Titelbild Osteuropa 11-12/2012

Aus Osteuropa 11-12/2012

Unsortierte Bemerkungen
Von Lutosławski zur schlesischen Komponistenschule

Wojciech Kuczok

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Abstract in English

Abstract

Musique funèbre, das sind vierzehn Minuten totaler Musik. Es ist ein Meisterwerk, der höchste Flug einer polnischen Kompositionsidee. Geschaffen hat sie ein piekfeiner Herr mit grauen Haaren und einer sanften Stimme, einem scharfen Intellekt und einem heiteren Gemüt: Witold Lutosławski. Manche meinen, seine Musique funèbre sei soviel wert wie die gesamte polnische Musik des 20. Jahrhunderts. Doch das ist ein Irrtum. Vor allem die schlesische Komponistenschule umfasst Namen und Werke, an die es zu erinnern gilt. Lutosławski war ein herausragender Künstler. Aber zur Vollkommenheit fehlte ihm eines: Er war kein Oberschlesier.

(Osteuropa 11-12/2012, S. 103–110)

Volltext

Als ich unlängst nach vielen Jahren wieder Lutosławskis Musique funèbre (1958) hörte, begegnete ich mir selbst. Fünfzehn Jahre mochten vergangen sein, aber meine Begeisterung für dieses Werk ist unverändert geblieben: vierzehn Minuten totaler Musik, wohl der höchste Flug einer polnischen Kompositionsidee, ein Meisterwerk, das für ältere Musikliebhaber das Wesen der elegischen Schönheit darstellt und für jüngere ein Beweis für Witolds souveräne Herrschaft ist. Ein piekfeiner Herr mit grauen Haaren und einer sanften Stimme, einem erstklassigen Intellekt und einem heiteren Gemüt – so ist Lutosławski in Erinnerung geblieben. Umso mehr überrascht das finstere Dickicht seiner reifsten Werke. Schauder und Rührung, Haare, die auf den Händen zu Berge stehen, und Tränen, die heruntergeschluckt werden, um mein Weinen vor der Familie zu verbergen, denn ich müsste sagen, dass ich in Trauer um mich selbst weine, dass ich mich selbst im eigenen Grab vorstelle und will, dass genau diese Musik dort gespielt wird oder vielmehr wiedergegeben wird, denn das gesamte Orchester würde ja nicht in die Trauerhalle passen. Dieses größte Werk ist wie eine im Jenseits durchdachte und von einem lebenden Genie neu verfasste Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta. Lutosławski erweist Bartók die Ehre, stiehlt ihm aber den Ruhm. Denn die Musik funébre übertrifft alles, was der große ungarische Komponist je geschrieben hat. In diesem Sinne ist Lutosławskis Ehrerbietung unangebracht, niederdrückend und schmälernd. Nun, das temporale Wunder ist geschehen – wie vor fünfzehn Jahren spürte ich dieselbe Begeisterung und sah mich plötzlich selbst – als damals Fünfundzwanzigjährigen, der im Free Jazz nach widerspenstigen Disharmonien suchte, der von der avantgardistischen Gitarrenmusik und der elektronischen Musik besessen war, der sich der immer größeren Nähe zur E-Musik schämte, der Lutosławski und Penderecki zwar noch aus trotzigen Neigungen hörte, aber schon ahnte, dass er die gesamte Plattensammlung verkaufen, Klezmerklarinetten und sibirische Kehlgesänge unwiederbringlich verabschieden und auf dem Weg über die kontrollierte Aleatorik, gebändigte Zwölftontechnik und den Sonorismus mit menschlichem Antlitz beim klassischen Musikidiom ankommen würde. Brrr, vor fünfzehn Jahren ekelte ich mich noch vor diesem Gedanken und machte mich in „Dreckskerl“ über die Wiener Klassiker lustig, aber in meiner Seele reifte schon unwiderruflich die zärtliche Freundschaft zur E-Musik. Schauder und Zittern, das Gefühl, dass die Musique funébre soviel wert ist wie die gesamte polnische Musik des 20. Jahrhunderts, kehren nach Jahren wieder. Und ich sehe mich, wie ich etwas dünner und nervöser als heute da sitze und in der Musik versunken Tränen vergieße, im Verborgenen vor mir selbst. Ich antworte mir selbst: Nein, diese Trauermusik würde mir nicht genug sein, es gibt doch noch Sinfonien, um jede einzelne wäre es schade, es gibt ein Klavierkonzert, ach, wozu alles aufzählen, nein, entschieden schade wäre es um spätere und frühere Musik Lutosławskis, vielleicht am wenigsten schade wäre es um seine frühesten Werke. Und um Krzysztof Penderecki wäre es, zugegeben, auch schade, sei es nur wegen seines Threnos – Den Opfern von Hiroshima. Und um Paweł Szymański wäre es schade, und manchmal sogar um seinen pfiffigen Epigonen Paweł Mykietyn (seine Zweite Sinfonie leuchtet als ein beseeltes, reines und aufrichtiges Werk). Karol Szymanowski erwähne ich nicht mal, dieser war ja der Vater von allen, wie Fryderyk Chopin der Großvater war. Aber es wäre auch schade um die schlesische Komponistenschule, die mir aus biografischen Gründen am nächsten steht, denn ich bin in demselben Hörraum aufgewachsen, zu dem die großen Meister der Kattowitzer Musikakademie die Fenster entweder weit öffneten oder dicht schlossen. Erlauben Sie mir daher, unter Witold Lutosławskis Klängen und Nachklängen auf die Region einzugehen, mit der der heilige Witold zwar nicht viel gemeinsam hatte, die aber das gelobte Land für die zeitgenössische Musik und das spezifische Komponistenabbaurevier wurde. Oberschlesien ist auf der Landeskarte nach Lutosławskis Tod und nach Pendereckis Konversion zu pathetischem Sinfonismus und liturgischem Sozrealismus der musikalisch lebendigste Ort. Ich habe keine Lust über Witold Lutosławskis Schlesisches Triptychon zu schreiben, denn wir lieben ihn ja schließlich nicht für das melodische Überdauern des Sozrealismus. Er knüpft zwar anmutig an die Folklore an und erscheint in den „sinfonischen Liedern“ edel, doch es handelt sich hier um den sogenannten frühen Lutosławski, der ähnlich wie der späte Penderecki ambivalente Gefühle hervorruft. Der frühe, tonale Lutosławski wäre zu vergleichen mit den Beatles aus ihrer Zeit von Please please me. Wenn man einen Narren an Abbey Road gefressen hat, kann man die Erstlinge der Liverpooler nur noch mit Nachsicht betrachten. Lutosławski griff auf die schlesische Folklore zurück, was sogar bei schlesischen Komponisten eine Seltenheit war, die viel lieber musikalische Traditionen aus Podhale, dem Karpatenvorland, aufnahmen. Die deutlichste Spur der oberschlesischen Folklore findet sich im dritten Satz Lento. Cantabile-semplice der Dritten Sinfonie von Henryk Mikołaj Górecki (1933–2010). Der Komponist verarbeitete hier das oberschlesische Volkslied „Kajze mi sie podzioł mój synocek miły? (Wo ist mein lieber Sohn geblieben?), das Klagelied einer trauernden Mutter um ihren Sohn, der in einem der oberschlesischen Aufstände von 1919–1921 fiel. Die Faszination für die Volkstümlichkeit gehört zu einer sehr lebendigen Tradition in der polnischen Musik spätestens seit Fryderyk Chopin (Mazurken) und Karol Szymanowski (Mazurken, kurpische Lieder, Podhale-Motive in den Violinkonzerten und im Ballett Harnasie). Auch Werke von Grażyna Bacewicz, der First Lady der polnischen Nachkriegsmusik, waren stark volkstümlich geprägt – was auch immer sie komponierte, sagen manche bösartig, klang wie der Volkstanz Oberek. Der geistige Vater und der wichtigste Nestor der schlesischen Komponistenschule war Bolesław Szabelski (1896–1979), der mit der Musikakademie in Kattowitz sein ganzes berufliches Leben eng verbunden war. Szabelski war Schüler von Karol Szymanowski und Lehrer wiederum einer Generation von Musikern, allen voran von Henryk Mikołaj Górecki. Diese schöne Kontinuität macht die Kattowitzer Musikakademie aus: Seit ihrer Gründung im Jahr 1929 bilden hier die reifen Komponisten ihre würdigen Nachfolger aus. Szabelskis Musik aus der Vorkriegszeit war von seinem Lehrer und Meister Karol Szymanowski aus Tymoszówka inspiriert – sei es in der Toccata der Suite für Orchester op. 10, die sich in ihrer Bewegung und ihren vorwärts drängenden Synkopen Igor Stravinskijs Le sacre du printemps nähert. Szabelskis Concerto grosso (1954) mit seinem finsteren Marsch in Lento ist eine herausragende Leistung der polnischen Sinfonik der ersten Nachkriegszeit. Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre, also in seiner späten Schaffensphase, wandte sich Szabelski der Avantgarde zu und beeindruckte mit seiner radikalen Musiksprache im Warschauer Herbst. Er zeigte damit, dass er ein offener und flexibler Geist mit einer starken musikalischen Vorstellungskraft war – die Avantgarde schien zu der Zeit nämlich eine Sache der jungen Komponisten zu sein. Wenn man zum Beispiel seine Aphorismen (1962) heute hört, wird man ergriffen von der Inbrunst, mit welcher der hochbetagte Komponist die Möglichkeiten der Zwölfttonmusik in der Orchestermusik erforschte – als ob er gespürt hätte, dass er nur auf diesem Weg seine Autorität unter den jungen Wilden aufrechterhalten konnte. Mit seiner Fünften Sinfonie wollte Szabelski auf die sonoristischen Experimente von Pendereckis Threnos antworten. Wenn ich Szabelskis Kompositionen höre, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er ein älterer gutmütiger Herr war, der sich bemühte, mit den wilden Trends in der Musik mitzuhalten, obwohl sein Geist von der neoklassizistischen Tradition vom Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt wurde. Witold Szalonek (1927–2001) schuf unter den großen Kattowitzer Komponisten das extremste Musikidiom – ein weltberühmter Avantgardist, der in Berlin verstarb, einer Stadt, deren Zauber er, wie viele andere DAAD-Künstlerstipendiaten vor und nach ihm, erlegen war. Die Musikkritikerin Ewa Szczecińska, eine Expertin für Neue Musik, nannte Szaloneks Sonorismus „humanistisch“ im Unterschied zu dem rein technischen Sonorismus – Szalonek schloss sich nicht in einem Klanglaboratorium ein, sondern im Gegenteil, sogar beim radikalsten Experimentieren mit Textur und Farbe der Klänge vergaß er keinen Augenblick, dass er Musik schuf. 1996 komponierte er die Sinfonie der Rituale, die durch eine schlichte und kühne Geste beeindruckt, die sich nur ein „Papst der Avantgarde“ leisten konnte: Die Sinfonie beginnt mit dem Stimmen der Instrumente. Diese Geste ist unentbehrlich in einem Werk, das von der Idee des Werdens lebt und das sich quasi „vor unseren Ohren“ vollzieht, aber nicht in der Folge von Improvisation, sondern vielmehr als Entstehen des Werks aus dem Chaos der Klänge. Das gemeinsame Warten des Komponisten und der Zuhörer auf einen Übergangsmoment von Lärm zur Musik ist in der Sinfonie der Rituale der außergewöhnlichste Effekt. Die Schlesier lieben die Goralen und haben auch eine besondere Schwäche für die Musik der Tatra. Sogar Witold Szalonek, der sich schließlich von seiner Rolle als Chefexperimentator stark distanzierte (zurecht hielt er den Begriff eines Klassikers der Avantgarde für „wertlos und zu einem gar lächerlichen Ausmaß abgenutzt“), schöpfte in seiner späten Chaconne. Phantasie für Violine solo (1997) gleichermaßen aus der Bach-Tradition wie aus Szymanowskis Musik und aus der Tatra-Folklore – auch wenn man dies eher aus der Erklärung und Intention des Autors als aus seinem Werk selbst heraushören kann. Vom Zakopane-Mythos offenbar berauscht waren zwei berühmte Komponisten, die mit den Kreisen der Kattowitzer Musikakademie verbunden waren: Henryk Mikołaj Górecki und Wojciech Kilar. Beide durchliefen eine ähnliche musikalische Entwicklung. Einen vergleichbaren Weg legte auch Krzysztof Penderecki aus Kleinpolen zurück. Alle drei begannen mit der Avantgarde (vor allem mit dem Sonorismus), um früher oder später die Richtung Neoklassizismus oder gar sakrale Musik einzuschlagen. Der Musikwissenschaftler und Musikkritiker Andrzej Chłopecki prägte für deren spätere religiöse Werke den Namen „liturgischer Sozrealismus“ – und meinte damit Pathos und Schlichtheit dieser Musik. Während des Pontifikats von Johannes Paul II. kommt noch das Hymnische hinzu, das in der Zeit zum verbreiteten Personenkult in Polen gehörte. Wojciech Kilar komponierte zuerst einfache neoklassizistische Werke, die sein außergewöhnliches melodisches Talent schon sehr früh erkennen lassen (so etwa die Drei Präludien für Klavier aus der Studentenzeit; 1951). Er wurde zum herausragenden Komponisten der polnischen Filmmusik (das zweite Präludium antizipiert die spätere wunderbare Nocturne aus Krzysztof Zanussis Film „Strukturen des Kristalls“(1968). Dann ließ er sich auf den Sonorismus ein, und aus dieser Zeit stammt zum Beispiel das berühmte Orchesterwerk Riff 62 (1962). In den 1970er Jahren wendete sich Kilar der tonalen Musik zu. Er distanzierte sich von der sonoristischen Avantgarde und komponierte illustrative und auf einer klaren Melodie aufbauende Werke, was für Kilar die Bekehrung par excellence bedeutete. Diese Volte ging für den Komponisten nicht nur mit einer ästhetischen, sondern vielmehr mit einer geistigen, religiösen Wandlung einher. Ähnliches passierte mit Henryk Mikołaj Górecki, obwohl er sich nie so weit von seinen experimentellen Anfängen entfernte. Eigentlich wurde Kilar zur Ikone der Popkultur, nicht nur als Autor von Filmmusik, sondern auch als Autor von regelrechten Schlagern der ernsten Musik, die für die Masse der Zuhörer zugänglich und verständlich waren. Solch ein Musikidiom ist als besonders gefährlich zu betrachten, denn es führt bei den Musikignoranten zu einer verwirrenden Selbstzufriedenheit mit der eigenen „Ent-Rüpel-ung“: Statt ein Mehr an Kultur abzubekommen, wollen sie lediglich keine Rüpel mehr sein, und dafür reicht ihnen der späte Kilar vollkommen. Seit die Werke des inbrünstig betenden Kilar aus göttlicher Inspiration geschaffen werden, lassen sie keine Traditionen der Zwölftonmusik mehr zu; anstelle der neuen Klang- und Formexperimente erklingen Harmonie, Melodie und die verhätschelte Triade der platonischen Werte des Schönen, Wahren und Guten. Kilar verband in den 1970er Jahren seine Faszination für die goralische Folklore mit der Werkstatt eines klassischen Komponisten bestens – wie in der berühmten, zauberhaften, dynamischen Orawa, die mit einem lauten „Hej!“ des Orchesters abgeschlossen wird. Ins Schwarze der polnischen Volksmusik und der Tatra-Tanzmelodie dürfte nur Meister Karol höchstpersönlich besser getroffen haben. Die „unfilmische“ Musik des späten Kilar eignet sich trotzdem hervorragend für die Illustration von Filmen, sie passt viel besser ins Kino als in die Philharmonie – wie etwa das 1. Klavierkonzert. Kilars zahlreiche filmische Werke sind Meisterwerke des Genres. Henryk Mikołaj Górecki ging ebenfalls den Weg vom Experimentallabor zum Religionsunterricht. In jungen Jahren wurde er berühmt als aggressiver und kompromissloser Sonorist, seine Werke aus der Zeit des Zyklus Genesis (1962–1963) beeindruckten durch die Kraft der Cluster und Glissandi – als ob er damals inspiriert worden wäre vom Hörraum eines großen Industrieballungsgebiets. Die Brutalität seiner frühen „industriellen“ Werke wird in der späten Schaffensphase durch idyllische Kantilenen und lebhafte Synkopen abgelöst, die klanglich offenbar durch Dorflandschaften inspiriert wurden. Henryk Mikołaj Górecki stand als Komponist von Scontri (1960) und Refrain (1965) an der Spitze der polnischen Avantgardemusik der Nachkriegszeit. Dann begann er religiöse Werke zu komponieren und knüpfte etwa in der Lerchenmusik (1984) oder in den Streichquartetten an den Minimalismus an. Während Kilars Religiosität eher zurückhaltend war, klang sie bei Górecki kämpferisch. Góreckis Konversion zur Musik, bei der er offen auf die Tradition des polnischen Katholizismus zurückgriff – das beginnt mit Motiven aus Motetten von Wacław z Szamotuł (Wenzel von Samter; um 1520–1560), geht über Werke, die Papst Johannes Paul II. gewidmet waren, und reicht bis zu den späten Pieśń Rodzin Katyńskich (Lieder der Katyń-Familien) –, hatte eine politische Dimension. Denn der demonstrative Katholizismus war in der Volksrepublik Polen beinahe gleichbedeutend mit einem oppositionellen Akt. Góreckis Idiom der Tatramusik ist genauso intensiv wie bei Kilar, doch niemals wird es direkt ausgedrückt (außer vielleicht in dem großartigen Cembalokonzert, das für Elżbieta Chojnacka, die bedeutendste Interpretin zeitgenössischer Cembalomusik, geschrieben wurde). Außerordentlich wichtig für die europäische Musik waren drei gleichaltrige Komponisten, die die sogenannte „Stalowa Wola-Generation“ repräsentierten. Zum ersten Mal hörte man sie auf dem Festival der jungen Talente in Stalowa Wola. Aleksander Lasoń (geboren 1951 in Siemianowice) erhielt als knapp Dreißigjähriger für die Erste Sinfonie den ersten Preis der Internationalen Komponistentribüne der UNESCO. Seine Musikidee kommt aber besonders in seinen Streichquartetten zum Ausdruck, die oft vom berühmten Schlesischen Quartett aufgeführt werden. Er gilt als Meister der Glissandi, die an die vertrauten Geräusche der oberschlesischen Städte wie die wehmütig singenden Straßenbahnen und die heulenden Sirenen anklingen – Echos der Großstadt. Offensichtlich wurde auch Lasoń von der neoromantischen Wende in der polnischen Musik erfasst. Der gleichaltrige Eugeniusz Knapik wird mit seinem einzigen Streichquartett in die Geschichte der polnischen Kammermusik eingehen. Dieses zweiteilige Werk (Dickicht und Lied) wurde von Andrzej Chłopecki als das beste Streichquartett in der polnischen Musikgeschichte betrachtet, und ich finde hier keine Gegenargumente. Der früh verstorbene Andrzej Krzanowski erarbeitete sich ebenfalls eine einzigartige musikalische Handschrift; er lebte in Czechowice, am Fuß der Schlesischen Beskiden, und erforschte die Einsatzmöglichkeiten des Akkordeons in der E-Musik. In der Kattowitzer Akademie werden junge Talente gepflegt, deren Namen sich her­umsprechen werden. Unter den Jüngsten möchte ich besonders auf den Gleiwitzer Aleksander Nowak (geboren 1979) aufmerksam machen, der auf verrückte Weise die Tradition des Segelliedes Fiddler’s Green and White Savannas Never More neu definierte. Witold Lutosławski war mit der Kattowitzer Hochschule nie verbunden, mit Schlesien hatte er keine erwähnenswerten Verbindungen, doch seine Erste Sinfonie widmete er Grzegorz Fitelberg, dem langjährigen Dirigenten des Kattowitzer Sinfonieorchesters. Zur Vollkommenheit fehlte Lutosławski also nur eins: Er war kein Oberschlesier. Aus dem Polnischen von Dorota Stroińska, Berlin Erschienen in: Osteuropa, 62. Jg., 11–12/2012, S. 103–110 Wojciech Kuczok (1972), Schriftsteller

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