Titelbild Osteuropa 11-12/2017

Aus Osteuropa 11-12/2017

„Sag die Wahrheit und habe vor nichts Angst“
Ein Gespräch mit dem aus der Untersuchungshaft entlassenen Leiter von Memorial, Karelien

Jurij Dmitriev

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Abstract

Am 27. Januar 2018 wurde der Historiker Jurij Dmitriev aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Anklage lautet „Anfertigung pornographischer Bilder der minderjährigen Tochter“ und „Kindesmissbrauch“. Beobachter vermuten, dass er wegen seiner Arbeit für die Opfer der politischen Repression verfolgt wird. Er identifiziert die Ermordeten, die in Massengräbern am Weißmeer-Ostsee-Kanal verscharrt wurden. In der Haft wurde Dmitriev respektvoll behandelt. Sein Credo lautet, wenn wir wissen, wer unsere Vorfahren waren und was sie damals für das Land getan haben, dann hilft dies, jede Herrschaft kritisch zu sehen.

(Osteuropa 11-12/2017, S. 147–151)

Volltext

Am 27. Januar 2018 um sieben Uhr morgens wurde der Historiker Jurij Dmitriev aus dem Untersuchungsgefängnis in Petrozavodsk entlassen. Seine Verwandten hatten eine Entlassung am Sonntag, den 28., erwartet, wie es das zuständige Gericht einen Monat zuvor angeordnet hatte. Doch die Leitung des Untersuchungsgefängnisses wollte offensichtlich einen Auflauf von Journalisten und Freunden Dmitrievs an den Toren der Anstalt verhindern und gewährte dem Historiker eine vorzeitige Entlassung mit der Auflage, die Stadt nicht zu verlassen.

Zur Erinnerung: Die Anklage gegen Jurij Dmitriev lautet: „Anfertigung pornographischer Bilder der minderjährigen Adoptivtochter“ und „Kindesmissbrauch“. Rückübersetzt in das tatsächliche Geschehen: Dmitriev hatte einige Jahre lang regelmäßig Aufnahmen von dem gesundheitlich angeschlagenen Mädchen gemacht, um ihre körperliche Entwicklung zu dokumentieren. Die Aufnahmen hatte er auf seinem Computer gespeichert, niemandem gezeigt und an niemanden verschickt. Auf unbekanntem Weg erfuhr die Polizei von diesen Aufnahmen. Das Gutachten, das auf Anordnung des Unter­suchungsrichters erstellt wurde, befand, dass neun der gut 200 Aufnahmen pornographischer Natur seien.

Dmitrievs Mitstreiter sind davon überzeugt, dass er wegen seiner langjährigen Arbeit für das Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen verfolgt wird. Der Historiker entdeckte das Massengrab Sandarmoch, einen Ort, an dem während des Großen Terrors mehr als 9000 Menschen ermordet worden waren, sowie weitere Massengräber am Weißmeer-Ostsee-Kanal, in der Umgebung von Petrozavodsk und auf den Soloveckij-Inseln. Dutzende weit über Russland hinaus bekannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst haben sich für ihn eingesetzt.

Während des Verfahrens setzte sein Anwalt Viktor Anufriev durch, dass ein zweites Gutachten zu den Aufnahmen angefertigt wurde. Dieses befand, dass die Fotos keine Merkmale von Pornographie aufweisen. Daraufhin ersann die Staatsanwaltschaft eine weitere Prüfung für Dmitriev. Sie wies ihn – mit Zwischenstation im Moskauer Butyrka-Gefängnis – zur psychiatrischen Untersuchung in das Serbskij-Institut ein. Diese Untersuchung endete am 19. Januar. Bevor er zurück nach Petrozavodsk transportiert wurde, verlegte man ihn für einige Tage erneut in das Butyrka-Gefängnis – dieses Mal in eine gewöhnliche Zelle, nicht in das psychiatrische Krankenhaus der Haftanstalt. Offenbar wurden im Zuge der Untersuchung keinerlei Auffälligkeiten bei ihm festgestellt.

Die Novaja Gazeta sprach am Tag der Entlassung mit Dmitriev, der seit dem 15. Dezember 2016 in Untersuchungshaft gesessen hatte. Auf Anraten seines Anwalts äußerte er sich nicht zu dem laufenden Strafverfahren.

                     * * *

NG: Es heißt nun, Sie seien nicht gefährlich …

Jurij Dmitriev: Das hängt davon ab, welche Fragen man stellt. […]

NG: Womit haben Sie sich in der Untersuchungshaft die Zeit vertrieben?

Dmitriev: Am Anfang habe ich mich etwas unwohl gefühlt – wie das so ist, wenn man plötzlich seiner Arbeit nicht mehr nachgehen kann. Aber dann … Ich konnte keinen Einfluss auf die Lage nehmen, also habe ich meine Einstellung zu ihr verändert.

Ich kenne das Schicksal von sehr vielen Leuten, die in den 1930er Jahren in diesem Untersuchungsgefängnis saßen. So habe ich Schritt für Schritt begonnen zu begreifen, was sie empfanden, wenn sie genau diese Wände sahen, über genau diese Korridore gingen, genau diese Metalltüren krachen hörten. Auch sie waren von ihrer Familie, ihren Kindern, ihren Enkeln getrennt worden. Man kann durchaus eine gewisse Parallele ziehen zwischen den Anklagen, die gegen sie erhoben wurden, und der gegen mich. Es war daher nicht schwer, an ihrem Beispiel die Strategie zu wählen, nach der man sich in Untersuchungshaft am besten verhält. Sag die Wahrheit und habe vor nichts Angst. Bleibe unabhängig. Lass dich nicht manipulieren.

Oft erinnerte ich mich an die Worte von Varvara Brusilova[1]: „Ich flehe nicht um Nachsicht und Gnade. Gleich, welches Urteil Sie über mich fällen, ich werde es ruhigen Geistes und mit reinem Gewissen annehmen, denn in meinem Glauben gibt es keinen Tod.“ Genau so. [Meiner älteren Tochter] Katharina und Anatolij Razumov [dem Leiter des Zentrums „Zurückgeholte Namen“] gelang es, mir ein Gebetbuch zu übergeben. Zwei Mal am Tag habe ich gebetet, quasi um seelisch in Form zu bleiben. Zwischen den Gebeten habe ich mich an dieses und jenes, dann an ein Drittes erinnert. Kurzum, mein Kopf war nicht leer. Ich wusste, dass das irgendwann aufhört.

NG: Es heißt, es sei übel im Gefängnis, wenn man wegen einer Sache wie der im Gefängnis sitzt, die Ihnen zur Last gelegt wird. Wie wurde mit Ihnen umgegangen?

Dmitriev: Sehr respektvoll. Wahrscheinlich nicht zuletzt deswegen, weil ich in Karelien durch meine Erinnerungsarbeit ein klein wenig bekannt bin und die hiesigen Clans ihren Leuten gesagt haben: Finger weg. Und dann natürlich auch, weil ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe. Mir ist klar, dass das üble Paragraphen sind. Also habe ich [den anderen Insassen in der Zelle] erklärt: Das sind üble Paragraphen, aber das Verfahren ist getürkt. Ein einziges Mal, in Moskau, haben sie [die Zellengenossen] zehn Minuten diskutiert.

NG: Im Butyrka-Gefängnis?

Dmitriev: Ja. Sie haben über ihre eigenen Kanäle geprüft: Wer ist das, warum ist der hier? Nach zehn Minuten kam von irgendeinem Oberen das Signal: „Bitte sehr, hereinspaziert. Viele, die im Gefängnis sind, wissen genau, wie man betrügt und können sehr gut einen Betrug, eine Unwahrheit, eine Schutzbehauptung erkennen. Besser als jeder Untersuchungsbeamte.

NG: Sie haben viel gesehen. Seit 30 Jahren graben Sie die Überreste von Erschossenen aus. Es ist wahrscheinlich schwer, Sie mit etwas zu überraschen. Dennoch: Worauf waren Sie während des Prozesses nicht vorbereitet?

Dmitriev: Eine solche „Dienstreise“ habe ich schon seit einigen Jahren erwartet. Ich wusste nur nicht, welchen Anlass der Reise man für mich aussuchen würde. Mir war klar, dass sie mir eine Waffe oder Drogen unterschieben können, einen Unfall inszenieren, daher habe ich mich ein wenig in Acht genommen. Aber dass die Sache diese Form annehmen könnte, habe ich nicht gedacht. Na, was soll’s, ich habe mich ja wieder gefangen.

Der Genosse Untersuchungsleiter wollte mir Angst einjagen: „Deine Familie wird sich von dir abwenden, jede Wette?“ Blödsinn, habe ich gesagt: Man muss seine Kinder nur richtig erziehen, damit sie sich nicht von einem abwenden, damit keine Pavlik Morozovs aus ihnen werden.[2]

Aus irgendwelchen Gründen haben sie gedacht, dass man mich unter Druck setzen kann und dass alle ihre Geschichte glauben werden. Aber wie viele mutige Leute mich jetzt unterstützt haben – das hätte ich nicht erwartet. Es ist eine Sache, zu Hause in der Küche zu sitzen und sich Sorgen zu machen. Eine andere ist es, zu einer Verhandlung zu kommen und Briefe mit vollständigen Angaben zum Absender zu verschicken. Das ist schon eine Haltung. Mich hat erstaunt, wie viele solche Leute es gibt.

NG: Was empfinden Sie denen gegenüber, die Sie verhaftet und bewacht haben?

Dmitriev: Einfache Leute. Sie sind träge. Solange man uns keinen Tritt in den Hintern gibt, rühren wir keinen Finger. Also hat irgendwer einen Befehl gegeben. Ich weiß nicht, wer dahinter steckt. Mich würde selbst interessieren, wem ich in die Quere gekommen bin. Aber Wut auf einen Aufseher … Naja, das ist halt ihre Arbeit.

NG: Wie ist die Untersuchung im Serbskij-Institut verlaufen?

Dmitriev: Gespräche mit Spezialisten, psychologische Tests, irgendeine Untersuchung mit Apparaten. Alles in Ordnung, hat sich herausgestellt, ich beiße nicht. Ich habe nicht versucht, wie ein Geistesgestörter zu wirken. Wie soll ich gestört sein, ich habe einen Waffenschein, einen Führerschein. Warum sollte ich mich hinter so einer Maskerade verstecken? Verstecken tut sich der, der sich irgendeiner Schuld bewusst ist.

NG: War der Freiheitsentzug schwer zu ertragen?

Dmitriev: Also ich war ja [auch vor der Verhaftung] fast zwanzig Stunden am Tag an diesen Tisch hier gefesselt. Der Sommer ist bei mir die einzige Jahreszeit, in der ich mal ein bisschen freimache und hierhin und dorthin fahre. Den Rest der Zeit stehe ich morgens um fünf auf, schalte den Computer ein, und nachts um eins schalte ich ihn wieder aus. Das war’s. Es ist wie auf der Jagd: Man muss stillsitzen und warten können. Und versuchen, irgendeinen Nutzen aus seiner Lage zu ziehen. Aus der Butyrka habe ich zum Beispiel zwei selbstgemachte Ikonen mitgebracht. Ich muss nur noch ein Museum finden, dem ich sie übergeben kann.

NG: Und jetzt setzen Sie sich wieder an den Schreibtisch?

Dmitriev: Als ich verhaftet wurde, stand ich einen Monat vor dem Abschluss einer Arbeit, an der ich zehn Jahre gesessen habe. Ein Buch über die Sondersiedlungen in Karelien, über die 126 000 Menschen, die nach Karelien deportiert wurden, um hier den Sozialismus aufzubauen. Ihre Namen müssen dem Vergessen entrissen werden. Sie waren „entkulakisierte“ Bauern. Wobei „entkulakisiert“ ein tückischer Begriff ist, eigentlich dürfte ich sie gar nicht so nennen. In jedem Fall wurden sie hierher deportiert, weil sie Bauern waren. Teils ganze Familien, andere einzeln. Hier haben sie im Wald ihre Sondersiedlungen gebaut und sind haufenweise gestorben. Mir geht es darum, die Namen dieser Leute zurückzubringen. Mindestens 20 Prozent der Leute bei uns in Karelien sind Nachkommen dieser Menschen, aber sie wissen nicht, wo ihr Urgroßvater oder ihre Urgroßmutter herstammten. Jetzt werden sie es sehen und erfahren. Ich schreibe auf, wann diese Menschen hierher gebracht wurden, wer die Entkulakisierung betrieb, in welchen Sondersiedlungen sie lebten, liefere die Koordinaten der Friedhöfe, gebe an, wie man dort hinkommt. Wenn jemand seinen Namen gewechselt hat, halte ich den alten Namen fest. Gott gebe, dass das alles nicht auf dem Computer verlorengeht, der mir weggenommen wurde.

Jeder geht seinen Weg. Der Weg, den ich gewählt habe, ist nicht eben kurz, aber meiner Ansicht nach sehr wichtig. Eine Nation entsteht durch Erziehung. Jeder von uns hat eine Familie. Ich habe für mich so eine Theorie, dass, wenn wir herausfinden, wer unsere Großmütter, Urgroßmütter – so ungefähr bis ins siebte Glied – waren, und was sie zu ihrer Zeit für das Land getan haben, dann hilft uns dieses Wissen, jede Herrschaft kritisch zu sehen. Oder zumindest nicht zu glauben, was am nächsten Zaun hängt oder auf dem nächsten Plakat steht.

Ich versuche, weiße Flecken zu füllen, die die Familiengeschichte der Leute unter­brechen. Wenn jemand das erkennt, wird keine Nachtigall ihm so leicht mehr etwas in die Ohren pfeifen können.

Er wird sagen: „Das kennen wir schon, meinem Urgroßvater wurde auch etwas vorgelogen.“ Das ist der Weg, den ich gewählt habe. Ich gehe schon lange nicht mehr zu Demonstrationen. Ich sitze einfach da und arbeite. Stück für Stück, mit den Dokumenten. Mir ist klar, dass das schwierig ist, aber in meinen Büchern soll kein einziges gelogenes Wort stehen. Jesus hatte auch ein schweres Kreuz auf den Hügel Golgota zu tragen. Das ist also mein persönliches Golgota. […]

Das Gespräch führte Nikita Girin.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

 


[1]   Varvara Brusilova entstammte einer adligen Familie und wandte sich in jungem Alter Anfang der 1920er Jahr gegen die Verfolgung der Kirche, wofür sie in das Gefängnis auf den Soloveckij-Inseln deportiert und 1937 in der Nähe der achten Schleuse des Weißmeer-Ostsee-Kanals erschossen wurde. Redaktionelle Anmerkung der Novaja Gazeta.

[2]   Gemeint ist: Jemand, der seine Eltern verrät. Pavel Morozov wurde in der Sowjetunion in den 1930er Jahren als Heldenpionier Nr. 1 verehrt. Nach offizieller Lesart der Stalin-Zeit hatte er seinen Vater, einen Bauern im Gebiet Sverdlovsk, Anfang der 1930er Jahre im Alter von dreizehn Jahren angezeigt, weil dieser als Vorsitzender des Dorfrats Kulaken gedeckt habe. Daraufhin sei Pavel 1932 von Verwandten des inhaftierten Vaters ermordet worden. An dieser Version bestehen erhebliche Zweifel. Die örtliche Memorial-Gruppe aus Kurgan stellte 1999 einen Antrag auf Rehabilitierung der wegen Mordes an Pavel Morozov zum Tode verurteilten Personen. Russlands Oberster Gerichtshof lehnte allerdings eine Rehabilitierung ab, da diese in einer reinen Strafsache ohne politische Motive zurecht verurteilt worden seien. Bis heute sind viele Straßen in ganz Russland nach Pavel Morozov benannt. – Red.

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