Titelbild Osteuropa 3-4/2020

Aus Osteuropa 3-4/2020

Im Krisenmodus
Pandemiebekämpfung in der Ukraine

Juri Durkot

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Abstract in English

Abstract

Die ukrainische Regierung betonte früh, dass das Land gegen das Corona-Virus gewappnet sei. Tatsächlich ist das Gesundheitssystem auf eine Pandemie kaum vorbereitet. Die medizinische Infrastruktur ist mangelhaft, Ärzte und Pflegepersonal sind unterbezahlt und den Krankenhäusern fehlt es an Schutzkleidung. Das Kabinett beschloss Ende März 2020 die „Ausnahmesituation“. Präsident Zelens’kyj nutzt die Krise, um die politische Macht in seinen Händen zu konzentrieren. Das ist riskant, denn er übernimmt die alleinige Verantwortung für die Pandemiebekämpfung. Seine Handlungsspielräume sind begrenzt. Seine politische Unterstützung erodiert, die wirtschaftliche Lage ist prekär.

(Osteuropa 3-4/2020, S. 111–122)

Volltext

Seit die ukrainische Regierung Anfang Februar ankündigte, dass sie die Evakuierung der ukrainischen Staatsbürger aus dem von der Corona-Epidemie schwer betroffenen chinesischen Wuhan plane, ist das Thema aus den Nachrichten und Medien nicht mehr wegzudenken. Nach einem schier endlosen Hin und Her, zahlreichen zunächst bestätigten, dann korrigierten und anschließend widerrufenen Meldungen landete eine Sondermaschine am 20. Februar mit 72 Menschen an Bord, darunter 45 ukrainische Staatsbürger, in Charkiv. Die Heimkehrer wurden für eine zweiwöchige Quarantäne nach Novi Sanžary (Gebiet Poltava) ins medizinische Zentrum des Innenministeriums geschickt. Während der ganzen Zeit spielten sich merkwürdige Szenen ab: Die Busse mit den Rückkehrern wurden blockiert und mit Steinen beworfen, woanders wurden öffentlich Gebete gesprochen oder die Nationalhymne gesungen, was die Gefahr bannen sollte, dass die Regierung den – lange geheim gehaltenen – Ort für die Quarantäne irgendwo in der Nähe auswählen könnte. Die Gesundheitsministerin Zorjana Skalec’ka erklärte sich angeblich freiwillig öffentlich bereit, sich mit in Quarantäne zu begeben.[1] Das rettete sie letztlich aber nicht davor, dass sie mit dem gesamten Kabinett unter Oleksij Hončaruk entlassen wurde. Böse Zungen behaupten, dass all diese „Maßnahmen“ Wirkung gezeigt hätten – nach vierzehn Tagen kamen alle Rückkehrer gesund aus der Isolation zurück.

Das öffentliche Leben ‒ die (Un)logik der Einschränkungen

Am 3. März 2020 wurde ein Mann aus der Region Černivci positiv getestet. Er war aus dem italienischen Bergamo über Rumänien in die Ukraine zurückgekehrt. Bereits am 29. Februar war er in ein Krankenhaus eingeliefert worden.[2] Bis zur ersten Verordnung vom 11. März 2020, mit der die ukrainische Regierung auf die Corona-Epidemie reagierte und in das öffentliche Leben eingriff, blieb es bei diesem einen Fall.[3]

Anders als viele Nachbarländer reagierte die Ukraine früh auf die Corona-Epidemie. Die Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung versuchten zu keinem Zeitpunkt, die Gefahren zu ignorieren oder herunterzuspielen, wie dies etwa in Belarus der Fall war.[4] Als am 16. März mit der Schließung der Geschäfte, der Einstellung des ÖPNV und dem Verbot von Veranstaltungen ein Shutdown verordnet wurde, der in der Ukraine als „Quarantäne“ bezeichnet wird, gab es nur sieben registrierte Infektionsfälle. Die Maßnahmen wurden später weiter verschärft, indem die meisten Grenzübergänge geschlossen wurden und eine Mund-Nasen-Schutzpflicht angeordnet wurde. Sie werden von der Bevölkerung im Großen und Ganzen unterstützt. Die Epidemie konnte jedoch nicht ganz eingedämmt werden. Auch wenn die Zahl der Infizierten relativ niedrig ist (4662 am 17.4.2020), stieg sie zuletzt um mehr als zehn Prozent täglich. Als großes Risiko für die Ausbreitung des Virus gilt das orthodoxe Osterfest am 19. April. Die Orthodoxe Kirche der Ukraine und die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche haben ihre Gläubigen aufgerufen, zu Hause zu bleiben. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats will als einzige Kirche an ihren Ostergottesdiensten festhalten.[5]

Die schnellen und immer rigoroseren Einschränkungen zeigen, dass die Regierung bereits zu einem frühen Zeitpunkt die ernsthafte Gefahr einer schnellen Ausbreitung der Epidemie sah und präventiv handeln wollte. Obwohl die vorbereitenden Maßnahmen im ukrainischen Gesundheitswesen zumindest auf dem Papier schon im Februar angelaufen waren und die Regierung mehrmals betonte, dass das Land für den Kampf gegen das Corona-Virus gewappnet sei, war allen von Anfang an klar, dass das staatliche Gesundheitssystem, das schon in normalen Zeiten mehr schlecht als recht funktioniert, auf eine solche Herausforderung nicht vorbereitet ist. Nach einem jahrzehntelangen Niedergang des sowjetisch geprägten, offiziell kostenlosen und chronisch unterfinanzierten Gesundheitswesens der Ukraine, das bis heute eine obligatorische Krankenversicherung nicht kennt, haben verbitterte Stellungskämpfe zwischen den Befürwortern und Gegnern der Gesundheitsreform das System zusätzlich geschwächt.

Die unter Präsident Porošenko angelaufene Reform zielte auf ein weiterhin staatlich finanziertes System, in dem das medizinische Personal besser bezahlt, die Korruption eingedämmt und der staatliche Medikamenteneinkauf transparenter erfolgen sollte. Allerdings führte die Reform zur Schließung von Krankenhäusern und Personalabbau. Sie stieß auf erbitterten Widerstand der alten Kräfte im Gesundheitswesen und der Medikamenten-Importeure und wurde bis heute nur teilweise umgesetzt.

Das Handeln der zentralen Behörden wirft die Frage auf, ob sie die Gefahr richtig einschätzten und über die angemessenen Instrumente verfügten, um der Verbreitung entgegenzuwirken. Von Anfang an waren nicht einreisende Ausländer die eigentliche Gefahrenquelle – Mitte März war die Ukraine kein stark frequentiertes Tourismusziel –, sondern die eigenen Staatsbürger, die aus den europäischen Ländern zurückkehrten. Je rascher sich das Virus in Westeuropa ausbreitete und je rigoroser dort das öffentliche Leben eingeschränkt wurde, Geschäfte schlossen und Unternehmen ihre Produktion einstellten, desto mehr ukrainische Arbeitskräfte kehrten nach Hause zurück.

Die Behörden waren nicht imstande, alle Folgen ihrer Entscheidungen vorauszusehen. Als sie am 11. März die Schließung der Bildungseinrichtungen von heute auf morgen verordneten, sahen sich viele Kommunen gezwungen, eine Übergangsfrist bis zum 16. März festzulegen, damit die Eltern von Kleinkindern für diese eine Betreuung organisieren konnten. Die Stilllegung der U-Bahn und die Begrenzung der Zahl der Fahrgäste ließen den ÖPNV kollabieren, was die Städte wiederum zu Notlösungen zwang. Als am 26. März Präsident Zelens’kyj die Schließung der Grenze verkündete, die letztlich aber gar nicht vollständig geschlossen wurde, standen am nächsten Tag mehr als 20 000 ukrainische Staatsbürger stundenlang in langen Schlangen ohne jegliche Distanz an den Grenzübergängen und warteten auf die Abfertigung. Am 29. März wurde für alle Rückkehrer eine Selbstisolation angeordnet, den Behörden fehlten jedoch die Ressourcen, um sie zu kontrollieren.

Regionale Besonderheiten

Gleich zu Beginn der Epidemie ließen sich einige Regionen als Hotspots identifizieren. In Kiew und dem Gebiet Kiew waren es vor allem Urlauber, welche die Krankheit aus den Alpen mit nach Hause gebracht hatten. Im Westen der Ukraine waren es dagegen Gastarbeiter, die aus den europäischen Ländern, unter anderem aus Italien, zurückkehrten. Seit Anfang entfallen knapp zwei Drittel aller Infektionen auf Kiew sowie die fünf Gebiete Černivci, Ivano-Frankivs’k, Ternopil’, Gebiet Kiew und Vinnycja.

Entsprechend unterschiedlich fiel die Reaktion der Regionen und Städte aus. Černivci und Žytomyr hatten als erste Gebiete bereits am 16.3. die sogenannte „Ausnahmesituation“ ausgerufen, ehe sie landesweit eingeführt wurde, einzelne Kommunen wie die Kleinstadt Radomyšl’ im Gebiet Žytomyr oder das Dorf Kozac’ke im Gebiet Sumy ließen die Regionalbehörden abriegeln, weil sie Brennpunkte der Epidemie waren. Černivci hat seit dem 3. April die Ausreise aus der Region verboten. Generell können die Kommunen strengere Regelungen treffen als jene, die auf Landesebene in Kraft sind.

So haben Kiew und L’viv eine strengere Mund-Nasen-Schutzpflicht, als sie in der Ukraine gilt. Allerdings dürfen Kommunen die allgemeinen Regeln nicht lockern. Derartige Versuche hatte es in Charkiv und Zaporižžja gegeben, wo sich die Oberbürgermeister zunächst geweigert hatten, die Metro zu schließen oder den Zugang zu öffentlichen Nahverkehrsmitteln nur bestimmten Personengruppen zu gewähren. Auch bei der Finanzierung der Maßnahmen kann sich die Politik je nach Kommune und Region unterscheiden. So hatte die Stadtverwaltung von L’viv am 30. März beschlossen, den Ärzten und dem Pflegepersonal, die direkt mit der Corona-Bekämpfung betraut sind, eine Sonderzahlung in Höhe von 10 000 Hryvnja (rd. 340 Euro) zu leisten.

Rechtliche Grundlagen

Die rechtliche Grundlage zur Bekämpfung der Pandemie bildet das Infektionsschutzgesetz vom 6.4.2000, das seitdem einige Male novelliert wurde.[6] Die Veränderungen im Zusammenhang mit Covid-19 wurden am 30.3.2020 verabschiedet, vor allem für Hersteller von Desinfektionsmitteln und medizinischer Ausrüstung wurden Vergünstigungen beschlossen. Die „Ausnahmesituation“, die vom Kabinett am 25.3.2020 erlassen wurde,[7] ist im Gesetzbuch für Zivilschutz geregelt. Die Abgrenzung zum „Ausnahmezustand“, der durch ein eigenes Gesetz vom 16.3.2000 definiert wurde,[8] besteht vor allem darin, dass die Einschränkung der Bürgerrechte weniger gravierend ist und die Kompetenzen der Behörden und vor allem des Militärs nicht ausgeweitet werden. Den Ausnahmezustand verhängt der Präsident per Dekret. Er muss vom Parlament bestätigt werden, ist auf 30 Tage begrenzt und kann nur einmal verlängert werden. Er ist also auf 60 Tage befristet. Die Ausnahmesituation kann dagegen vom Kabinett oder sogar in einem spezifischen Gebiet von der dortigen Verwaltung eingeführt werden. Ausnahmesituationen liegen in der Regel eine Naturkatastrophe, eine Havarie oder eine Epidemie zugrunde. Der Ausnahmezustand kann auch bei besonders gravierenden Naturkatastrophen und technischen Katastrophen verhängt werden, außerdem bei der Bedrohung der verfassungsrechtlichen Ordnung durch Umsturzversuche.

Gesundheitssystem: Institutionen, Ressourcen, Kommunikation

Durch die restriktiven Maßnahmen hofften die Behörden, zwei Ziele zu erreichen: Zum einen die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen oder gar zu verhindern, zum anderen Zeit zu gewinnen, um das Gesundheitswesen und die staatlichen Krankenhäuser besser vorzubereiten. Doch die Ukraine hat den zeitlichen Vorsprung, den sie gegenüber den besonders betroffenen Staaten wie Italien, Frankreich und Spanien hatte, nicht optimal genutzt. Die bisherige Bilanz im Gesundheitssystem ist durchwachsen. Lange Zeit war es möglich, medizinische Schutzkleidung zu exportieren. Hunderte Tonnen Mundschutzmasken wurden exportiert, die in der Ukraine benötigt worden wären, ehe die Regierung am 11. März die Ausfuhr verbot. Die Ausstattung der Krankenhäuser mit Schutzmitteln konnte kurzfristig nicht entscheidend verbessert werden. In vielen Infektionsabteilungen mussten die Ärzte ohne Schutzkleidung arbeiten. So haben sich 24 Ärzte im Gebiet Ternopil’ mit dem Virus angesteckt.

Selbst für Experten ist es äußerst kompliziert, einen Überblick über die Lage zu gewinnen. Zu Beginn gab es keine Informationen über die Verfügbarkeit der Tests in den Regionen sowie widersprüchliche Angaben über die durchgeführten Tests. Mittlerweile werden die entsprechenden Statistiken regelmäßig veröffentlicht.[9] Kritiker verlangen jedoch deutlich mehr Tests und weisen darauf hin, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen Tests und nachgewiesenen Infektionen vorliegt. In den Gebieten wie Mykolajiv oder Charkiv, wo es angeblich nur wenige Infizierte gibt, wurde wenig getestet. Problematisch bleibt auch die geringe Anzahl der Labore, die Tests durchführen dürfen. Neben den 24 staatlichen Laboren wurden bisher nur zwei private Labore zugelassen.

Mehrere Städte führen nun Schnelltests durch. So ließ die westukrainische Metropole L’viv alle Mitarbeiter der kommunalen Betriebe, darunter der Verkehrsbetriebe, sowie sämtliche Priester (!) testen. Die Regierung hielt lange an ihrem ursprünglichen Ansatz fest, nur bei Symptomen zu testen. Mittlerweile wurde der Ansatz geändert: Nun werden auch alle Personen mit einer Lungenentzündung sowie alle Kontaktpersonen (soweit sie ermittelt werden können) von Patienten mit bestätigter Corona-Infektion getestet. Ein weiterer wunder Punkt ist der tatsächliche Bedarf der Krankenhäuser an medizinischer Ausrüstung und Schutzmitteln. Hier fehlt es wie üblich an Transparenz. Dass sich in den postsowjetischen Staaten die auf dem Papier angegebenen Zahlen vom realen Zustand stark unterscheiden können, beweist ein Beispiel aus einem Kiewer Krankenhaus. Dort waren von 24 verzeichneten Beatmungsgeräten nur zwei einsatzbereit.[10] Nach Angaben der NGO StateWatch verfügen Krankenhäuser in den Regionen nur über ein bis sieben Prozent der erforderlichen Schutzkleidung. Und die Behörden vor Ort verheimlichen die tatsächliche Situation.[11]

Die politische Komponente: symptomatische Verschiebungen

Die Ukraine, die nominell über ein gemischtes parlamentarisch-präsidentielles politisches System verfügt, ist seit Jahren durch eine starke Stellung des Präsidenten gekennzeichnet. Die Präsidialverwaltung hat sich zu einem mächtigen Machtzentrum entwickelt. Durch die klaren Siege von Volodymyr Zelens’kyj bei den Präsidentschaftswahlen im April 2019 und seiner Retortenpartei Sluha Narodu (Diener des Volkes) bei den vorgezogenen Parlamentswahlen drei Monate später hat das Amt des Präsidenten nochmals an Gewicht gewonnen. Der Einfluss des Präsidenten auf die Regierung und die Fraktion „Diener des Volkes“ in der Verchovna Rada geht weit über die eigentlichen von der Verfassung geregelten Kompetenzen hinaus. Obwohl laut Verfassung das Parlament über die Ernennung und die Zusammensetzung der Regierung bestimmt und der Präsident nur den Außenminister und den Verteidigungsminister vorschlägt, wurde die Entlassung der Regierung Hončaruk und die Ernennung des neuen Kabinetts im Präsidialbüro besiegelt. In der aktuellen Krise ist eine weitere Konzentration der Macht auf die Exekutive zu beobachten. Bereits am 16. März rief Zelens’kyj den Koordinationsrat zur Bekämpfung des Corona-Virus ins Leben. Dem Gremium unter Vorsitz des Präsidenten gehören der Leiter des Präsidialbüros und sein Stellvertreter, der Ministerpräsident, die Minister für Inneres, Äußeres, Gesundheit, Verteidigung, Infrastruktur sowie für Soziales, der Chefepidemiologe,[12] der Generalstabschef, der Leiter des Grenzschutzes und der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates an. Bemerkenswert ist zweierlei. Erstens gehören fast alle der Genannten bereits dem Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat an und zweitens ist weder der Parlamentspräsident noch ein anderer gewählter Abgeordneter in diesem Koordinationsrat vertreten.

Diese Konzentration der Kompetenz bedeutet vor allem, dass Zelens’kyj beschlossen hat, Stärke zu demonstrieren. Sie bedeutet eine Machtzunahme beim Präsidenten, aber auch eine höhere Verantwortung. Einen anderen Ausweg hatte er wohl kaum. Zwar ist seine Popularität in den letzten Monaten zurückgegangen, aber bis heute ist er der einzige beliebte Politiker. Per Videobotschaft wendet er sich täglich an die Bevölkerung, um ihr die aktuellen Schritte der Exekutive zu erklären.

Mitte März 2020 lud Zelens’kyj die mächtigsten ukrainischen Oligarchen zu einem Gespräch ein und bat sie um Hilfe bei der Bekämpfung der Corona-Krise. Dabei wurde den Oligarchen die „Schirmherrschaft“ über ein bzw. mehrere Gebiete zugewiesen.[13] Dieser Schritt ist ziemlich riskant. Denn er könnte als Zeichen der Schwäche oder der Dysfunktionalität der staatlichen Institutionen interpretiert werden. Man kann nur spekulieren, ob der Präsident die Lage bereits zu diesem frühen Zeitpunkt für so gefährlich hielt, dass er Wirtschaftskreise einbinden wollte. Er erhoffte sich wohl von den Oligarchen nicht nur finanzielle, sondern auch logistische Unterstützung in den Regionen. Auf jeden Fall dürfte er sich darüber im Klaren sein, dass das inoffizielle Delegieren der Funktionen an die Vertreter der mächtigen Wirtschaftsgruppen und ihre „Schirmherrschaft“ über einzelne Regionen die Macht der Oligarchen in der Ukraine zementieren und den Einfluss des Staates schwächen könnte. Dies könnte Konflikte mit regionalen Eliten provozieren, zu neuen Machtkämpfen führen und die Position der Gouverneure als Vertreter des Präsidenten unterminieren. Aus dem Gebiet Charkiv war vom Aufflammen derartiger Machtkonflikte bereits zu hören.

In der zweiten Märzhälfte wurde ein weiteres Problem für Zelens’kyj sichtbar. In der Parlamentsfraktion der „Diener des Volkes“ wurden erstmals scharfe Zerwürfnisse deutlich. Der erste folgenschwere Konflikt in der Fraktion zeigte sich, als der Leiter des Präsidialbüros Andrij Ėrmak, am 11. März 2020 in Minsk ein Protokoll unterzeichnete, das einen direkten Dialog in einem Beratungsgremium mit Vertretern der selbsternannten „Republiken“ Donec’k und Luhans’k (DNR/LNR) ermöglichen sollte. Etwa 60 Abgeordnete der Fraktion erklärten öffentlich ihren Protest. Es zeigt sich, dass der einst monolithische Charakter der Fraktion bröckelt. Die Abstimmung über die neue Regierung Anfang März verlief noch relativ reibungslos. Aber bei späteren Abstimmungen konnte die Fraktion nicht die notwendige Mehrheit zusammenbringen und war auf Stimmen der Opposition und fraktionsloser Abgeordneter angewiesen. Die Ernennung des neuen Gesundheitsministers (des dritten innerhalb eines Monats) und des neuen Finanzministers am 30. März 2020 erfolgte erst im zweiten Wahlgang unter anderem dank der Unterstützung der prorussischen Opozycijna platforma – Za žyttja (Oppositionsplattform – Für das Leben), einigen Abgeordnetengruppen und Fraktionslosen. Bei zwei Gesetzen, die für die Gewährung eines IWF-Kredits an die Ukraine von zentraler Bedeutung sind, half sogar die proeuropäische Opposition mit ihren Stimmen, die Europäische Solidarität und Holos.

Beim ersten Gesetz handelt es sich um das Bodengesetz. Dieses sollte den Verkauf von landwirtschaftlichen Flächen an private Eigentümer ermöglichen. Zunächst war es in einer liberalen Version geplant. Dagegen erhob sich in der Gesellschaft und im Parlament starker Protest. Politische Kräfte wie Julija Tymošenkos Partei Bat’kivščyna (Vaterlandspartei) oder die Oppositionsplattform lehnten die Privatisierung von Agrarböden komplett ab, andere wandten sich gegen die mögliche Konzentration von Böden in der Hand weniger Großkonzerne. Am Ende wurde ein Kompromiss verabschiedet. Zum einen ist die Privatisierung auf Mitte 2021 verschoben. Zum anderen wird der Kauf von landwirtschaftlichem Boden bis Ende 2023 nur für natürliche Personen erlaubt und auf 100 Hektar begrenzt. Erst ab 2024 dürfen auch juristische Personen Agrarflächen bis zu 10 000 Hektar erwerben. In die Endfassung flossen zahlreiche Änderungsanträge der Opposition ein, die vorher abgelehnt worden waren. Offenbar erfüllt das Gesetz dennoch seine Funktion: Der IWF akzeptiert das Gesetz als Voraussetzung für die Kreditgewährung und zeigt damit Verständnis, dass dieses Thema in der Ukraine innenpolitisch Sprengstoff birgt.

Die Auseinandersetzungen um das zweite Gesetz sind noch verbissener und die potentiellen Gefahren noch höher. Dieses Gesetz soll Ansprüche ehemaliger Eigentümer auf die in der Krise von 2014–2016 verstaatlichten Banken abwehren. Im Kern geht es um die im Dezember 2016 verstaatlichte PrivatBank. Im politischen Slang wird das Gesetz nach dem Namen eines der Ex-Besitzer auch als „Anti-Kolomojs’kyj-Gesetz“ bezeichnet. Ihor Kolomojs’kyj, der Zelens’kyj im Wahlkampf massiv unterstützt hatte und Einfluss auf einen Teil der Fraktion Diener des Volkes sowie andere Gruppen im Parlament behält, will nun entweder die Bank zurückerhalten oder anderweitig für deren Verstaatlichung entschädigt werden. Der IWF dagegen verlangt eine Garantie, dass genau dies nicht passiert. Nach monatelangem Tauziehen wurde das Gesetz am 30. März in der ersten Lesung verabschiedet, das eine Rückgabe von verstaatlichten oder liquidierten Banken an ehemalige Eigentümer verbietet. Für die zweite Lesung wurden über 16 000 (sic!) Änderungsvorschläge eingereicht – ein in der parlamentarischen Praxis der Ukraine bekanntes Verfahren, um die Annahme eines Gesetzes zu verzögern oder gar zu verhindern.

Ohne neue IWF-Kredite droht dem Land, das im Jahr 2021 noch rund 3,8 Milliarden US-Dollar zu tilgen hat, unweigerlich der Staatsbankrott und die Einstellung der Schuldenzahlungen. Medien, die allgemein als Kolomojs’kyj-nah gelten, lancierten bereits die Stimmen von Befürwortern eines solchen Szenarios. Offenbar spekuliert Kolomojs’kyj in seinem Kampf um die PrivatBank mit der Möglichkeit eines Staatsbankrotts. Es scheint, dass die einflussreichen Wirtschaftsgruppen und andere ukrainische Oligarchen ein derartiges Szenario nicht befürworten. Auch Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftsverbände haben sich deutlich gegen den Staatsbankrott ausgesprochen, der die ukrainische Wirtschaft endgültig „begraben“ würde. Die Regierung scheint im Moment auch auf die Zusammenarbeit mit dem IWF zu bauen. Doch wie das Spiel ausgeht, bleibt offen.

Die wirtschaftlichen Aspekte: kein Puffer beim Staat und den Menschen

Vor diesem prekären wirtschaftlichen Hintergrund hat die ukrainische Regierung zwei Hilfspakete zur Abfederung der Folgen von Corona geschnürt, die jedoch eher kosmetischer Natur sind. Das erste bietet minimale Steuererleichterungen für Kleinunternehmen und Freiberufler: So werden sie für März und April von der Zahlung des pauschalen Sozialbeitrags und der Grund- und Immobiliensteuer befreit und Kreditraten und Steuerschuld werden gestundet.[14] Das zweite sieht die Zahlung von Kurzarbeitsgeld und die Möglichkeit einer Aussetzung der Miete vor und verbietet die Erhöhung der Zinssätze für aufgenommene Kredite.[15] Ansonsten zielt das zweite Paket darauf, die Bekämpfung der Corona-Epidemie zu erleichtern: für die Zeit der Epidemie werden die Gehälter der Ärzte und des medizinischen Personals, die mit Infizierten arbeiten, um bis zu 300 Prozent erhöht. Und für medizinische Ausrüstung sowie importierte Medikamente zur Behandlung von Corona wird auf die Mehrwertsteuer verzichtet.

Diese Maßnahmen stießen auf scharfe Kritik von Lokalpolitikern, da sie vor allem Steuerausfälle für die kommunalen Haushalte bedeuten. Der Kiewer Oberbürgermeister Vitalij Klyčko bezeichnete sie als „Raub an den Kommunen“ und bezifferte die Ausfälle für Kiew auf 1,6 Milliarden Hryvnja (ca. 55 Millionen Euro), für alle kommunalen Haushalte auf 12,4 Milliarden (425 Millionen Euro).[16]

Die Prognosen für die wirtschaftlichen Folgen von Corona in der Ukraine sind uneinheitlich. Die Investmentgesellschaft Dragon Capital geht in ihrem Basisszenario von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2020 von vier Prozent aus. Sollten die Einschränkungen des öffentlichen und des wirtschaftlichen Lebens bis Juni oder Juli verlängert werden, könnte das BIP um neun Prozent fallen. Weil der Staat über keine entsprechenden Ressourcen verfüge, können die Unternehmer mit keinen Steuererleichterungen oder direkter Unterstützung rechnen.[17] Der IWF prognostiziert einen Rückgang von 7,7 Prozent, die ukrainische Regierung rechnet mit einem Minus von 4,8 Prozent.[18] Viele Experten warnen, dass die ukrainische Wirtschaft einen langen Shutdown gar nicht überleben werde. Umfragen zeigen, dass die absolute Mehrheit der Ukrainer und der ukrainischen Unternehmer Ersparnisse und Liquidität für maximal einen Monat haben. Es ist nicht zuletzt dem Einfluss der großen Wirtschaftsgruppen zu verdanken, dass es bislang in der Ukraine nicht zu einem kompletten Shutdown der Wirtschaft und der Ausrufung des Ausnahmezustands gekommen ist.[19]

Darüber, wie viele Menschen bislang ihre Arbeit verloren haben, gibt es widersprüchliche Angaben. Sie bewegen sich zwischen 150 000 und einer Million. Auch die Einschätzungen über die inoffiziell Beschäftigten, die keinen Schutz genießen, gehen weit auseinander. Die ukrainische IHK (Torhovo-promyslova palata Ukrajiny) geht von etwa 3,5 Millionen Menschen aus, es kursieren aber auch deutlich höhere Zahlen.[20] Es ist eine extrem schwierige Situation mit unvorhersehbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen, in der die Regierung nicht über viele Optionen verfügt. Für eine Exit-Strategie gibt es im Moment keine Überlegungen, und es scheint, dass die Quarantäne bis in den Mai verlängert wird. Danach könnten eventuell die kleinen Geschäfte öffnen. Eine Beschleunigung der Epidemie könnte auch das zu Makulatur machen.

Politische Diskussion: ein schwieriges Terrain

Die politische Diskussion über die Corona-Krise ist schwach. Das Parlament tagt derzeit im Krisenmodus, so dass die langen Grundsatzdebatten während der Sitzungen ausfallen. Die Talk-Shows als das beliebteste Format politischer Debatten haben ihre Schärfe verloren, weil die Studiodiskussion in den semivirtuellen Bereich von Skype-Schalten verlegt wurde. In Zeiten großer Verunsicherung ist eine an der Verteidigung der Grundfreiheiten orientierte Kritik an der Einschränkung individueller Freiheiten politisch kaum möglich. Aber auch der Ruf nach schärferen Maßnahmen ist kaum vorstellbar, wenn das öffentliche Leben praktisch zum Stillstand gekommen ist.

Nach den Einschränkungen vom 2. April haben sich Bürgerrechtler und Politiker mit deutlicher Kritik zu Wort gemeldet. So betonte die Charkiver Menschenrechtsgruppe, dass die Rechte älterer Menschen nicht eingeschränkt werden dürften und dass die Ausweispflicht nichts mit der Bekämpfung der Epidemie zu tun habe. Und Holos bemängelte die Schließung von Parks. Besonders scharf wird die App zur Überwachung der Personen, die einer Selbstisolation unterliegen, kritisiert. Dem gesamten Überwachungskonzept um die App, die nach dem Ministerium für Digitales bei der isolierten Person installiert werden muss (sic!), werden totalitäre Züge attestiert. Bisher ist die App jedoch weder bei GooglePlay noch bei AppStore aufgetaucht.

Manuskript abgeschlossen am 17.4.2020

 


[1]   Skalec’ka ließ im Unklaren, wessen Idee das war. Präsident Zelens’kyj räumte später ein, dass es seine Idee gewesen sei. <www.theguardian.com/world/2020/mar/07/ volodymyr-zelenskiy-tv-comic-who-became-ukraine-president-trump-putin>.

[2]   <www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-ukraine/ukraine-reports-first-coronavirus-case-health-official-idUSKBN20Q0ZH>; dies war auch der erste Fall eines genesenen Patienten <www.bbc.com/ukrainian/features-51991381>.

[3]   In der Chronik der Einschränkungen (Tabelle 1) wird die epidemiologische Lage am Tag der jeweiligen Entscheidung berücksichtigt. Es ist wichtig, dies ebenso in Erinnerung zu behalten wie die Tatsache, dass bei allen Einschränkungen des Verkehrs der Güterverkehr weitgehend ungehindert fließt. Eine Übersicht über die Entwicklung und regionale Verbreitung der Corona-Epidemie in der Ukraine bieten: <www.pravda.com.ua/cdn/covid-19/cpa/> und der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat (Rada nacional’noji bezpeky i oborony Ukrajiny; RNBO). Dessen Website ermöglicht es, die Entwicklung auf regionaler Ebene zu verfolgen: <https://covid19.rnbo.gov.ua />.

[4]   Siehe dazu den Beitrag von Astrid Sahm in diesem Heft, S. 99–111.

[5]   Das Kiewer Höhlenkloster, das sich zu einem Hotspot entwickelt hat, wurde mittlerweile von den Behörden für die Zeit der Quarantäne geschlossen.

[6]   <https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/1645-14/print>.

[7]   <https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/338-2020-%D1%80/print>, befristet bis 24.4.

[8]   <https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/1550-14/print>.

[9]   Die aktuellen offiziellen Zahlen gibt es hier: <https://covid19.gov.ua/>. Gezählt werden die sogenannten PCR-Tests (Polymerase Chain Reaction), ein Standardverfahren für die Testung von Covid-19; die weniger genauen Schnelltests werden weder in der Statistik der Tests noch bei positivem Ergebnis bei den Fallzahlen mitgezählt.

[10] <www.facebook.com/mbakhmatov/posts/3128754690482728?_fb_noscript=1>.

[11] <https://statewatch.org.ua/publications/rezul-taty-monitorynhu-pro-hotovnist-likaren-ukrainy-do-shpytalizatsii-khvorykh-na-covid-19/>.

[12] Das Amt für Epidemiologie war 2017 geschlossen worden, nun wurde der Posten im Februar wieder eingeführt, die Behörde jedoch nicht wiederbelebt.

[13] <www.pravda.com.ua/articles/2020/03/23/7244662/>.

[14] <https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/533-20/print>.

[15] <https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/540-20/print>.

[16] <https://nv.ua/ukr/biz/economics/klichko-ta-koronavirus-mer-kiyeva-nazvav-grabunkom-antikrizoviy-zakon-novini-ukrajini-50079110.html>.

[17] <https://minfin.com.ua/ua/2020/03/21/42214642/>.

[18] <www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2020/04/14/weo-april-2020>; <https://minfin.com.ua/ua/2020/03/31/42758217/>.

[19] Für die Einführung des Ausnahmezustands hatten im März Innenminister Arsen Avakov und der damalige Gesundheitsminister Illja Ėmec’ plädiert.

[20] <https://ua.news/ua/iz-za-karantina-sotni-tysyach-ukraintsev-poteryali-rabotu>.

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