Titelbild Osteuropa Edition Osteuropa 2/2017

Aus Edition Osteuropa 2

Stellungnahme Lev Gudkovs zur Diffamierung des Levada-Zentrums als "ausländischer Agent"

(Edition Osteuropa 2, S. 285–288)

Volltext

Das russische Justizministerium hat im Zeitraum vom 12.–31. August 2016 eine außerplanmäßige Überprüfung des Levada-Zentrums durchgeführt, bei der dessen Tätigkeiten seit der letzten Überprüfung im Februar 2014 dokumentiert werden sollte. Daraufhin hat das Ministerium, ohne dem Zentrum die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit zum Einspruch zu geben, bereits am 5. September erklärt, dass das Levada-Zentrum in das Verzeichnis der Organisationen aufgenommen wird, welche die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen. Damit ist die verleumderische Kampagne gegen unser Zentrum in formalrechtliche Form gegossen. Die Überprüfung wurde eingeleitet, nachdem der Abgeordnete des Föderationsrats Dmitrij Sablin, der zur Führung der Organisation „Antimajdan“ gehört und im Zentrum zahlreicher Korruptions-, Plagiats- und Betrugsskandale stand, sich mehrfach an das Justizministerium gewandt hatte. Doch diese zweifelhafte Persönlichkeit ist lediglich das Sprachrohr für die politischen und wirtschaftlichen Interessen von Gruppen, die unter der Flagge des Patriotismus wegen einer angeblichen Gefahr für die nationale Sicherheit wirken und eine Umverteilung staatlicher Ressourcen fordern.

Die neue Situation legt unser Institut faktisch lahm. Nicht nur werden Finanzierungsquellen abgeschnitten. Das Stigma des „ausländischen Agenten“, das in Russland einzig und allein die Bedeutungen Spion und Saboteur trägt, macht unsere Umfrageforschung unmöglich. Die aus sowjetischer Zeit verbliebene Angst lähmt die Menschen, vor allem jene im öffentlichen Dienst – in Schulen und Universitäten, im Gesundheitssystem und in der Verwaltung. In einigen Regionen Russlands scheinen manche Angestellte des öffentlichen Diensts die Anweisung erhalten zu haben, den Kontakt zu „ausländischen Agenten“ zu meiden.

Wir werden das Ergebnis der Überprüfung anfechten und dazu den Rechtsweg beschreiten.

Viele Medien behaupten, das Justizministerium habe „aufgedeckt“, dass das Levada-Zentrum auch aus dem Ausland Mittel erhält. Dies hat das Zentrum jedoch nie verborgen. Es geht aus den Finanzberichten hervor, die regelmäßig den entsprechenden Kontroll- und Steuerbehörden überstellt wurden. Dies bestätigt auch der jetzige Prüfungsbescheid. [. . .]

Dies ist nicht die erste feindselige Kampagne, mit der unser Institut zerstört oder zumindest diskreditiert werden soll, das seit 1988 unabhängige soziologische Forschung betreibt. Die Versuche aus den Jahren 2002 und 2003, das damalige Meinungsforschungszentrum VCIOM unter Leitung von Jurij Levada unter staatliche Kontrolle zu bringen, führte zur Gründung des unabhängigen „Levada-Zentrums“.

Objektive, wissenschaftlich untermauerte Informationen über den Zustand der russischen Gesellschaft ruft vor allem in Krisen- und Umbruchsituationen heftige Reaktionen bei jenen Politikern, Staatsdienern und Ideologen hervor, deren Erwartungen und Interessen die soziologische Diagnose zuwiderläuft. Dies gilt sowohl für machtnahe Politiker und Beamte als auch für Oppositionelle. Aber im Unterschied zu letzteren hat die Staatsmacht alle Instrumente, um jene zu diskreditieren und mit juristischen Mitteln zu zerstören, die nicht gefügig sind.

Das Ziel der Zerschlagung sämtlicher unabhängiger zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Organisationen hatte das „Russische Institut für Strategische Studien“ im Jahr 2014 offen formuliert. In einem Bericht mit dem Titel „Methoden und Technologien der Tätigkeit ausländischer und russischer Forschungszentren und Forschungseinrichtungen an Hochschulen, die eine Finanzierung aus dem Ausland erhalten“ vom Februar 2014 werden eine Reihe staatlicher und nichtstaatlicher Institute genannt, die „mit ausländischen Mitteln in Russland einer ideologischen und propagandistischen Tätigkeit nachgehen“. Neben dem Verband der Politikwissenschaftler, dem Verband der Wissenschaftler im Bereich Internationale Beziehungen (RAMI), dem Zentrum für politische Studien (PIR-Zentrum), dem Institut für Soziologie der Akademie der Wissenschaften, der Russischen Wirtschaftsschule (RĖŠ) und einer Reihe anderer Einrichtungen war auch das Levada-Zentrum auf dieser Liste. In dem Bericht heißt es, das Levada-Zentrum nehme „Einfluss auf die politischen Prozesse und die öffentliche Meinung durch 1) Manipulation von Wortbedeutungen bei Meinungsumfragen; 2) Herauf- oder Herabsetzen der benötigten Zahlen aus den Umfragen; 3) Vertreten nützlicher Positionen bei Konferenzen, Runden Tischen und Seminaren; 4) rege Tätigkeit im Informationsraum . . .“ Es sei als Einrichtung „zur Sammlung und Analyse soziologischer Informationen ein wichtiges Instrument zur Manipulation der öffentlichen Meinung und zur informationellen Beeinflussung des Staatsapparats und der politischen Institutionen.“ Das Levada-Zentrum habe dem US-State Department „eine Liste mit regionalen Oppositionsgruppen übergeben, die alle notwendigen Informationen enthält, um ‚Protestpotential‘ anzuwerben“.

Nur auf den ersten Blick handelt es sich bei diesen Unterstellungen um Phantastereien isolierter Figuren oder paranoide Vorstellungen pensionierter Tschekisten. Tatsächlich stehen hinter dieser neuen Welle der Spionomanie, in der die übelsten Formen totalitärer Praktiken reproduziert werden, zynische Interessen. Es geht um Macht, Eigentum und ideologische Kontrolle.

Inakzeptabel ist selbstverständlich bereits die Vorannahme, dass die Zusammenarbeit russischer Wissenschaftler und Aktivisten der Zivilgesellschaft mit ausländischen Wissenschaftlern und NGOs unpatriotisch und antirussisch sei.

Bereits in den Jahren 2013 und 2014 haben Gesamt- und Einzelprüfungen im Levada-Zentrum festgestellt, dass einige Projekte aus dem Ausland finanziert werden. Das Zentrum durfte daraufhin keine Unterstützung mehr für Umfragen von ausländischen Stiftungen in Form von direkten Zuschüssen annehmen, konnte aber weiter gemeinsam mit ausländischen Partnern (Universitäten, Stiftungen, etc.) an Projekten teilnehmen und auf der Basis von kommerziellen Verträgen Aufträge für Umfragen zu gesellschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Themen sowie zur Marktforschung annehmen. Die erneute Änderung des NGO-Gesetzes im Jahr 2016 sowie eine Reihe neuer Gesetze und Verordnungen eröffnen den Behörden endgültig die Möglichkeit zur völligen Willkür, denn die Begriffe „politische Tätigkeit“ und „Finanzierung aus dem Ausland“ bleiben bewusst unbestimmt, so dass repressive Maßnahmen selektiv gegen jeden angewendet werden können, der irgendwelchen der Staatsmacht nahestehenden Gruppen unerwünscht erscheint. Unter Finanzierung aus dem Ausland wird mittlerweile selbst die Annahme von Mitteln für Zwecke der Wissenschaft, der Bildung und der Wohltätigkeit verstanden, wenn es sich um russische Stiftungen handelt, die im Ausland registriert sind. Als kriminell wird auch die Annahme von Mitteln aus dem Ausland angesehen, die im Rahmien rein kommerzieller Aufträge gezahlt werden.

Dieses Vorgehen des Justizministeriums und anderer Behörden führt dazu, dass Kontakte russischer Wissenschaftler mit Kollegen aus anderen Ländern stark zurückgehen oder ganz abbrechen. Die für Russland so wichtige Aneignung von Methoden, Theorien, Konzepten sowie informellen Normen und Regeln wissenschaftlichen Arbeitens wird eingestellt. Dies betrifft nicht nur die Soziologie, die finanziell aufwendigste Disziplin im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften. Nach der Soziologie sind wie in den Stalin-Jahren die Geschichtswissenschaft, die Volkswirtschaftslehre, dann auch die Genetik und die Physik an der Reihe. Das Levada-Zentrum ist die 141. Organisation, die in das Verzeichnis der ausländischen Agenten eingetragen wurde. Schon bald werden es hunderte oder tausende mehr sein. Die Folgen werden zwei oder drei Generationen lang zu spüren sein.

Russland war Jahrzehnte von der Entwicklung der modernen Sozialwissenschaften abgeschnitten und war tiefe intellektuelle Provinz. Das Land blieb wissenschaftlich rückständig, degradierte sogar. Die jüngste Entwicklung droht das Land in diese Zeit zurückzuwerfen. Die Isolation führt nicht nur zu einem dauerhaften Verlust von Human- und Sozialkapital. Sie verwandelt Russland in ein Habitat einer verarmten und aggressiven Bevölkerung sowie einer korrumpierten und zügellosen Elite, die sich ganz und gar der Illusion einer nationalen Überlegenheit und Exklusivität hingeben. Ein Land, das nichts über sich wissen will, erwartet eine traurige Zukunft. Die Diskreditierung und Zerstörung der Zivilgesellschaft in Russland ist nicht nur eine Schande für das Land. Viel schlimmer ist, dass sie unausweichlich einen moralischen, intellektuellen und sozialen Niedergang zur Folge hat, einen Zerfall des Staates und der Gesellschaft.

Wir sind stolz auf die Möglichkeit, mit ausländischen Partnern zusammenarbeiten zu können. Das darf kein Anlass sein, uns als ausländische Agenten zu diskreditieren, sondern ist ein Beweis für die hohe Professionalität und Qualität unserer Forschungen, die Objektivität und Validität unserer Informationen und Analysen sowie für die gründliche Interpretation der empirischen Daten. Genau das unterscheidet die Arbeit des Levada-Zentrums von der anderer Institute in Russland, die Umfragen zur öffentlichen Meinung durchführen.

Direktor des Levada-Zentrums

Prof. Dr. Lev Gudkov, 7. September 2016