Titelbild Osteuropa Edition Osteuropa 2/2017

Aus Edition Osteuropa 2

Editorial
Lev Gudkovs Wissenschaft von der Gesellschaft

(Edition Osteuropa 2, S. 3–5)

Volltext

Wer sich seriös mit Russland beschäftigt, kommt am Moskauer Levada-Zentrum nicht vorbei. Medien und Wissenschaftler aus der ganzen Welt berufen sich auf die Meinungsumfragen des Zentrums, nutzen die Studien und Analysen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und bitten sie um Hintergrundgespräche, Interviews oder Kommentare, um die Entwicklungen in Russlands Innen- und Außenpolitik, der Gesellschaft und der Kultur verstehen, einordnen und erklären zu können.

Seit es 1987 unter dem Namen VCIOM gegründet wurde, hat sich das Levada-Zentrum einen erstklassigen Ruf als Ort empirischer Sozialforschung und intellektueller Inspiration erworben. In seiner Arbeit ist es nur der Freiheit der Wissenschaft sowie dem Objektivitäts- und Wahrheitsgebot verpflichtet. Seine Untersuchungen betreibt es auf dem internationalen Stand der Forschung. Der freie Zugang zu den Daten ermöglicht es jedem Interessierten, die gewonnenen Erkenntnisse und Interpretationen auf ihre Gültigkeit zu überprüfen. In einem von Intransparenz geprägten gesellschaftspolitischen Umfeld ist dies mehr als ein wissenschaftliches und methodisches Signal. Darüber hinaus ist das Levada-Zentrum bis heute politisch unabhängig. Unter den Bedingungen des zunehmenden Autoritarismus ist das keineswegs selbstverständlich. Bereits in den Jahren 2002 und 2003 hatte der Kreml versucht, das Zentrum unter seine Kontrolle zu bringen und den damaligen Direktor Jurij Levada gegen einen willfährigen Strohmann auszutauschen. Dieses Ansinnen scheiterte. Buchstäblich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – von der Putzfrau bis zum stellvertretenden Direktor – stellten sich hinter Levada, verließen gemeinsam das VCIOM und gründeten das Levada-Zentrum. 2013 und 2014 unterzog die Staatsanwaltschaft das Levada-Zentrum Überprüfungen, die darauf abzielten, die finanzielle Unterstützung der Forschung durch ausländische Stiftungen oder wissenschaftliche Projektpartner zu unterbinden. 2016 schließlich setzten die Behörden das Zentrum auf die Liste der „ausländischen Agenten“. Die breite Bevölkerung in Russland setzt diesen Begriff bis heute mit „Vaterlandsverräter“ und „Spion“ gleich. Das Motiv ist klar: Das Levada-Zentrum soll diffamiert und seine Arbeit lahmgelegt werden. Doch wieder war dieser Versuch der Einschüchterung vergeblich. Allen Pressionen zum Trotz arbeitet das Levada-Zentrum weiter und bietet mit seinen soziologischen Untersuchungen Russlands Gesellschaft die Chance zur Selbstaufklärung.

Herz und Hirn, Rückgrat und Gesicht des Levada-Zentrums ist der Soziologe Lev Gudkov, der das Institut seit dem Tode von Jurij Levada im November 2006 leitet. Gudkov, 1946 in Moskau geboren, studierte an der Moskauer Staatsuniversität zunächst Journalismus. Dort lernte er den Dozenten Jurij Levada kennen, der sein Interesse an soziologischen Fragen weckte. Im Herbst 1969 wurde ihm wegen „ideologischer Mängel“ die Lehrbefugnis entzogen und er in eine Nischenexistenz gedrängt. Doch Levada setzte seine Seminare fort, an denen Gudkov weiterhin teilnahm. Einige Jahre später wurde Gudkov am Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften mit einer wissenssoziologischen Arbeit über Max Weber promoviert. Nachdem Gudkov 1977 aus dem „Institut für wissenschaftliche Information der Gesellschaftswissenschaften“ (INION) wegen „ideologisch fragwürdiger Tätigkeit“ entlassen worden war, arbeitete er bis 1984 in der Abteilung für Buchkunde und Leseforschung der Lenin-Bibliothek. Dort entwarf Gudkov – gemeinsam mit dem Philologen Boris Dubin (1946–2014), der für die kommenden fast vier Jahrzehnte zu seinem wissenschaftlichen und publizistischen Partner werden sollte – die Grundlagen eines literatursoziologischen Forschungsfelds. An der Seite von Jurij Levada trat Gudkov 1988 in das von Tat’jana Zaslavskaja und Boris Grušin gegründete Gesamtsowjetische Zentrum für Meinungsforschung (VCIOM) ein. In der Abteilung für theoretische Untersuchungen legten sie gemeinsam mit Boris Dubin, Aleksej Levinson und Natalija Zorkaja grundlegende Arbeiten zum russischen Nationalismus, zum Antisemitismus und anderen Formen der Xenophobie, zur Bürokratie, der Intelligencija und zur Elitenforschung vor. Sie leisteten damit einerseits einen fundamentalen Beitrag zur Wiederbegründung der Soziologie als kritische Wissenschaft, die in der Sowjetunion unterdrückt worden war. Durch den Aufbau von empirischem Wissen über die Sowjetgesellschaft sowie die Rezeption und Weiterentwicklung der internationalen sozialwissenschaftlichen Theorie machten sie ihre Arbeit für eine vergleichende internationale Forschung anschlussfähig.

Dreh- und Angelpunkt der Arbeit des Levada-Zentrums ist die Erforschung des „Sowjetmenschen“. Im Kern geht es um die Frage, welche Wirkungen die totalitäre Herrschaft in der Sowjetunion, die ihre charakteristischen Züge in den 1930er bis 1950er Jahren annahm, auf den Menschen hat. Ziel ist es zu ermitteln, welche Vorstellungen und Werte der Homo Sovieticus hat. Seit drei Jahrzehnten werden regelmäßig empirische Erhebungen durchgeführt. Sie zeigen, dass der repressive Staat die Mentalität der Menschen so stark geformt hat, dass sich der anthropologische Typus des „Sowjetmenschen“ mit seinen besonderen Werthaltungen auch nach der Auflösung der Sowjetunion erhalten hat und sich sogar reproduziert. Er ist gleichzeitig Produkt und Produzent des wiederentstandenen autoritären Staates.

Doch die Studien zum „Sowjetmenschen“ sind nicht nur zum Verständnis der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft besonders wertvoll. Gudkov ist es gelungen, verbreitete Haltungen in der Gesellschaft herauszudestillieren und spezifische Machtressourcen jeder autoritären Herrschaft zu identifizieren. Es sind dies Anpassung, Angst, Doppeldenken und Double speak, Freund-Feind-Denken, negative Identifikation, negative Mobilisierung sowie Zynismus. Die Studien zum Homo Sovieticus helfen somit, die individuellen und gesellschaftlichen Grundlagen regressiver und autoritär repressiver Entwicklungen auf der ganzen Welt zu analysieren und zu erklären. Das ist eine der großen intellektuellen Leistungen von Lev Gudkov, wovon die ausgewählten Arbeiten im vorliegenden Band zeugen.

Lev Gudkov ist aber nicht nur ein bedeutender Soziologe und Aufklärer. Als Leiter eines der renommiertesten Meinungsforschungsinstitute Europas ist er – mitunter contre cœur – auch ein Wissenschaftsorganisator. Gudkov tritt als ein kompromissloser Verteidiger der bürgerlichen Freiheiten sowie der Freiheit der Wissenschaft auf. Es genügt, seine ebenfalls in diesem Band dokumentierte Stellungnahme zur Diffamierung des Levada-Zentrums als „ausländischer Agent“ zu lesen: Anpassung, Angst, Doppeldenken oder Selbstzensur sind für Lev Gudkov undenkbar. Stattdessen sieht er die Aufgabe eines Soziologen darin, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten und bei der Gegenwartsdiagnostik nichts als die Wahrheit zu sagen, so unbequem sie auch sein mag. Persönliche Überzeugung und wissenschaftliche Praxis sind für ihn zwei Seiten einer Medaille.