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Aus Osteuropa 1-2/2015

Dokument: Die Gefahr des Putinismus
Offener Brief an die Anhänger Präsident Putins

Boris Nemcov

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(Osteuropa 1-2/2015, S. 147–152)

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Boris Nemcov (1959–2015) wurde am 27.2.2015 in Moskau auf offener Straße erschossen. Nemcov, der von 1991–1997 Gouverneur des Gebietes Nižnij Novgorod und von 1997–1998 stellvertretender Ministerpräsident Russlands gewesen war, kritisierte seit mehr als einem Jahrzehnt die systematische Einschränkung von Demokratie und Freiheit durch das Putin-Regime, die Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit, die schamlose Bereicherung von Putins Entourage. Bei den Protesten gegen das Regime nach den gefälschten Duma-Wahlen im Winter 2011/2012 trat Nemcov als einer der Hauptredner auf, 2013 prangerte er die massive Korruption beim Bau von Sportstätten für die Olympischen Spiele in Soči an. Nemcov, der seit September 2013 Abgeordneter der Gebietsduma von Jaroslavl’ war, kritisierte die Annexion der Krim und forderte den Kreml im September 2014 auf, die russländischen Truppen aus dem Donbass abzuziehen sowie die Unterstützung der irregulären Kämpfer einzustellen.

Die Hintergründe des Mordes an Nemcov sind unbekannt. Wenig spricht dafür, dass er je aufgeklärt werden wird. Fest steht jedoch zweierlei: Das Putin-Regime hat – nicht zuletzt mit dem Agentengesetz, der Stigmatisierung von Oppositionellen als „Nationalverräter“ und massiver Propaganda gegen Feinde aller Art – eine Atmosphäre des Hasses geschaffen, in der jeder glauben darf, mit einem solchen Mord „im Namen des Volkes“ zu handeln und die stillschweigende Billigung des Regimes zu erhalten. Und: Das Regime hat mit dem politischen Missbrauch der Justiz jedes Vertrauen in den Rechtsstaat zerstört und trägt daher auch die Verantwortung dafür, dass die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden von vorneherein unter dem Verdacht steht, nur politisch gewünschte Ergebnisse zu erbringen.

Der offene Brief, den wir hier dokumentieren, erschien am 22.1.2004 in der Nezavisimaja Gazeta. Ko-Autor ist Vladimir Kara-Murza jun. Der Brief ist von den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen geprägt und zeigt, dass Nemcov es verstand, politisch zuzuspitzen. Zugleich handelt es sich um eine Analyse des Putin-Regimes, die in fast allen Punkten bis heute Bestand hat. Sie zeigt: Wer wollte, konnte schon damals den Charakter des Regimes erkennen. – Red. 

Dieser Brief richtet sich an die, denen Freiheit und Demokratie gleichgültig sind. An die, denen die Schließung von Fernsehsendern, die Abhängigkeit der Gerichte und die Erniedrigung des Parlaments nicht allzu viel ausmachen, die der Krieg in Tschetschenien, der wachsende Einfluss der Geheimdienste auf die Gesellschaft und die Verfolgung von Unternehmern und Andersdenkenden wenig kümmert und die mit einer Rückkehr zum Einparteiensystem und zu sowjetischen Symbolen durchaus einverstanden sind.

Wir wenden uns an die Mehrheit der russländischen Gesellschaft. An alle, die den Präsidenten für seine Energie und Nüchternheit lieben und schätzen, für die regelmäßige Auszahlung von Gehältern und Renten, für die Stärkung des Rubelkurses und der Autorität Russlands in der Welt, für seinen entschlossenen Kampf gegen die Oligarchen. Kurz gesagt, dieser Brief richtet sich an alle, die am 14. März für Vladimir Putin stimmen wollen.

Russland hatte nicht oft so viel Glück mit den äußeren Umständen wie in den letzten vier Jahren. Der Ölpreis ist konstant hoch, außenpolitisch herrscht Ruhe, während der Präsidentschaft Boris El’cins wurde eine marktwirtschaftliche Grundstruktur aufgebaut – unter diesen Umständen kostete es die Führung des Landes keinerlei Mühe, wirtschaftliches Wachstum und soziale Stabilität zu gewährleisten. Putin begann mit Reformen in der Steuerpolitik, in der Justiz, beim Bodenrecht und beim Arbeitsrecht. Doch die zweite Hälfte seiner ersten Amtszeit war bereits von Stagnation und Restauration gekennzeichnet.

Die Gunst der Stunde bleibt ungenutzt. Statt die wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung voranzutreiben, hat man einen Koloss auf tönernen Füßen errichtet – das autoritäre, personalisierte Regime Putins und seiner Handlanger aus dem ehemaligen KGB, das auf scheinbaren sozialen und wirtschaftlichen Erfolgen beruht. Diese Scheinerfolge, die Russlands Gesellschaft mit echten Verbesserungen verwechselt, hängen von genau zwei Faktoren ab: dem hohen Ölpreis und der Zensur. Die Verbindung dieser beiden Faktoren ist das Fundament des Regimes. Das sozioökonomische System des heutigen Russland ist im Kern instabil, denn es kettet das Leben und Wohlergehen von Millionen Bürgern an die unvorhersehbaren Bewegungen auf dem globalen Ölmarkt. Und das autoritäre politische System liefert sie den Launen und der Gesundheit eines einzigen Menschen aus.

In den vergangenen vier Jahren ist ein neues politisches Gebilde entstanden: der Putinismus. Seine Formel lautet: Einparteiensystem, Zensur, Marionettenparlament, gelenkte Justiz, strikte Zentralisierung von Macht und Finanzen und Hypertrophierung von Geheimdiensten und Bürokratie, die nicht zuletzt für die Wirtschaft von überragender Bedeutung sind. Kurz gesagt, Putinismus heißt: Es gelten die Regeln der Kreml-Paten.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen dieser Abwendung von liberalen und demokratischen Werten und dem Schicksal und materiellen Wohl von Millionen Menschen in Russland? Ein sehr direkter. Fünf Gefahren seien genannt – Gefahren, die genau jene große Mehrheit bedrohen, die den Präsidenten unterstützt:

Gefahr Nr. 1: Die Gewalt in den Kasernen und der Niedergang der Streitkräfte. Jahr für Jahr werden zwanzigtausend junge Männer in Russland Opfer der Kadettenschinderei, Jahr für Jahr kostet sie ein ganzes Bataillon das Leben – ganz unabhängig vom Krieg in Tschetschenien, in dem in vier Jahren über 5000 Soldaten gefallen sind (die Zahl der zivilen Opfer ist nicht einmal bekannt). Obwohl die Einsatzfähigkeit der Streitkräfte ein Tabuthema ist, weiß so gut wie jeder, dass Russland heute nicht eine einzige einsatzfähige Division besitzt. Die Armee ist zu einer Erniedrigungsmaschine geworden, ihre eigentliche Funktion aber, nämlich die Sicherheit des Landes zu gewährleisten, kann sie nicht erfüllen. Die Haltung der amtierenden politischen Führung zum Thema Militärreform hat Verteidigungsminister Sergej Ivanov (einer der ehemaligen KGB-Kollegen Putins) auf seiner jüngsten Reise durch die fernöstlichen Regionen zusammengefasst: Die „Phase der tiefgreifenden Reformen in Russlands Streitkräften“, so der Minister, „ist abgeschlossen“. Wieder einmal steht die Gefahr im Raum, dass Studenten nicht mehr vom Wehrdienst zurückgestellt werden könnten.

Gefahr Nr. 2: Die Altersarmut, die 70 Millionen berufstätigen Menschen in Russland droht. Putins Rentenreform sieht vor, dass die Renten in einem Staatlichen Rentenfonds angesammelt werden. Ein vergleichbares System gibt es sonst nur noch in afrikanischen Staaten. Die so bittere wie reichhaltige Erfahrung unseres Landes zeigt, dass Geld, das der Staat für seine Bürger „spart“, sich gerne urplötzlich verflüchtigt. So war es schon mit den unter Stalin, Chruščev und Brežnev ausgegebenen „freiwillig-verpflichtenden“ Staatsanleihen, so war es auch Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre mit den Spareinlagen der Bürger bei der Sberbank. Der Staat überlegt es sich meist nicht zweimal, ehe er „leihweise“ auf die Mittel seiner Bevölkerung zurückgreift – und er wird dies erst recht nicht tun, wenn der Ölpreis fällt (was unausweichlich geschehen wird). Die von den Bürgern „angesparte“ staatliche Rente kann sich im Handumdrehen in Luft auflösen.

Gefahr Nr. 3: Die rasant wachsende Kriminalität. Im Jahr 2000 versprach der Präsidentschaftskandidat Putin im Wahlkampf, die Kriminalität entschlossen zu bekämpfen. Nach Angaben des staatlichen Statistikamts stieg die Kriminalitätsrate in Russland im vergangenen Jahr um acht Prozent, die Zahl der „Alltagsdelikte“ (Diebstahl, Raub, Betrug) wuchs um 20 Prozent. Die Aufklärungsrate sank laut Innenministerium im vergangenen Jahr um rund 18 Prozent, und dieser Trend setzt sich fort.

Gefahr Nr. 4: Repressionen gegen Unternehmer. Verfolgt werden genau die Leute, die unter normalen Umständen für ein stabiles wirtschaftliches Wachstum sorgen würden. Für die Vergehen, die die Generalstaatsanwaltschaft den Eignern des Jukos-Konzerns zur Last legt, könnte man auch 15 Millionen andere Unternehmer in Russland hinter Gitter bringen. Statt ein günstiges Investitionsklima zu schaffen, droht das Regime den Investoren mit Gefängnisstrafen. Es ist kein Wunder, dass unter diesen Bedingungen erneut Kapital aus dem Land abfließt: Nach Angaben der Zentralbank wurden im 3. Quartal 2003 (also nach dem Beginn des Verfahrens gegen Jukos) 8,6 Milliarden US-Dollar aus Russland abgezogen.

Gefahr Nr. 5: Die Verarmung der Provinz und der Zusammenbruch der kommunalen Infrastruktur in den Städten. Während unter Präsident El’cin 50 Prozent der Steuereinnahmen in der Hand der Regionen blieben, nimmt ihnen heute der Zentralstaat 65 Prozent der Einnahmen. Anders als im florierenden Moskau, wo bald jeden Tag neue Wolkenkratzer und Einkaufszentren entstehen, leben die Menschen in vielen Regionen von der Hand in den Mund. Die Kluft zwischen den Budgets der Hauptstadt und der Regionen wächst: In Moskau beträgt das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen 20 000 Rubel im Monat, in den Regionen liegt es bei 3000–5000 Rubeln, also maximal einem Viertel davon. Nicht zu übersehen ist auch, dass Millionen von Ärzten, Lehrern und anderen im Sozialwesen und im Kulturbereich Beschäftigten der materielle Abstieg droht: Statt in ihre Arbeit steckt das Putin-Regime lieber mehr Geld in die Geheimdienste. Im Staatshaushalt für 2004 sind die Ausgaben für den Militär- und Polizeiapparat rasant gestiegen (die Armee erhält 19,5 Prozent mehr als im Vorjahr, Miliz und FSB 26,7 Prozent), ebenso der Aufwand für „die Amtsausübung des Präsidenten“ (+ 20 Prozent). Die Gehälter von Lehrern und Ärzten sind dagegen eingefroren – und das bei einem geplanten Überschuss von 83,4 Milliarden Rubeln im Staatshaushalt. Nichts könnte besser illustrieren, wo die wahren Prioritäten des herrschenden Regimes liegen und was es von denen hält, in deren Händen die Bildung und die Gesundheit unseres Volkes liegen.

Der angekündigte Wirtschaftsaufschwung bleibt eine Illusion, von ihm ist bislang wenig zu spüren, die genannten Gefahren sind dagegen sehr real. Um sie zu erkennen, muss man kein Wirtschafts- oder Politikwissenschaftler sein, man braucht auch keinen Zusammenhang zwischen politischer Freiheit und dem Inhalt des eigenen Geldbeutels zu sehen. Der Putinismus gleicht den einstigen Diktaturen der Dritten Welt, in denen der politische Autoritarismus ebenfalls mit einer deprimierenden gesellschaftlichen Entwicklung einherging – man denke nur an Lateinamerika, die Philippinen unter Marcos oder Indonesien unter Suharto.

Viele russische Liberale waren anfangs bereit, den Putinismus zu unterstützen. Sie hofften, dass der politische Druck und der Verzicht auf Freiheiten genutzt würde, um Wirtschaftsreformen durchzuführen. Heute ist offensichtlich, dass diese Hoffnung sich nicht erfüllt hat. An Reformbereitschaft kann es das Putin-Regime nicht einmal mit Nursultan Nasarbajew aufnehmen, der in Kasachstan eine Renten- und eine Kommunalreform umgesetzt hat. Gemessen an der politischen Freiheit spielt Russland allerdings in derselben Liga wie Kasachstan und nähert sich Belarus unter Aljaksandr Lukašenka.

Statt Freiheit und Demokratie in die GUS-Staaten zu exportieren, wie Anatolij Čubajs es anstrebte, importiert Russland Diktaturen à la Lukašenka, Nasarbajew und – Gott bewahre – sogar Turkmenbaschi. Putins Kurs führt in die Dritte Welt, er macht Russland endgültig zu einem Rohstoffanhängsel. Eine Sackgasse.

Wir wenden uns entschieden gegen diesen Kurs. Wir sind überzeugt, dass unser Land Besseres verdient. Wir setzen uns für eine ganz andere Strategie zur Entwicklung unseres Staates ein: für eine demokratische Alternative zum Putinismus. Für ein System, das auf der Zivilgesellschaft beruht, auf freien Wahlen, Demokratie und Parlamentarismus, auf Pressefreiheit und einer unabhängigen Justiz, auf Föderalismus, Selbstverwaltung und einer dynamischen Marktwirtschaft, die auf kleinen und mittleren Unternehmen aufbaut. Dieser Weg hat die Länder der „Goldenen Milliarde“ (Westeuropa, USA, Japan) zum Erfolg geführt. An ihnen und nicht an den diktatorischen Regimen in Zentralasien und Lateinamerika sollten wir uns orientieren, wenn wir eine Strategie zur Entwicklung unseres Staates suchen.

Uns ist völlig klar, dass Russlands Gesellschaft – genauer gesagt: die Putin-Mehrheit – erst dann die Augen öffnen wird, wenn die ökonomische Basis des Regimes zusammenbricht: der hohe Ölpreis. Doch sollte Putin bei den Wahlen im März 80–90 Prozent der Stimmen erhalten – was Umfragen zufolge nicht ausgeschlossen ist – so käme das für die Staatsführung einer Generalermächtigung sowohl zu Maßnahmen aller Art als auch zum Nichtstun gleich. Mit einem so starken Mandat könnte das Regime soziale und wirtschaftliche Reformen durchführen, die Armee in eine Berufstruppe verwandeln, die Entwicklung der freien Wirtschaft fördern. Es hätte aber ebenso eine carte blanche zur Änderung der Verfassung, zur Abschaffung der verbliebenen demokratischen Freiheiten, zur Errichtung einer umfassenden Diktatur – mit anderen Worten: ein Mandat zur totalen Willkür.

Wir wenden uns an die Anhänger Vladimir Putins. Seine Politik der vergangenen vier Jahre gibt allen Grund zur Befürchtung, dass er eine Wiederwahl mit 80 Prozent der Stimmen als Ermächtigung auffassen würde – nicht zuletzt zu einer Willkürherrschaft. Das kann niemand wollen.

Selbst wenn Sie Putin vertrauen: Stimmen Sie nicht für ihn – in Ihrem eigenen Interesse und dem Ihrer Familien.

Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja und Volker Weichsel

 

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