Titelbild Osteuropa 8-10/2016

Aus Osteuropa 8-10/2016

Ein Luftzug zwischen Körper und Seele

Elena Fanajlova

(Osteuropa 8-10/2016, S. 487–488)

Volltext

Wenn ich versuche, mich an die ersten Eindrücke meiner Platonov-Lektüre zu erinnern, fällt mir ein: ein umwerfender Autor, der meine Vorstellungen von der Existenz und der Literatur grundlegend verändert hat. Absolut einzigartig in seinem Werk ist für mich die Langerzählung Der Fluss Potudan, deren Wirkung auf meine junge Psyche ich nur mit der des Fremden oder der Ehebrecherin von Albert Camus vergleichen kann: Die erste Lektüre hat mir jedesmal den Boden unter den Füßen weggezogen. Obwohl die Texte scheinbar nichts mit meiner eigenen Erfahrung zu tun hatten, zeigte mir eine starke Beunruhigung an, dass es darin um etwas ging, das meinen verborgenen, noch nicht voll begriffenen jugendlichen Gemütszuständen verwandt war. Vielleicht um die mangelnde Übereinstimmung zwischen dem Leben des Menschen und seinen Gefühlen, um den sonderbaren Luftzug zwischen Körper und Seele, Psyche und Physis, um die Unmöglichkeit mit sich selbst identisch zu sein im eingefahrenen Lauf des Lebens. Und um die Herausforderung des Menschen durch die Begegnung mit der Welt und mit dem, was die Welt und die anderen in ihm selbst eröffnen. Bei der Lektüre von Der Fluss Potudan behält man bei aller Stofflichkeit und Dichte der Beschreibung immer ein Gefühl des Illusorischen der Welt, eines bebenden Trugbilds, in das die Figuren eingelassen sind, einer aufgeheizten Luft, die ein leichter Wind bewegt. Im Grunde ist das die großartige Schilderung eines Sichverzehrens von Geist und Fleisch, ein Meisterwerk erotischer Literatur von europäischem Rang, das Platonov nach der Baugrube und Tschewengur, dem Juvenilmeer und Dshan schrieb. Beseelung der Materie und Auferweckung von den Toten auf dem Weg der liebenden Bemühung.
Extrem wichtig für mich als Leserin dieses Textes ist seine topographische Anlage, jene Wege, die die Figuren durch die Schluchten und Senken in der Gegend um die Potudan‘ zurücklegen. Der Fluss strukturiert den Raum der Erzählung, darum heißt sie auch nicht „Ljubov‘ und Nikita“, sondern trägt seinen Namen im Titel. Aus unerfüllter Liebe möchte sich Nikita in der Potudan‘ ertränken, und Ljuba versucht es nach seinem Weggehen ebenfalls. An den Flüssen Don und Potudan‘ liegt das Dorf Korotojak im Kreis Ostrogožsk im Gebiet Voronež, wo das Haus meiner Oma steht. Als Kind war ich jeden Schulsommer dort. Das heißt ich erinnere mich ziemlich gut, wie die Ufer und der Lauf der Potudan‘ aussehen, und als ich diese Langerzählung in die Hände bekam, projizierte ich meine persönliche Raum-Geschichte auf die topographisch genaue Beschreibung der Landschaft. Platonov kannte sich in Fragen der Bewässerung hervorragend aus, er arbeitete als Meliorator, bekämpfte die Dürre Anfang der zwanziger Jahre im Gebiet Voronež und setzte die Arbeit 1929 am Fluss Tichaja Sosna fort, das ist ein ganz ähnlicher Nebenfluss des Don, wie die Potudan‘, und ganz nah; das heißt, ich bin sicher, die Erzählung gibt ein extrem genaues, photographisches Bild der Gegend, so als hätte Platonovs Verstand wie Google-Maps gearbeitet, bloß einem komplexeren, mit Echoortung von unterirdischen Wassern und kleinen Tierchen, die sich unter der Erde bewegen und den Menschen im Schlaf ersticken können. Ljuba und Nikita haben wohl kaum in Korotojak gewohnt, das in der Erzählung beschriebene Dorf ist deutlich kleiner, aber ich kann mir die Erde und das Gras und das Wasser vorstellen, die ärmlichen Häuser in diesem Raum und die ärmlichen Möbel, die der Vater von Nikita baut. Ich erinnere mich an den unterschiedlichen Grund aus Sand, weißem Kalk und Schwarzerde, den Nikita, wie ein russischer Recke, in einem halben Tag oder einer halben Nacht durchmessen kann (in Wirklichkeit beträgt die Entfernung von der Mündung der Potudan‘ in den Don bis nach Kantemirovka, wo der Held auf dem Basar plötzlich stumm wird, etwa 150 Kilometer). Doch der Traum eines Besessenen hat eine andere Logik, andere Räume, einen anderen Zeitverlauf. Die Figuren sind hier wichtiger als die Landkarte, ihr Leben und Erleben verändert die Landschaft. Und der Fluss Potudan‘ wird zum Fluss der Zeit, zum metaphysischen Wasser der Lebenden und Toten, dank der Geschichte eines Liebeskummers, der die Beteiligten an diesem kleinen Drama und auch die Landschaft verändert.
Vielleicht habe ich, dank der Kenntnis der Landschaft, bei Platonov gelernt, wie man die Existenz beschreiben kann und muss, genauer, wie das Sein selbst zum Schreiben wird; wahrscheinlich ist diese Manier eine Folge seiner utopischen Weltanschauung, seines religiösen Revolutionsgeists, seiner Wahrnehmung der postrevolutionären Umgestaltung. Er ist absoluter Teil des russischen Projekts der Avantgarde, ein Künstler, der Pavel Filonov nahesteht. Doch sein Utopismus ist stark mit der materiellen Welt verbunden, mehr noch, seine Metaphysik ist nicht zu trennen vom Wasser und Sand des Potudan’, von der Arbeit des Tischlers und Zimmermanns (der Beruf Nikitas und seines Vaters geht auf den Beruf Christi zurück). Und interessant ist, wie mir kürzlich ein Freund, der Philosoph Anton Borkovskij aus L’vov, zu Platonov schrieb: „Platonov und Heidegger waren bestimmt nicht miteinander bekannt, aber es geht ihnen um dasselbe: das Sein ist, wie es ist.“

Aus dem Russischen von Gabriele Leupold, Berlin