Titelbild Osteuropa 8-10/2016

Aus Osteuropa 8-10/2016

Der nachtschwarze Band

Marion Poschmann

(Osteuropa 8-10/2016, S. 510)

Volltext

Im Frühling 1991 hielt ich mich eine Zeitlang in Moskau auf. Ich studierte Slawistik, ich wollte meine Sprachkenntnisse verbessern, und ich hatte die Absicht, russische Schriftsteller kennenzulernen. Da ich niemanden in Moskau wusste, der mir solcherlei Kontakte hätte vermitteln können, ging ich an einem Vormittag kurzerhand zum Gebäude des Schriftstellerverbandes und brachte mein Anliegen vor. Im Nachhinein ist es schwer einzuschätzen, ob dies eher forsch, sehr naiv oder einfach unverfroren war. Jedenfalls gelangte ich in das Büro einer sehr freundlichen älteren Dame, die mir die Adresse ihrer Tochter gab: Dort, in Annas Küche, träfen sich abends die Künstler. So lernte ich Anna Gerassimova kennen, die am Gorki-Literaturinstitut arbeitete, sich um internationale Kontakte bemühte und gerade mit der Wiederentdeckung der Oberiuten befasst war. Anna brachte mir Charms und VVedenskij nahe, sie nahm mich mit auf Lesungen von Prigov und Rubinstein, sie ging mit mir in eine Buchhandlung und empfahl mir Bücher. Von diesen Büchern las ich Erofeevs Kultpoem Moskva – Petuschki, ich las Gumilev und Bulgakov, ich las so vieles, nur die Werke von Platonov las ich aus irgendeinem Grund nicht. Sie stehen bis heute wie neu in meinem Bücherschrank, solide, angenehme Bände mit weichen holzhaltigen Seiten. Der eine, im Bauhausdesign, enthält ein unglaublich schönes Vorsatzpapier mit silbergrauen Streifen, der andere, in schwarzes Kunstleder mit eleganter Goldprägung gebunden, sieht schon von weitem wie ein moderner Klassiker aus. Dieser Band hat damals drei Rubel und fünfzig Kopeken gekostet, das sind nach dem gegenwärtigen Wechselkurs etwa fünf Cent. Beide Ausgaben enthalten Kotlovan, Die Baugrube. Als ich von der Neuübersetzung erfuhr, war ich vollkommen elektrisiert, und das Cover versetzte mich wieder in das Moskau der Umbruchszeit. Nun werde ich mit der Baugrube anfangen und dann, endlich, den nachtschwarzen Band aufschlagen, eines der bestgestalteten Bücher, die ich besitze.