Titelbild Osteuropa 9-10/2014

Aus Osteuropa 9-10/2014

Editorial
Bedingt denkfähig

Manfred Sapper, Volker Weichsel


Abstract in English

Abstract

„Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ Mit diesem Appell traten Anfang Dezember 60 Personen des öffentlichen Lebens auf, um vor einer Konfrontation mit Russland und Krieg in Europa zu warnen. Sie reden von der deutschen Verantwortung für die europäische Sicherheit sowie von der Gefahr, Russland aus Europa hinauszudrängen, doch vom Wichtigsten schweigen sie. Seit Monaten herrscht in Europa Krieg – auf ukrainischem Territorium, im Donbass, mit Waffen und Soldaten aus Russland, das im März 2014 die Krim annektiert hat.

(Osteuropa 9-10/2014, S. 3–4)

Volltext

„Ungefähr um 14 Uhr am 30. Juli rief mich der Chef des Generalstabes, General Januškevič, an und sagte mir, dass er sich mit mir über die letzten Ereignisse unterhalten müsse, die dem Stab bekannt geworden seien, dass bei ihm im Büro auch der Kriegsminister sei und dass er mich bitte, zu ihm zu kommen. Während ich mich ins Gebäude des Generalstabes begab, wo Januškevič wohnte, und das fünf Minuten zu Fuß vom Außenministerium entfernt war, ahnte ich schon, was ich zu hören bekommen würde. Ich fand die beiden Generäle in einem Zustand äußerster Besorgnis vor. Schon aus ihren ersten Worten wurde mir klar, dass sie die Bewahrung des Friedens nunmehr für unmöglich hielten und die Rettung ausschließlich darin sahen, alle Land- und Seestreitkräfte des Imperiums unverzüglich zu mobilisieren. General Januškevič sagte mir, dass es für ihn angesichts der speziellen Meldungen, die dem Generalstab vorgelegt worden seien, nicht den geringsten Zweifel gebe, dass die deutsche Mobilisierung viel weiter voranschreite, als man angenommen habe und dass angesichts der Schnelligkeit, mit der sie sich vollziehe, Russland in eine äußerst gefährliche Lage geraten könne, wenn wir unsere eigene Mobilisierung nicht in vollem Umfang, sondern nur in Teilen vollziehen würden.“ So erinnerte sich der russische Außenminister Sergej Sazonov an die Tage, die dem Ausbruch des Großen Krieges vorangingen. Am 28. Juli hatte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt. Schon am nächsten Tag ordneten die russischen Generäle eine Teilmobilmachung ihrer Streitkräfte an. Am 31. Juli erreichte den Zaren ein Brief des deutschen Kaisers. Wilhelm II. forderte ihn auf, die Mobilmachung zurückzunehmen. Nikolaj zögerte, wie immer, wenn wichtige Entscheidungen zu treffen waren. Sazonov erinnerte sich, der Zar habe bleich ausgesehen und schwer unter der moralischen Last gelitten, die wie Blei auf seinen Schultern lag. Wie könne er die Verantwortung für den Tod von Hunderttausenden auf sich nehmen, habe er ihn gefragt. Aber der Außenminister und die Generäle versicherten ihm, der Krieg sei unausweichlich geworden, weil Österreich-Ungarn und Deutschland ihn wollten. Wie könne der deutsche Kaiser es wagen, Russland ein Ultimatum zu stellen, obgleich er doch wisse, dass Österreich-Ungarn an seinen Kriegsabsichten festhalte! Der Zar und seine Regierung müssten ihr Gesicht wahren. Nikolaj fügte sich und seufzte: „Sie haben recht. Uns bleibt nichts anderes übrig, als den Angriff abzuwarten. Übergeben Sie dem Chef des Generalstabes meinen Befehl zur Mobilisierung.“ Und so nahm das Verhängnis seinen Lauf. Russland war auf diese militärische Auseinandersetzung nicht vorbereitet. Es gab nicht einmal einen guten Grund, Krieg zu führen. Warum sollte man um der Ehre Willen das Imperium aufs Spiel setzen, so fragte sich nicht nur die „deutsche Fraktion“ am Hof des Zaren. Die ehemaligen Finanzminister Vladimir Kokovcov und Sergej Vitte empfahlen der Regierung, sich mit Österreich und Deutschland zu verständigen. Man könne nichts gewinnen, aber alles verlieren. Niemand sprach deutlicher aus, welchen Gefahren sich Russland aussetzte, als Petr Durnovo, der schon einmal, im Jahr der ersten Russischen Revolution 1905, den Abgrund gesehen hatte. Mit Härte und Rücksichtslosigkeit hatte er als Innenminister zu Beginn des Jahres 1906 die Bauernrebellionen niederschlagen lassen. Er gab sich auch jetzt keinen Illusionen hin. So wie damals, erklärte er dem Zaren im Februar 1914, stehe auch jetzt die Existenz des Imperiums auf dem Spiel. Nur Träumer könnten sich Liberale und Bauern als Brüder im Geiste vorstellen. Während die einen Rechtsstaat und Demokratie das Wort redeten, seien die anderen von nichts anderem getrieben als von der „primitiven Gier nach Land“. Es sei, schrieb Durnovo, fahrlässig, Russland in einen Krieg zu führen, der den Bauern nichts bedeute und den es nicht gewinnen könne. Für ihn gab es keinen Zweifel: Bräche der Krieg aus, käme es zur Revolution, und keine Macht würde das Volk dann noch daran hindern können, die alte Ordnung aus der Welt zu schaffen. Nikolaj zögerte, bevor er den Befehl zur Mobilmachung unterzeichnete. Er wusste, worauf er sich einließ und dass er seine Macht zur Disposition stellte, wenn er es zum Äußersten kommen ließ. Auch seine Generäle und Minister hätten wissen können, was auf dem Spiel stand. Dennoch lieferten sie sich einem Krieg aus, in dem sie nicht Sieger sein konnten. Außenminister Sazonov erklärte auf einer Sitzung des Kabinetts am 25. Juli 1914, der Krieg sei unvermeidlich. Deshalb müsse man gerüstet sein. Wenn Russland nachgebe und Serbien den militärischen Beistand verweigere, sei es um den inneren Frieden geschehen und die Herrschaft des Zaren in ernster Gefahr. Kriegsminister Vladimir Suchomlinov fügte noch hinzu, Russland sei besser denn je auf den Krieg vorbereitet. Noch ein Jahr zuvor wären ihnen solche Worte nicht über die Lippen gekommen, jetzt aber redeten sie den Krieg herbei, bis sie ihn nicht mehr abwenden konnten. Leichtfertig und bedenkenlos opferten die Minister des Zaren alle pragmatischen Erwägungen dem Prestige und der Ehre des Imperiums, weil nicht nur sie, sondern auch die liberalen und konservativen Parteien glaubten, der Krieg werde Russland in eine Nation von Gleichgesinnten verwandeln. Der Patriotismus sollte ein zerrissenes Land vereinen und den Zwist der vergangenen Jahre ein für allemal begraben. In der liberalen und konservativen Presse wurde nun das Lied des Nationalismus und des Panslawismus gesungen, und in der Diplomatie gab es niemanden mehr, der das Unheil noch abwenden mochte. Russlands Diplomaten wussten, was bevorstand, als Österreich Serbien ein Ultimatum stellte und ihm mit Krieg drohte, sollte Belgrad es Wien verwehren, auf seinem Territorium gegen die Hintermänner des Attentats von Sarajevo zu ermitteln. Nicht nur in der Presse, sondern auch in der Außenpolitik galt der Grundsatz, dass Krieg führen müsse, wer beleidigt worden sei. Der russische Botschafter in Belgrad, Baron Nikolaus Hartwig, hätte das Unheil noch abwenden und Kompromisse erzielen können, aber er tat nichts, um die Situation zu entschärfen. Er ließ keinen Zweifel daran, dass für ihn Österreich ein Feind, und Serbien ein Freund Russlands sei. Hartwig, schrieben die Moskovskie Vedomosti am 1. Juli 1914, habe niemals aufgehört „russisch zu fühlen und zu denken“. Deshalb sei er in Serbien als Freund aller Slawen wahrgenommen worden. Am Abend nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo gab Hartwig einen Empfang in der russischen Botschaft. Als in Österreich getrauert wurde, lud der russische Botschafter in Belgrad Gäste zu einem Freudenfest ein. Anders konnte man diese Geste nicht verstehen. So handelte auch der russische Außenminister, Sazonov, der alle Möglichkeiten ausschöpfte, um die französische Regierung davon zu überzeugen, dass der Krieg unvermeidlich sei und Frankreich Russland um jeden Preis beistehen müsse. Als der französische Präsident erklärte, er werde Russland unter allen Umständen Beistand leisten, gab es für die Regierung des Zaren keinen Grund mehr, einer militärischen Auseinandersetzung mit Österreich auszuweichen. Am Ende geschah, was lange herbeigeredet worden war. Niemand wollte rhetorisch abrüsten, niemand vor der eigenen Öffentlichkeit als Papiertiger ausgestellt werden, auch deshalb, weil alle Akteure einander politische Interessen und rationales Kalkül unterstellten. So verwandelte sich jede Information in einen Beleg für die bösartigen Absichten des Gegners. Aus diesem Spiel der Unterstellungen gab es kein Entkommen. Nur musste Russland für diesen Kampf um Ehre und Prestige einen höheren Preis zahlen als die Verbündeten, die an seiner Seite in den Krieg zogen. Am Anfang stand die Mobilisierung, die sich reibungslos vollzog, zur Überraschung all jener, die auf die Organisationsfähigkeit der russischen Armee wenig gaben. In allen Regionen des Imperiums wurden Soldaten rekrutiert und ihren Einheiten zugewiesen. Doch ließen sie sich nur mit Mühe an die Front schaffen, weil die mangelhafte Infrastruktur die Bewegung der militärischen Verbände behinderte. Umso überraschender waren die militärischen Erfolge, die die zarischen Armeen zu Anfang des Krieges erzielten. Am 7. August 1914 fielen sie in Ostpreußen ein, eine Woche später überrannten sie den österreichischen Teil Galiziens, und schon wenige Tage später war Lemberg in russischem Besitz. Auch an der Kaukasusfront errangen die Soldaten des Zaren unerwartete Siege, sie schlugen den Angriff der türkischen Streitkräfte nicht nur zurück, sondern drangen im Gebiet Kars auf osmanisches Territorium vor. Aber die russischen Erfolge waren Pyrrhussiege, die unter hohen Verlusten an Material und Menschen errungen wurden. Die Offensiven liefen ins Leere, weil Reserven und Nachschub nicht rechtzeitig eintrafen und den Soldaten die Munition ausging. Es gab nur wenige Schienenwege und befahrbare Straßen, auf denen die Truppen an die Front gebracht werden konnten, die Organisation der Kriegswirtschaft lag in den Händen von Dilettanten, und die Gouverneure in den Frontgebieten zerbrachen unter der Last der Aufgaben. In chaotischem Zustand sei die Etappe gewesen, schrieb Russlands fähigster General, Aleksej Brusilov, in seinen Memoiren. „Im Hinterland waren noch keine Institutionen geschaffen worden, es gab nur wenige Automobile, auch nur wenige Telegraphenmasten; und was die Krankenversorgung anging, so befand sie sich noch in embryonalem Zustand, und wie sich später herausstellte, war die Lage der Verwundeten nach den ersten Schlachten sehr kompliziert. Im Allgemeinen war das Hinterland unserer Truppen zu Beginn der Offensiven wirklich in chaotischem Zustand und war mehr für die Verteidigung als für energische Offensiven geeignet, die man uns zur Pflicht gemacht hatte.“ Am Ende mussten sich die Soldaten plündernd aus dem Land ernähren, weil es nicht gelang, sie mit Waffen und Lebensmitteln zu versorgen. In den meisten Einheiten besaß nur die Hälfte der Soldaten ein Gewehr, und wer keines hatte, sollte es von den Toten nehmen, die auf dem Schlachtfeld gefallen waren. Russlands Heerführer waren inkompetent, sie kannten keine andere Strategie als den Frontalangriff, und sie schickten ihre Bauernsoldaten bedenkenlos in den Tod. Nicht Eignung und Talent, sondern Herkunft und Beziehungen zum Hof entschieden darüber, wer in der Armee des Zaren Befehle erteilen durfte, und wer nicht. Kriegsminister Suchomlinov, Generalstabschef Januškevič und der Oberbefehlshaber, Großfürst Nikolaj Nikolaevič, waren militärische Laien, Höflinge, die von der Kriegführung nichts verstanden, auf die Wahrung ihrer Ehre aber großen Wert legten. Natürlich wusste auch der Zar, dass Begabung und Ausbildung über Sieg und Niederlage entschieden. Dennoch zog er es vor, wichtige Posten mit Höflingen zu besetzen. Loyalität und Ergebenheit zählten in seiner Umgebung mehr als Talent und Können. Inkompetenz und Ignoranz hätten den Generalstab und das Kriegsministerium regiert, erinnerte sich Brusilov, der zu den fähigsten und talentiertesten Generälen des Zarenreiches gehörte. Ihm, dem Sieger von Galizien, aber sei kein Vertrauen geschenkt worden. Im März 1915 sei der Zar zu einem Besuch an der Front erschienen. Man habe ihn nicht nur empfangen, sondern auch ein Essen für ihn und seine Entourage vorbereiten müssen, schrieb der General in seinen Memoiren. Was dann geschah, empfand Brusilov als tiefe Demütigung. „Im Speisesaal wandte sich der Zar an mich und sagte, dass er mich zu seinem Generaladjutanten ernenne, zur Erinnerung daran, dass er bei mir in der Armee zu Mittag gegessen habe. Ich hatte diese Auszeichnung nicht erwartet, weil der Zar sich mir gegenüber, wie mir schien, immer mit einer gewissen Abneigung verhalten hatte, die ich mir mit dem Umstand erklärte, dass ich nicht zu den Höflingen gehörte und auch nicht danach strebte, einer zu werden, mich niemals bei ihm einschmeichelte, dem Zaren sagte, was ich dachte und meine Gedanken vor ihm nicht verbarg. Es war erkennbar, dass der Zar sich darüber ärgerte. Wie immer es auch gewesen sein mag, für mich war diese Ehrung eine Beleidigung, weil aus dem Mund des Herrschers verkündet wurde, dass man mir die Ehre eines Generaladjutanten nicht wegen meiner militärischen Leistungen verlieh, sondern aufgrund des Besuchs seiner Majestät und des Mittagessens im Stab meiner Armee. Ich habe nie verstanden, warum sich der Zar für die militärischen Leistungen nicht wenigstens bei mir bedankt hat.“ Der Zar verließ sich auf die Ergebenheit der Offiziere und den Kampfgeist der Bauernsoldaten. Gegen Österreicher und Türken konnte die russische Streitmacht auch dann Sieger bleiben, wenn ihre Offiziere versagten, dem Kampf mit der modernen Kriegsmaschine des deutschen Kaiserreiches aber war sie nicht gewachsen. Ende August 1914 erlitten die russischen Armeen in Ostpreußen eine katastrophale Niederlage, 92 000 Soldaten gingen in Gefangenschaft, mehr als 50 000 fielen auf dem Schlachtfeld. Im Juni 1915 mussten die Streitkräfte des Zaren Galizien räumen, im August verließen sie Warschau, im September Wilna und die baltischen Provinzen. Die Verluste des russischen Heeres waren gewaltig: 1,4 Millionen Soldaten waren seit Beginn des Krieges tot oder in Gefangenschaft geraten. Zwar gelang es Brusilov im Frühsommer 1916 ein letztes Mal, in Galizien gegen die Österreicher zu siegen. Aber der Krieg hatte sich endgültig auf das Territorium des Zarenreiches verlagert, er brachte Verwüstung und Elend, Tod und Verderben über ein Land, das über eine Armee gebot, aber keine Staatsverwaltung besaß, die dieser Katastrophe gewachsen gewesen wäre. Als die Armee zerfiel, war es auch um den Staat geschehen. GESELLSCHAFT UND STAAT „Konnte man angesichts einer solchen moralischen Vorbereitung auf den Krieg überhaupt eine Stärkung des Geistes und des Patriotismus in den Volksmassen erwarten? Welche Schuld trägt denn unser Soldat, der nicht nur nichts über die Absichten Deutschlands gehört hat, der nicht einmal weiß, dass ein solches Land existiert? Der Soldat wusste nicht nur nicht, was Deutschland war, ganz zu schweigen von Österreich, er hatte nicht einmal eine Vorstellung von Mütterchen Russland. Er kannte seinen Kreis, und vielleicht das Gouvernement, wusste, dass es Petersburg und Moskau gab, aber darauf beschränkte sich seine Bekanntschaft mit dem Vaterland. Woher sollte denn der Patriotismus und die bewusste Liebe zur großen Heimat herkommen!“ Als Brusilov diese Sätze vier Jahre nach dem Ende des großen Krieges aufschrieb, war das alte Russland unwiederbringlich verloren. Was 1914 schon mancher ahnte, aber in der Regierung des Zaren niemand wahrhaben wollte, offenbarte sich vier Jahre später in brutaler Konsequenz. Russland war ein Land ohne Gesellschaft. Dieser Einsicht konnte sich am Ende des Krieges niemand mehr verschließen. Ein Land ohne Gesellschaft konnte nicht mit einer Stimme sprechen. Die Minister des Zaren vertrauten auf die patriotischen Gefühle der Besitzenden und Gebildeten und auf die Gottergebenheit der Bauern. Selbst Brusilov, der nicht zu den Träumern gehörte, glaubte noch Jahre später, dass der Patriotismus hätte vollbringen können, wozu das Militär nicht imstande gewesen sei. Wenn der Zar eine Verfassung gewährt und „alle russischen Untertanen ohne Ansehen der Volkszugehörigkeit“ zur Rettung des Vaterlandes aufgerufen hätte, wäre „der Enthusiasmus groß gewesen“. In den ersten Wochen nach dem Ausbruch des Krieges schienen sich diese Hoffnungen auch zu erfüllen, denn auf den Straßen in Russlands großen Städten fielen die Bürger in einen patriotischen Taumel. Erstmals sprachen Liberale und Konservative, Minister und Generäle mit einer Stimme über die Kriegsziele des Imperiums: die Verteidigung der Slawen auf dem Balkan und die Annexion der Meerengen am Bosporus. Intellektuelle, die wenige Jahre zuvor nur mit Verachtung über die Autokratie gesprochen hatten, verwandelten sich in glühende Nationalisten. Der Religionsphilosoph Sergej Bulgakov sah Russland in der Rolle des Erlösers. Es werde Europa von der Vorherrschaft der Deutschen befreien und vor dem geistigen Verfall bewahren. Russland sei, schrieben die Moskovskie Vedomosti, von den Deutschen verachtet und „en canaille“ behandelt worden. Nun sei die Stunde der Rache für die Demütigungen der Vergangenheit gekommen. Nie wieder solle sich Russland seiner Rückständigkeit schämen, sondern stolz sein auf die Mission, die es in Europa zu erfüllen habe. In ihrer Ausgabe vom 29. Juli 1914 behaupteten die Moskovskie Vedomosti: „Die ganze russische Gesellschaft von oben bis unten, angefangen von der Macht der Besetzenden bis zu den einfachen Arbeitern, ist vereint in einem einzigen allgemeinen Gefühl, in einem einzigen einmütigen Antrieb der Liebe zu ihrer Heimat.“ Es schien, als habe der Krieg die Nation geeint und allen Streit begraben. Als die deutsche Regierung am 1. August dem Zarenreich den Krieg erklärte, prophezeite die Zeitung, dass sich Russland „wie eine einzige Person für die Verteidigung seiner Unversehrtheit, seiner Ehre und Würde“ erheben werde. Es schien, als seien auch die Arbeiter von der Welle patriotischer Begeisterung erfasst worden. Noch im Juli 1914 befanden sich Tausende Arbeiter im Streik, in Baku und in St. Petersburg legten sie das öffentliche Leben lahm. In Petersburg kam es zu Straßenschlachten zwischen der Polizei und Arbeitern, am 22. Juli brach der öffentliche Nahverkehr zusammen. Ihren Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen ausgerechnet an jenem Tag, als der französische Staatspräsident, Poincaré, in der Hauptstadt eintraf. „Barbarische“ Gewalt habe sich auf den Straßen zugetragen, klagten die Moskovskie Vedomosti, Polizisten seien angegriffen, Straßenbahnwaggons umgestürzt worden. Am Ende hätten die Sicherheitskräfte Schusswaffen einsetzen müssen, um sich gegen die Demonstranten durchzusetzen. Solch gewalttätige Auseinandersetzungen hatte es in der Hauptstadt zuletzt während der Revolution des Jahres 1905 gegeben. Wie damals gaben die Konservativen den Liberalen und Sozialisten auch jetzt die Schuld an dem Ausbruch nackter Gewalt. Sie hätten die Arbeiter gegen die Ordnung aufgehetzt, schrieben die Moskovskie Vedomosti, und das Vaterland in der Stunde seiner größten Not verraten. Wenige Tage später war alles anders geworden. Nach der Kriegserklärung Österreichs an Serbien streckten nicht nur die Liberalen und gemäßigten Sozialisten die Waffen und unterwarfen sich der Regierung des Zaren. Auch die Arbeiter kehrten in die Fabriken zurück und beendeten den Streik. „Im Augenblick des Aufbruchs“, so war am 28. Juli in den Moskovskie Vedomosti zu lesen, „hat der allgemeine patriotische Aufschwung in der russischen Gesellschaft auch in der Mitte der Arbeiter einen lebendigen Widerhall gefunden“. Nicht einmal die Bauern widersetzten sich dem Ruf des Vaterlandes, wenngleich nur wenige verstanden, was von ihnen verlangt wurde und zu welchem Zweck sie in den Krieg ziehen sollten. Wie immer, wenn der Staat sie zu den Waffen rief, fügten sie sich, ohne Begeisterung und mit dem Fatalismus der Machtlosen. Zwar kam es in vielen Städten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und bäuerlichen Reservisten, die Spirituosengeschäfte überfielen und ausraubten. Aber diese Unruhen waren kein Ausdruck pazifistischer Gesinnung. Sie brachen aus, weil die Regierung die Anweisung erteilt hatte, Alkoholgeschäfte und Weinschenken zu schließen. Die Bauern waren nicht gegen den Krieg, aber sie waren auch nicht für ihn, weil sie nicht wussten, gegen wen und zu welchem Zweck sie kämpfen sollten. Anfangs gehorchten die Bauernsoldaten auch im Gefecht, solange es den Offizieren gelang, Disziplin und Ordnung in der Armee aufrecht zu erhalten. Schon die Zeitgenossen haben sich über die Leidensfähigkeit und die Kampfkraft russischer Soldaten gewundert. Auch in aussichtslosen Situationen konnten sich die Offiziere auf ihre Tapferkeit verlassen. Aber schon im zweiten Kriegsjahr zerfiel die Einheitsfront, nicht, weil die Bauern meuterten, sondern weil alle Erwartungen, die die Elite mit dem Krieg verbunden hatte, enttäuscht worden waren. Die Niederlagen des Jahres 1915 offenbarten die begrenzten Möglichkeiten der zarischen Regierung, ihre Armeen mit Munition, Lebensmitteln und fähigen Offizieren zu versorgen. In manchen Einheiten gab es nicht einmal mehr Gewehre und Stiefel für die Soldaten. Die Pragmatiker unter den Generälen hatten den Krieg längst verloren gegeben. Denn wie sollten sie eine Streitmacht zum Sieg führen, der es an allem fehlte, was für den Erfolg gebraucht wurde? Niemand wollte im Sommer 1915 über den Dilettantismus und die Unfähigkeit der Administration noch hinwegsehen, die bei Ausbruch des Krieges noch als unvermeidliches Übel in Kauf genommen worden war. Minister und Generäle mussten sich Fragen gefallen lassen. Was hatten sie geleistet, und warum sollten nur sie, die Versager, nicht aber die Vertreter der Zivilgesellschaft an politischen Entscheidungen beteiligt werden? Bislang hatte die Regierung ihren Alleinherrschaftsanspruch stets damit gerechtfertigt, dass Sachkenntnis und Fachwissen auf ihrer Seite sei, die Opposition sich aber nur auf Kritik und Destruktion verstehe. Nach den militärischen Niederlagen des Jahres 1905 und angesichts der Versorgungskrise, die sich in den Städten bemerkbar machte, konnten sich die Minister auf solche Argumente nicht mehr berufen. Nunmehr wurden sie mit der Eigeninitiative der Besitzenden und Gebildeten konfrontiert. Unternehmer schlossen sich in Verbänden zusammen und riefen sogenannte Kriegs-Industrie-Komitees ins Leben, die die Produktion von Rüstungsgütern koordinieren und vollbringen sollten, wozu die Staatsbehörden nicht imstande waren. In der Duma, dem russischen Parlament, verbanden sich die liberalen und konservativen Parteien zu einem „Progressiven Block“ und verlangten, an der Macht beteiligt zu werden. Der Zar aber lehnte es ab, seine autokratischen Vollmachten aufzugeben, er übertrug die Macht stattdessen auf Personen, denen niemand vertraute. Zu allem Überfluss übernahm er selbst das Oberkommando über die Streitkräfte. Seitdem waren die Niederlagen der russischen Armeen auch mit seinem Namen verbunden. Pavel Miljukov, der Führer der Konstitutionellen Demokraten im Parlament, warf der Regierung Versagen vor und konfrontierte sie mit der Opposition des Parlaments. „Ist es Dummheit oder Verrat?“, so rief er. Betrieb die Regierung die Sache des Feindes oder waren ihre Minister einfach nur inkompetent und ignorant? Er ließ die Antwort auf diese Frage offen, aber jedermann erfuhr nun, dass das Tischtuch zwischen Regierung und Parlament zerschnitten war. Der erste Akt der russischen Revolution hatte begonnen. Was den Bürgern alles war, bedeutete den Bauernsoldaten wenig. Russlands Bauern waren nicht Teil der Gesellschaft, und es gab nichts, was sie mit den Besitzenden und Gebildeten verband. Zwar hatte Aleksandr II. im Jahr 1861 die Leibeigenschaft aufgehoben und die Bauern von der Erbuntertänigkeit befreit. Aber die Befreiung erreichte nicht, was die Reformer sich erträumt hatten. Denn die Bauern wurden an das Land gebunden und ihre Gemeinden kollektiv in Haftung genommen, damit sie Ablösezahlungen und Steuern aufbrachten und Rekruten stellten. Nirgendwo gelang es dem Staat und seinen Beamten, die Funktionen der entmachteten Gutsbesitzer auch auszufüllen. Die Macht des autokratischen Staates endete an den Rändern der großen Städte, auf dem Land blieben die Bauern unter sich. Man könnte auch sagen, dass Bauern und Bürger in einer Apartheitsgesellschaft lebten, die von der Gewalt der Autokratie zusammengehalten wurde. Der Staat nahm, aber er hatte seinen Untertanen wenig zu geben. Auch in den Industriestädten durften Bauern nichts als Bauern sein, weil sie mit den Dörfern verbunden blieben, aus denen sie als Wanderarbeiter gekommen waren. In den Städten schlugen sie keine Wurzeln, auch deshalb, weil es dort wenig gab, was ihnen einen Lebensgewinn versprochen hätte. Für Fabrikbesitzer und Ordnungshüter ergaben sich daraus nicht nur Nachteile. Sie sparten Kosten, weil Arbeiter nicht nur ihre Ausbildung in der Fabrik selbst organisierten, sondern sich auch selbst überwachten. Dafür aber mussten die Eliten einen hohen Preis bezahlen. Arbeiter und Bauern, die von ihnen als Angehörige eines fremden Volkes, als Menschen fremder Kultur wahrgenommen wurden, waren keine Bürger. Sie waren Fremde, mit denen Stadtbürger und Adlige wenig verband. Wie hätte ein Kompromiss aussehen können, der diesem Dilemma gerecht geworden wäre? Diese Zerrissenheit spiegelte sich in der Armee des Zaren. Sie war ein Bauernheer, das sich selbst versorgte, eine Ansammlung mobiler Dörfer, die von adligen Offizieren geführt wurden. Sie verband mit den Bauern nichts als Befehl und Gehorsam. Warum hätten die Bauern, deren Welt am Ausgang des Dorfes und an den Fabriktoren endete, sich für eine Ordnung aufopfern sollen, die sie nicht kannten und zu der sie nicht gehören durften? Für die Bauernsoldaten war der große Krieg, in den sie geworfen wurden, nichts als Schicksal, eine Katastrophe, die unverschuldet über sie gekommen war und die sie nur als Strafe Gottes empfinden konnten. Man hätte es auch im Sommer 1914 schon wissen können. Als die Mobilisierung begann, wurden die Bürger in den Städten von den nationalen Leidenschaften erfasst. In den Dörfern herrschte Grabesstille, die nur von den Klagen der Frauen und Kinder unterbrochen wurde, die ihre Männer und Väter preisgeben mussten. Keine Euphorie, kein Enthusiasmus. Nation, Volk und Vaterland hatten für die Bauern keine Bedeutung. Als die Verhältnisse unter dem Eindruck der Versorgungskrise sowohl in den Städten als auch in den Streitkräften unerträglich wurden, rebellierten die Bauern, und als die Autorität der Offiziere zerfiel, war es um die Autokratie geschehen, die nichts als die Armee zu ihrer Verfügung hatte, um ihre Macht durchzusetzen. Mit dem Ende der Autokratie kam aber auch das Ende der bürgerlichen Gesellschaft. Als die Bauern ihre Waffen gegen die Herren erhoben, gab es nichts und niemanden, der sie daran hindern konnte, die Welt auf den Kopf zu stellen und die Herren von einst die Macht der Sklaven und Erniedrigten spüren zu lassen. Am 16. April 1919 schrieb der Dichter Ivan Bunin in sein Tagebuch: „Gestern am frühen Abend gingen wir spazieren. Unsägliche Schwere auf meiner Seele. Die Menge, die jetzt die Straßen bevölkert, ist physisch unerträglich, ich bin am Ende meiner Kräfte, so satt habe ich diese viehische Menge.“ Kaum hatte sich das Volk gegen die Herren von einst erhoben, nahmen die Entmachteten es nur noch als Bedrohung wahr. Über das Leben in Odessa im ersten Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schrieb Bunin: „Abends ist es unheimlich gespenstisch […] Und durch die seltsam leeren, noch hellen Straßen braust allerlei rote Aristokratie, oft in Begleitung herausgeputzter Mädchen, in Automobilen und Luxusdroschken zu diesen Clubs und Theatern (ihre leibeigenen Schauspieler zu betrachten): Matrosen mit gewaltigen Brownings am Gürtel, Taschendiebe und Verbrecher, glattrasierte Dandys in Uniformjacken und unzüchtigen Reithosen, in stutzerhaften Stiefeln, unbedingt mit Sporen, alle mit Goldzähnen und großen dunklen Kokainaugen … Aber auch tagsüber ist es unheimlich. Die ganze riesige Stadt lebt nicht, sitzt in den Häusern, geht selten auf die Straße. Die Stadt fühlt sich erobert, von einem besonderen Volk, das uns weit schrecklicher scheint als unseren Vorfahren die Petschenegen, glaube ich. Der Eroberer schlendert ziellos umher, treibt Handel auf der Straße, spuckt Sonnenblumenkerne, schimpft in den schlimmsten Mutterflüchen. […] Sobald eine Stadt „rot“ wird, ändert sich die Menge auf den Straßen jäh. Es gibt gewissermaßen ein neues Sortiment an Gesichtern, die Straße wandelt sich.“ Der Weltkrieg war der Totengräber der liberalen, bürgerlichen Ordnung. Er gab Russland den Bauern zurück. IMPERIUM UND NATION „Das Leben der Hebräer, die in Czortkow leben, ist bemitleidenswert. Sie werden von den Russen mit rachsüchtiger Feindseligkeit behandelt. Als österreichische Bürger genossen sie fast vollständige Freiheit und brauchten nicht unter der grausamen Unterdrückung zu leiden, der ein russischer Jude ausgesetzt ist. Aber mit ihren Rechten und ihrer Freiheit ist es unter dieser neuen Verwaltung vorbei.“ Diese Worte vertraute die englische Sanitäterin Florence Farmborough, die zu Beginn des Krieges in russische Dienste getreten war, im April 1916 ihrem Tagebuch an. Sie irritierte, was in der russischen Administration des Krieges offenbar für normal gehalten wurde – dass Juden stigmatisiert und terrorisiert werden durften, nur weil sie Juden waren. Aber nicht nur Juden widerfuhr diese Gewalt. In den Grenzregionen, die vom großen Krieg heimgesucht wurden, lebten nur wenige Russen, sondern Polen, Ukrainer, Deutsche, Esten, Letten, Litauer und Juden, im Kaukasus waren es Armenier und Aserbaidschaner, die zwischen die Fronten gerieten. Wie würden sich die Polen verhalten, die seit Jahrzehnten unter der russischen Fremdherrschaft litten, und im eigenen Land wie Fremde behandelt wurden, was war von Juden zu erwarten, die mit dem Staat des Zaren nur schlechte Erfahrungen gemacht hatten? Konnte man den deutschen Kolonisten trauen, die in den Dörfern Wolhyniens lebten und würden sie sich mit den Angreifern verbünden, deren Sprache sie teilten? Wie sollte die Regierung der muslimischen Bevölkerung begegnen, seit der osmanische Sultan den Heiligen Krieg ausgerufen hatte? Als sich das Kriegsglück wendete und die Armeen des deutschen Kaisers die russischen Grenzen überschritten, entledigten sich die Vordenker der ethnischen Säuberung aller Hemmungen. Der Generalstabschef Januškevič sah keinen anderen Ausweg, als alle deutschen Kolonisten und Juden aus den Grenzregionen zu vertreiben und ins Innere des Imperiums zu deportieren. Er erklärte sie zu inneren Feinden, die mit dem Gegner gemeinsame Sache machten und deshalb aus den Grenzstreifen entfernt werden müssten. Auf ihrem Rückzug hinterließ die zarische Armee nicht nur verbrannte Erde, sie zerstörte systematisch Dörfer und Äcker und vertrieb mehrere Hunderttausend Deutsche und Juden aus ihrer Heimat. Schon zu Beginn des Krieges wurden deutsche Staatsbürger interniert, deutschstämmige Einwohner in den baltischen Städten aus ihren Häusern geholt und nach Russland verschleppt. In Moskau kam es 1915 zu Plünderungen und Ausschreitungen gegen deutsche Geschäftsleute, die von der Polizei erst unterbunden wurden, als sich die Unruhen auf andere Stadtteile ausweiteten. In der Ukraine verübten Kosaken und reguläre Einheiten der zarischen Armee Judenpogrome, denen Zehntausende zum Opfer fielen. Das Regime spielte mit dem Feuer des ethnischen Hasses, und es gelang ihm am Ende nicht mehr, die Flammen zu ersticken, die es entfacht hatte. Im Kaukasus wurden Muslime aus dem Grenzgebiet in Kars deportiert und Armenier gegen Aserbaidschaner und Türken aufgehetzt. Von Anbeginn dienten armenische Soldaten in den Einheiten der zarischen Armee, die gegen die Truppen des osmanischen Sultans kämpften. Und im anatolischen Hinterland arbeiteten armenische Partisanen der Sache des Zaren in die Hände. Auf beiden Seiten der Grenze wurden Dörfer verwüstet, Menschen deportiert und umgesiedelt. Ohne die Beschreibung dieser Wirklichkeit wird der Völkermord an den Armeniern überhaupt nicht verständlich. Der zarische Staat war schwach, er übte in den Grenzregionen des Imperiums nur sporadische Macht aus, und deshalb griff er, als er sich in existentieller Bedrohung befand, auf maßlose Gewalt zurück, um zu erzwingen, was nicht von selbst geschah. Als sich im Jahr 1916 kasachische Nomaden gegen das Kolonialregime erhoben, das ihnen verwehrte, in der Armee zu dienen, sie aber als Bausoldaten rekrutieren wollte, kam es auch in der zentralasiatischen Steppe zu einer blutigen Auseinandersetzung. Kasachische Nomaden zerstörten die Telegraphenmasten und Kommunikationsmittel des Staates und überfielen die Dörfer russischer Siedler. Die Antwort der Siedler, die sich als Repräsentanten der russischen Ordnung verstanden, war nicht weniger grausam. Mehr als 200 000 Kasachen wurden getötet, vertrieben oder flohen über die Grenze nach China. Der Generalgouverneur Kuropatkin erteilte die Anweisung, Kasachen aus allen Regionen zu deportieren, in denen Siedler lebten, weil sie das Recht auf ein friedliches Leben verwirkt hätten. Das Vielvölkerreich wurde durch den Krieg nationalisiert. Die Bauernsoldaten erfuhren, dass die Welt größer und bunter war als die Dörfer, aus denen sie gekommen waren. Sie begriffen, was sie von anderen Menschen unterschied, wer zu ihnen gehörte und wer nicht. Aber das Regime zog aus der ethnischen Mobilisierung keinen Nutzen. Es mobilisierte den Hass und gab den Nationalisten überall im Imperium eine Bühne, auf der sie dem Separatismus und dem interethnischen Krieg das Wort reden konnten. Der Pragmatismus der zarischen Nationalitätenpolitik wurde in den Jahren des Ersten Weltkrieges zu Grabe getragen, und es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis der innere Frieden wieder hergestellt war. Aus dem Imperium der Völker war ein Imperium der Nationen geworden, in dem die einen das Recht erhielten, die anderen zu töten und sie aus ihrer Heimat zu vertreiben. So gesehen waren nicht die modernen Nationalstaaten, sondern die vormodernen Vielvölkerreiche Brutstätten des eliminatorischen Nationalismus und der Xenophobie. Der Erste Weltkrieg beendete die pragmatische Nationalitätenpolitik der Autokratie und entfachte eine Gewaltorgie gigantischen Ausmaßes. Er war die Geburtsstunde der ethnischen Säuberung. In ihr wurde nicht nur der äußere, sondern auch der innere Feind geboren, lange bevor die Nationalsozialisten diese Unterscheidung zur Richtschnur ihrer Vernichtungsstrategie machen sollten. DAS ERBE DES ERSTEN WELTKRIEGES „Ich erinnere mich an Soldaten, die am Morgen das Portrait von Nikolaj herunterrissen. Nikolaj lief noch in Freiheit herum und nannte sich Zar. Aber wo war der Zarismus?“, fragte sich der menschewistische Revolutionär Nikolaj Suchanov im Februar 1917. „Es gab ihn nicht mehr. Im Nu fiel er in sich zusammen. In drei Jahrhunderten wurde er errichtet, und in drei Tagen verschwand er.“ Als die Revolution endgültig über die alte Ordnung triumphiert hatte, lag das Imperium in Trümmern. Im Jahr 1914 hatte der große Krieg begonnen, und erst im Jahr 1924 war er endgültig zu Ende gegangen. Was in drei Jahrhunderten mühsam errichtet worden war, fiel in wenigen Jahren zusammen. Es schien, als hätte es den Staat des Zaren niemals gegeben. Der Zar trat ab, niemand fand sich noch, der ihn und seine Ordnung verteidigen mochte. Bald teilten die Besitzenden und Gebildeten das Schicksal der Minister und Gouverneure, die sie aus dem Amt getrieben hatten. Als die liberalen Duma-Politiker die Regierungsposten der Abgesetzten übernahmen, glaubten sie noch an das Einverständnis von Volk und Nation. Sie redeten vom Sieg über die Mittelmächte, von der erfolgreichen Fortsetzung des Krieges, von Annexionen und Kontributionen, als die Armee sich vor ihren Augen auflöste. Die Bauern desertierten, und sie interessierten sich für nichts anderes mehr als für die Verteilung des Landes und die Enteignung der Gutsbesitzer. Als der Sturm auf die Herrenhäuser und die nationalen Erhebungen an den Rändern des Imperiums begannen, war der Krieg gegen den äußeren Feind vorbei. Die Armeen des deutschen Kaisers konnten nun tun, was ihnen gefiel, ohne dass ihnen noch ernsthaft Widerstand geleistet worden wäre. Für die Verteidigung des Vaterlandes waren die Bauern verloren. Ohne Staat und Armee aber waren die Minister der Provisorischen Regierung, die in Petrograd Gesetze ausfertigten, nichts weiter als ein Häuflein machtloser Politiker, die beschworen, was sie gar nicht mehr erzwingen konnten. Im März 1917 lag die Macht auf der Straße, und sie gehörte, wem es gelang, die Waffen der Bauernsoldaten für sich zu mobilisieren. Der Krieg hatte das Zarenreich in Chaos und Anarchie gestürzt, Millionen waren entwurzelt, aus ihrer Heimat vertrieben und getötet worden, Flüchtlinge waren überall. Der Flüchtling war der Repräsentant der neuen Zeit. Mit ihm kamen Ressentiments, Hass, Elend und Epidemien in das Zentrum des Imperiums. Überall, wo Menschen einander unter solchen Bedingungen begegnen müssen, entstehen Konflikte. So war es auch in Russland. Die Revolution war ein großer Pogrom, der die europäische Elite und ihren Staat für immer aus der Welt schaffte. Sie verwandelte das Imperium in einen unkontrollierbaren Gewaltraum, der von verrohten Soldaten und Offizieren und ihren Waffen dominiert wurde. Russland sei das schwächste Glied in der Kette der imperialistischen Staaten, schrieb Lenin in den Jahren des Weltkrieges, ein Koloss auf tönernen Füßen, der zusammenfalle, sobald er sturmreif geschossen sei. Lenins Prophezeiung sollte sich erfüllen, und er selbst sollte derjenige werden, der dem alten Russland den letzten Todesstoß versetzte. Aber was ein Aufbruch in die helle Zukunft hätte werden sollen, verwandelte sich in einen gewalttätigen Alptraum, der Russland, und mit ihm ganz Europa in den Abgrund riss. Ohne den Ersten Weltkrieg hätte es keinen Stalinismus, ohne Stalinismus keinen Nationalsozialismus, keine ethnischen Säuberungen und keine Massenvernichtungsexzesse gegeben. Im Krieg wurden Opfer und Täter neuen Typs geboren, gestählte Krieger, die erfahren hatten, was Gewalt in einem Raum bewirkte, den man nicht beherrschen konnte. Russland war die Geburtsstätte der totalitären Versuchung, die ordnen wollte, was sich nicht unterwerfen ließ. So gesehen war die Ostfront kein Nebenschauplatz im großen europäischen Krieg, er war, vom Ende her betrachtet, vielmehr der zentrale Ort jener zerstörerischen Gewalt, die sich zwei Jahrzehnte später wie eine Epidemie über ganz Europa ausbreiten sollte. Erschienen in: Osteuropa, 64. Jg., 2–4/2014, S. 7–20 Jörg Baberowski (1961), Dr. phil., Professor für Osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin