Titelbild Osteuropa 5-6/2014

Aus Osteuropa 5-6/2014

Editorial
Eskalationsdynamik

Volker Weichsel, Manfred Sapper


Abstract in English

(Osteuropa 5-6/2014, S. 3–4)

Volltext

Demonstration, Repression, Annexion, Krieg. Dies war die ukrainische Dynamik der letzten sechs Monate. Am 21. November 2013 fragte der Journalist Mustafa Najem auf Facebook: „Ich gehe auf den Majdan. Wer kommt mit?“ Najem wollte dort gegen die Entscheidung von Präsident Janukovyč protestieren, das Assoziationsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen. Seinem Aufruf folgten Hunderte auf den Majdan Nezaležnosti. Dort, auf dem Kiewer Platz der Unabhängigkeit, schlossen sich Tausende, Zehntausende, Hunderttausende, in der gesamten Ukraine über eine Million Menschen dem Protest an. Der Euromajdan knüpfte an die Revolutionen von 1989 an. Menschen, die gestern noch passive Untertanen gewesen waren, wurden plötzlich aktiv, wehrten sich, handelten gemeinsam und machten sich zu politischen Subjekten, die Transparenz, Mitsprache und Verantwortung für das Gemeinwesen verlangten. Diese Bürger forderten das Selbstverständliche: ein Leben in Würde. Sie waren der Korruption und der Willkür der postsowjetischen autoritären Ordnung überdrüssig. Sie verlangten Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, die Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, Freiheit und Demokratie. Das alles verschmolz in einer Vision von Europa, die sie mit der EU verbanden. Janukovyč und seine Entourage sahen sich durch den Euromajdan existentiell bedroht. Noch stärker herausgefordert sah sich das Putin-Regime in Russland. Das politische Denken der Protestbewegung nahm es als Fundamentalangriff auf den konsolidierten Autoritarismus wahr, den Putin nach den Protesten gegen die gefälschten Wahlen im Dezember 2011 errichtet hat. Und die EU-Orientierung des Euromajdan stellte eine Bedrohung von Putins strategischem Projekt dar, die Ukraine in eine „Eurasische Union“ zu ziehen und den postsowjetischen Raum unter Hegemonie Russlands zu reintegrieren. Die Reaktion der autoritären Herrscher in Kiew und Moskau auf die Herausforderung des Euromajdan war höchst ähnlich. Janukovyč versuchte, ihn mit brachialer Gewalt zu zerschlagen. Über 100 Menschen verloren ihr Leben. Aber der Versuch, mit Scharfschützen die Macht zu behaupten, scheiterte. Denn Macht kommt eben nicht aus Gewehrläufen. Sie bedarf der Legitimität. Durch die Gewalt gegen die eigene Bevölkerung verlor Janukovyč seine Legitimität. Selbst sein Umfeld und die Gewaltapparate verstanden, dass damit auch seine Macht am Ende war. Er flüchtete. Die Abgeordneten der Partei der Regionen, die ihn kurz zuvor noch unterstützt hatten, stimmten mit den anderen Parteien für seine Absetzung. Seit Januar diffamierten Russlands Staatsmedien den Euromajdan als faschistische Bewegung. In Moskau versammelte Putin nun einen kleinen Machtzirkel – Siloviki wie Verteidigungsminister Sergej Šojgu oder den Chef der Präsidialverwaltung und Ex-Geheimdienstler Sergej Ivanov. Sie handelten so, wie Hannah Arendt es in ihrer klassischen Analyse „Macht und Gewalt“ erklärt: „Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist.“ Sie versuchten jedoch, den Gewaltcharakter zu verschleiern. Sie beschlossen eine Geheimdienstoperation und entsandten camouflierte Truppen. Russland annektierte die Krim. Am 18. März wurde sie offiziell in die Russländische Föderation aufgenommen. Gleichzeitig unterstützt Russland die Destabilisierung der Ostukraine. Die transnationale Eskalation erinnert an die Frühphase des Bosnien-Krieges. Auch in den Gebieten Donec’k und Luhans’k schwimmen im Strom nationalistischer Mobilisierung Kriminelle, Abenteurer aus militärpatriotischen Vereinen, Rechtsradikale, Söldner und Angehörige des Militärgeheimdiensts mit und treiben ihr schmutziges Geschäft. Aus der Besetzung von Verwaltungsgebäuden, der Errichtung von Straßensperren und dem Terror gegen Andersdenkende ist inzwischen ein Krieg geworden. In der Propagandaschlacht ist nicht mehr zu erkennen, auf welcher Seite die Loyalität verschiedener Bevölkerungsteile liegt, wie stark Zivilisten von dem Waffengang betroffen sind und wer die Verantwortung für die Toten trägt. Eine weitere Eskalation ist nicht auszuschließen. Russlands Annexion der Krim ist eine Zeitenwende. Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat ein Staat in Europa einen Teil eines souveränen Nachbarstaats völkerrechtswidrig eingegliedert. Was die Form des Vorgehens, die Mobilisierung und Propaganda nach innen und außen anbelangt, so sind die Parallelen zur Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion nach dem Hitler-Stalin-Pakt frappierend. Die Verletzung des Budapester Abkommens von 1994, mit dem Russland, die USA und Großbritannien der Ukraine für deren Verzicht auf ihre Nuklearwaffen die territoriale Integrität zugesichert hatten, entwertet derartige Garantien im Kampf gegen die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen. Die westlichen Staaten haben die Annexion der Krim zwar verurteilt. Doch was folgt daraus? Business as usual, kaschiert von zur Schau gestellter Irritation, kann nicht die Antwort sein. Die Russlandpolitik der Bundesregierung und der EU steht vor einem Trümmerhaufen. Fehleinschätzungen des Charakters und der Interessen des Systems Putin müssen korrigiert werden. Es bedarf schärferer Sanktionen, damit Russland die Destabilisierung der Ukraine endlich beendet, indem es die Grenze für Waffen und einsickernde Kämpfer schließt. Auch die Politik der „Östlichen Partnerschaft“ der EU gehört auf den Prüfstand. Es schadete der Reformbereitschaft in den Nachbarstaaten der EU, dass Brüssel immer in der Schwebe hielt, ob die Partnerschaft mehr ist als eine Alternative zur Mitgliedschaft. Die Ukraine braucht Reformen an Haupt und Gliedern. Es wäre ein Fehler, allzu viel vom neuen Präsidenten Petro Porošenko zu erwarten. Nach der Verfassungsänderung liegt wieder viel Macht beim Parlament. Es ist die gesamte ukrainische Gesellschaft, vor der Herkulesaufgaben liegen. Der Staat muss von Grund auf neu errichtet werden. Das Staatsgebiet ist amputiert, von territorialer Integrität als der Basis von Staatlichkeit kann keine Rede sein. Die Ukraine braucht eine neue Justiz, Polizei und öffentliche Verwaltung, überzeugende Konzepte gegen Korruption. Das Land steht wirtschaftlich am Rande des Zusammenbruchs. Selten hatte das Wort vom „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ mehr Berechtigung. Der Euromajdan hat die Europäer daran erinnert, was der Kern der Idee Europas ist. Die Ukrainer verdienen mehr Unterstützung, als die EU in den letzten Jahren anzubieten bereit war. Denn in der Ukraine steht mehr auf dem Spiel, als dass zum zweiten Mal nach der Orangen Revolution von 2004 ein demokratischer Aufbruch verpufft. Wenn die Ukraine allen Widerständen zum Trotz ihre Chance nutzt, wäre das für die Nachbarn im Osten Europas ein ähnliches Signal wie der Durchbruch der Solidarność im Juni 1989.