Cover Osteuropa 6-7/2016

In Osteuropa 6-7/2016

Editorial
Destruction of Society


Deutsche Fassung

Abstract

In Russland treibt der autoritäre Staat die Zerstörung der Gesellschaft voran. Fast 150 Vereine, Verbände, Zentren, Bewegungen und Institute im gesamten Land sind mittlerweile von der Verleumdungskampagne betroffen, mit der missliebige Organisationen zum Verstummen gebracht werden sollen. Sie werden mit den Mitteln des Unrechts-Staats vom Justizministerium als „ausländische Agenten“ – sprich: Spione – diffamiert und mit der Verhängung von Geld- und der Androhung von Haftstrafen unter Druck gesetzt, diese Stigmatisierung durch Selbstregistrierung in einem Agentenregister anzuerkennen. Nun hat der repressive Staat mit der Eintragung des Levada-Zentrums sowie von Memorial International ein weiteres Signal gesetzt: Internationale Bekanntheit und Anerkennung schützen nicht mehr. Ziel ist die Verbreitung von Angst. Es ist nicht zwingend, dass die Behörden auf Anweisung des Kreml die Überprüfungen eingeleitet haben, die zum Eintrag in die „Agentenliste“ geführt haben. Das Regime hat jedoch 2012 das Gesetz geschaffen, das als „Rechts“-Grundlage für die Stigmatisierung dient; das Regime hat es 2014 und 2016 verschärft und damit eine Atmosphäre produziert, in der sich jeder angespornt fühlen darf, Agenten zu „identifizieren“. Im Falle des Levada-Zentrums sowie von Memorial muss man aufgrund der russlandweiten und internationalen politischen Bedeutung zu dem Schluss gelangen, dass die politische Führung im Kreml das Vorgehen des Justizministeriums zumindest duldet, eher: wohlwollend duldet. In zahlreichen der übrigen Fälle ist der Zusammenhang zwischen der „großen Politik“ in Moskau und dem Eintrag in die Diffamierungsliste sicher weniger unmittelbar. Vieles spricht dafür, dass das Agentengesetz in einigen Fällen instrumentalisiert wurde, um lokale Konflikte zu lösen. Generell gilt, dass das politische Klima und die rechtliche Lage es Behörden, Abteilungen oder einzelnen Beamten nahelegen, dass sie sich durch eifrige Anwendung des Gesetzes profilieren können. Die Stoßrichtung der Diffamierung ist jedoch in nahezu allen Fällen die gleiche – von Kaliningrad bis Vladivostok, von Groznyj bis nach Archangel’sk. Sie entspricht der antiliberalen, antiwestlichen, antiaufklärerischen Ideologie, die das Regime seit einigen Jahren im-mer massiver fördert und selbst vertritt. Wie das Register zeigt, das wir hier dokumentieren, sind neben Organisationen, die die Menschenrechte verteidigen und einen öf-fentlichen Raum schaffen, vor allem Vereine und Zusammenschlüsse im Visier der Behörden, die sich für die Rechte gesellschaftlicher Gruppen einsetzen: von Frauen, Migranten, nationalen Minderheiten, sexuellen Minderheiten, Rekruten, Opfern staatlicher Willkür. Ziel ist die Atomisierung der Gesellschaft. In den 2000er Jahren hat das Regime die Entscheidungsmacht im Führungszentrum monopolisiert. Seit 2012 dehnt es die Reichweite der staatlichen Entscheidungen für die Gesellschaft und den Einzel-nen systematisch aus. Noch ist die Intensität der Sanktionen nicht unbegrenzt. Dann wäre das dritte Merkmal erfüllt und die Grenze vom autoritären zu einem totalitären System überschritten.

(Osteuropa 6-7/2016, pp. 109–110)