirtschaft. Zu dieser Zeit mangelte es sowohl an Kapital wie an jenem Wissen, das nötig ist, um auf internationalen Märkten bestehen zu können. Beides brachten die ausländischen Investoren mit. Ohne sie wäre die Transformation kaum gelungen. Die Investitionsförderungsprogramme dieser Zeit waren daher zweifellos richtig.

Ein genauer Blick auf die Entwicklung der ausländischen Direktinvestitionen zeigt, dass der Zufluss in den entscheidenden Phasen der Transformation erheblich war. Gemessen am Anteil, den der Zufluss ausländischer Direktinvestitionen am BIP hatte, spielten diese allerdings in den Jahren der ersten Privatisierungswelle noch nicht jene entscheidende Rolle, wie dies später der Fall war. Dies änderte sich mit Beginn der Privatisierungen im Banken-, Energie- und Telekommunikationssektor Ende der 1990er Jahre. Im Jahr 2001 trug der jährliche Zufluss an ausländischen Direktinvestitionen rund zehn Prozent zum BIP bei.

Tabelle 6: Ausländische Direktinvestitionen: Bestand in Euro und jährliche Veränderung in Prozent

 

 

 

1993

1994

1995

1996

1997

Grundkapital

 

 

-

-

-

-

-

reinvestiertes Kapital

 

 

-

-

-

-

-

übriges Kapital

 

 

-

-

-

-

-

Gesamtbestand

 

 

0,6

0,7

2,0

1,4

1,2

Veränderung zum Vorjahr (%)

 

 

 

16,7

185,7

-30,0

-14,3

 

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

Grundkapital

9,7

14,0

18,3

22,1

25,3

23,7

26,3

reinvestiertes Kapital

0,4

0,9

1,7

4,1

6,8

7,5

10,5

übriges Kapital

1,8

2,6

3,3

4,5

4,8

4,7

5,2

Gesamtbestand

11,9

17,5

23,3

30,7

36,9

35,9

42,0

Veränderung zum Vorjahr (%)

891,7

47,1

33,1

31,8

20,2

-2,7

17,0

 

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

Grundkapital

31,3

35,4

41,1

41,9

45,9

50,5

48,1

reinvestiertes Kapital

14,0

19,1

28,1

30,5

32,9

36,7

35,7

übriges Kapital

6,0

6,1

7,1

8,9

8,6

8,9

9,5

Gesamt

51,4

60,6

76,3

81,3

87,3

96,2

93,2

Veränderung zum Vorjahr (%)

22,4

17,9

25,9

6,6

7,4

10,2

-3,1

 

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Grundkapital

51,9

48,8

48,1

54,8

58,1

64,9

69,1

reinvestiertes  Kapital

41,3

40,9

42,9

45,7

48,5

55,3

59,8

übriges Kapital

10,3

7,6

9,1

6,6

9,1

9,8

14,5

Gesamt

103,5

97,3

100,1

107,1

115,6

130,0

143,3

Veränderung zum Vorjahr (%)

11,1

-6,0

2,9

7,0

7,9

12,5

10,2

Anmerkung: 1998 begannen die Privatisierung der strategischen Wirtschaftssektoren und die Tätigkeit der staatlichen Agentur zur Attraktion ausländischer Investitionen (CzechInvest). Angaben für 1993–1998 in ECU.

Quellen: Wie zu Tabelle 2 sowie Tschechische Nationalbank, <www.cnb.cz/cs/statistika/platebni_bilance_stat/publikace_pb/pzi>

Im Laufe der Jahre änderte sich auch die Art der ausländischen Direktinvestitionen grundlegend. In der Transformationsphase und noch bis ungefähr 2005 flossen diese vor allem in das Grundkapital, sei es durch Investitionen in neue Unternehmen „auf der grünen Wiese“, sei es durch Investitionen in bestehende Unternehmen. Seit dem Jahr 2006 ist der Anteil des Kapitals stark gewachsen, das in Tschechien operierende Unternehmen dort erwirtschaften und anschließend reinvestieren. Auch der Anteil von Krediten und Schuldverschreibungen, die zwischen den Tochterunternehmen eines Mutterkonzerns vergeben werden („übriges Kapital“), ist gewachsen (Tabelle 6). Im Jahr 2018 stammte bei einem Gesamtbestand ausländischer Direktinvestitionen von 143 Milliarden Euro (67,9 Prozent des BIP) bereits knapp die Hälfte aus Reinvestitionen sowie übrigem Kapital. Dies zeugt auf der einen Seite davon, dass die ausländischen Konzerne in der Tschechischen Republik eine stabile Basis für die Zukunft sehen und ihre Tätigkeit dort ausweiten wollen. Auf der anderen Seite weist es aber auch darauf hin, dass der Zustrom neuer Investitionen ins Stocken geraten ist. Dies gilt allerdings nur im Vergleich zum hohen Zustrom früherer Jahre. Absolut gesehen lag der Bestand ausländischer Direktinvestitionen in das Grundkapital mit 69,1 Milliarden Euro so hoch wie nie zuvor.

Der Blick auf die Zahlungsbilanz zeigt dennoch auf, dass sich an den zentralen Determinanten der tschechischen Volkswirtschaft seit Abschluss der großen Transformation vor 20 Jahren kaum noch etwas geändert hat. Einerseits ist das Ausweis eines Erfolgs: Die Tschechische Republik ist mit Abstand das am weitesten entwickelte Land in Ostmitteleuropa und liegt gemessen am BIP pro Kopf auf Augenhöhe mit Italien und Spanien, nicht allzu weit entfernt von Frankreich. Andererseits gibt es aber auch Hinweise darauf, was getan werden muss, damit sich die positive Entwicklung der vergangenen drei Jahrzehnte fortsetzt.

Mehr Industriepolitik wagen

Die Eigentumsstruktur in der tschechischen Volkswirtschaft und die Stellung der verschiedenen Sektoren sind seit Anfang der 2000er Jahre nahezu unverändert. Firmen in tschechischem Eigentum haben es versäumt oder nicht vermocht, an der weiterhin bedeutenden und in vielen Zweigen dominanten Stellung ausländischen Kapitals zu rütteln. Auch die Prager Politik hat bislang darauf verzichtet, mit einer entsprechenden Investitionsförderungspolitik dazu beizutragen, dass die Tschechische Republik ihr Entwicklungspotential voll ausschöpft.

Eine solche Politik muss aus mehreren, miteinander verbundenen Schritten bestehen. Zuerst muss der Investitionsbedarf quantitativ erfasst werden. Es muss also festgestellt werden, in welcher Höhe Investitionen benötigt werden, um den Pfad der Konvergenz hin zum Niveau des BIP pro Einwohner von Ländern wie Frankreich oder Finnland fortzusetzen. Anschließend sind Prognosen zu erstellen, wohin diese Investitionen fließen sollten, in welchen Wirtschaftszweigen sie besonders rentabel sind, wo die Synergie mit anderen Zweigen besonders groß ist; welche Investitionen einen positiven Einfluss auf andere makroökonomische Kennziffern haben, etwa weil der Zweig, in den sie fließen, einen geringen Importbedarf hat, sich durch besonders große Wertschöpfung auszeichnet oder Endprodukte fertigt, die sich sowohl in Tschechien als auch im Ausland einer großen Nachfrage erfreuen. Die Mittel für die öffentlichen Investitionen sind im Haushalt einzuplanen und alle formalen Voraussetzungen für ihre Verwendung zu schaffen. All dies trägt dazu bei, dass nicht nur die tschechische Exportwirtschaft, sondern die Tschechische Republik insgesamt ihre ökonomische Kraft bewahrt, handlungsfähig bleibt und den Pfad der Konvergenz fortsetzt.

Aus dem Tschechischen von Volker Weichsel, Berlin

 


[1]   Siehe exemplarisch: Jan Svejnar (Hg.): The Czech Republic and Economic Transition in Eastern Europe. Praha 1995. – Phillip J. Bryson, Gary C. Cornia: Fiscal Decentralisation in Economic Transformation: The Czech and Slovak Cases, in: Europe-Asia Studies, 3/2000, S. 507–522. – Daniel Gros, Alfred Steinherr: Economic Transition in Central and Eastern Europe: Planting the Seeds. Cambridge 2004.

[2]   Griechenland hat wie die Tschechische Republik zehn Millionen Einwohner, vor der großen Wirtschaftskrise 2008 lagen beide Länder gemessen am BIP in Kaufkraftstandards (KKS) pro Kopf gleichauf. Heute liegt Tschechien gemessen am EU-Durchschnitt um 25 Prozentpunkte vor Griechenland. <https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/sdg_10_10/default/table? lang=de>.

[3]   Zu den 20 umsatzstärksten Unternehmen in Tschechien gehören des Weiteren: die tschechische Filiale des Schweizer Konzerns Alpiq, die eine große Rolle im ostmitteleuropäischen Erdgas- und Stromhandel spielt; das Werk des koreanischen Automobilherstellers Hyundai im nordmährischen Nošovice; der Automobilzulieferer Barum im südmährischen Otkrovice nahe Zlín, der seit 1993 zur deutschen Continental AG gehört; die tschechische Tochter des deutschen RWE-Konzerns, die im Strom- und Gashandel tätig ist; die tschechischen Ableger der deutschen Einzelhandelsketten Lidl und Kaufland; die tschechische Tochter des niederländischen Einzelhändlers Ahold; der Ableger des ungarischen Energiekonzerns MOL, der in Tschechien ein Tankstellennetz betreibt und in der chemischen Industrie tätig ist. Quelle: Czechtop100, <www.czechtop100.cz/cs/projekty/zebricky/100-nejvyznamnejsich>.

[4]   Zu den Privatisierungen in den frühen 1990er Jahren siehe: Josef Kotrba: Czech Privatization: Players and Winners. CERGE-EI Working Paper Series 58, April 1994. – Zu den Privatisierungen Ende der 1990er Jahre siehe: Alena Zemplinerová, Martin Macháček: Privatisation in the Czech Republic: Strengths and Weaknesses, in: Yelena Kalyuzhnova, Wladimir Andreff (Hg.): Privatisation and Structural Change in Transition Economies. Basingstoke 2003, S. 202–224. – Jakub Nachtigal: Privatization through FDI in the Czech Republic: Effects of Privatization Properties on the Companies’ Performances. Karls-Universität Prag. Fakultät für Sozialwissenschaften. Praha 2012, <https://is.cuni.cz/webapps/zzp/download/130067949/?lang=en>.

[5]   Als erste industrielle Revolution wird die Mechanisierung durch Dampfkraft bezeichnet, als zweite die Massenfertigung mit Fließbändern, als dritte die bereits von IT-Technik getriebene Automatisierung.

[6]   Der Saldo der Leistungsbilanz ist die Summe der Salden der Handelsbilanz, der Bilanz der Erwerbs- und Vermögenseinkommen und der unentgeltlichen Übertragungen.

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