Titelbild Osteuropa 12/2011

Aus Osteuropa 12/2011

Editorial
Quo vadis, Hungaria?

Manfred Sapper, Volker Weichsel

(Osteuropa 12/2011, S. 7–8)

Volltext

Einst war Ungarn ein Schrittmacher für Demokratie und Freiheit, ein Vorbild für wirtschaftliche Reformen. Heute steckt es in einer tiefen Krise. Nach einem Jahrzehnt hemmungslos populistischer Politik liegt die Wirtschaft danieder, die Verschuldung wächst, das Sozialsystem ist marode, und die Korruption frisst sich tief in die Gesellschaft. Dafür tragen alle Parteien Verantwortung. Enttäuschung, Wut und Angst vor sozialem Abstieg haben dem Fidesz – Ungarischen Bürgerbund bei den Wahlen im Frühjahr 2010 einen Erdrutschsieg beschert. Seitdem verfügt der Fidesz unter Viktor Orbán im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit. Es schien eine einmalige Gelegenheit gekommen, um die Strukturprobleme des Landes anzugehen. Doch der Fidesz orientiert sich nicht am Gemeinwohl, Ministerpräsident und Parteiführer Orbán sieht die ungewöhnliche Macht einer verfassungsändernden Mehrheit nicht als Bürde der Verantwortung. Vielmehr arbeitet der von einer Kultur des Unbedingten geprägte Fidesz an einer tiefgreifenden Umgestaltung des politischen Systems. Die Partei berauscht sich an der Machtfülle der Zweidrittelmehrheit. Das Schlagwort kétharmad (zwei Drittel) scheint alles zu rechtfertigen, insbesondere den Umbau des zuvor auf Konsens ausgerichteten politischen Systems. Für Viktor Orbán fand im April 2010 eine „Revolution in den Wahlkabinen“ statt. Die Wähler hätten ihm und dem Fidesz das Mandat erteilt, Ungarn nach seinem Weltbild umzubauen. In Ungarn, das von Feinden im Inneren und von außen bedroht sei, gelte es – „nach verworrenen zwei Jahrzehnten des Übergangs“ –, ein „zentrales Kraftfeld“ zu schaffen. Was unter diesem dunklen Begriff zu verstehen ist, darüber kann heute kein Zweifel mehr bestehen. Orbán und die Seinen haben sich den Staat und die Gesellschaft unterworfen, um die eigene Macht langfristig zu sichern. Der Fidesz hat ein Element institutioneller Machtbeschränkung nach dem anderen beseitigt und Grundlagen der liberalen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verletzt. Nachdem das Verfassungsgericht missliebige Entscheidungen getroffen hatte, wurden seine Kompetenzen beschnitten. Mehrfach verabschiedete das Parlament mit der Zweidrittelmehrheit des Fidesz Gesetze mit rückwirkender Geltung. Das Pensionsalter von Richtern und Staatsanwälten wurde herabgesetzt, um die Stellen vorzeitig mit eigenen Gefolgsleuten neu besetzen zu können – und anschließend wieder erhöht. In gut vier Wochen peitschte der Fidesz eine neue Verfassung durch das Parlament. Selbst nüchterne Beobachter konstatieren, dass das neue Grundgesetz mit einer Präambel, die das Weltbild des Fidesz fixiert, so ideologisiert ist wie die stalinistische Verfassung von 1949. Der staatsförmliche Name „Republik“ wurde fallen gelassen. Weshalb, bleibt unklar. Ein Symbol ist es allemal. Nicht lange nach Beginn der Legislaturperiode verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das die Medien zentraler Kontrolle unterstellte und mit Grundlagen der Pressefreiheit wie dem Informantenschutz und dem Redaktionsgeheimnis bricht. Über 900 Journalisten wurden inzwischen aus den staatlichen Radio- und Fernsehanstalten entlassen. Was offiziell mit Sparzwängen begründet wird, riecht nach politischer Säuberung. In der Hauptstadt Budapest wurden ein Rechtsradikaler zum Theaterdirektor und ein Antisemit zum Intendanten ernannt. Auch das hat Symbolkraft. In nur anderthalb Jahren hat der Fidesz eine Ordnung errichtet, die an ein Einparteienregime erinnert. Parteigenossen sind an den Schaltstellen der Macht platziert worden. Sie kontrollieren die Medien und benennen die Richter. Sie leiten die Generalstaatsanwaltschaft, den Rechnungshof und die Wettbewerbsbehörde. Die Übernahme der Landeswahlkommission und die Veränderung des Wahlsystems haben den Zweck, die Macht der Partei auf Dauer abzusichern. Uneingeschränkte Machtkonzentration ist das zentrale Prinzip des Fidesz. Das dahinter stehende Denken ist mit Pluralismus und Parteienwettbewerb unvereinbar. Ob es 2014 freie Wahlen geben wird, ist der Lackmustest für die Demokratie in Ungarn. Das alles ist nicht Sache der Ungarn allein. Ungarn ist Mitglied der Europäischen Union. Die behördlichen Eingriffe in die Pressefreiheit, die Beschneidung der Unabhängigkeit der Zentralbank oder die selektive Besteuerung ausländischer Unternehmen widersprechen EU-Recht. Damit handelt es sich um die Angelegenheit der gesamten EU. Mag die Entwicklung in Ungarn unter Orbán angesichts der Staatsschuldenkrise in der EU irrelevant erscheinen, so ist doch eines offensichtlich: In Budapest geht es um mehr als um eine innere politische Entwicklung. Auf dem Spiel steht der politische Kernbestand des geeinten Europa: Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Dies unmissverständlich der Führung in Budapest klarzumachen und die entsprechenden Konsequenzen zu fordern, ist Sache aller Europäer. Quo vadis, Hungaria? Ist Ungarn wieder Vorreiter wie 1989 bei der Überwindung des Kommunismus? Nun auf dem Weg in eine autoritäre Ordnung und eine „nationale Wirtschaft“? Übernimmt Ungarn, wie Orbán es wünscht, in Ostmitteleuropa die „Pionierrolle“ beim Abschied aus dem Westen, der nicht mehr über „die Rezepte für den Epochenwechsel“ verfüge? Nichts spricht dafür. Der wirtschaftliche Niedergang des Landes geht weiter. Der internationale Vertrauensverlust verschärft ihn sogar. Ungarn ist nahezu pleite. Orbán manövriert das Land mit seinem rückwärtsgewandten Denken, das an fragwürdige Traditionen der Zwischenkriegszeit anknüpft, von Verschwörungstheorien und Freund-Feind-Denken gekennzeichnet ist, in die Isolation. Will Ungarn aus der Sackgasse herausfinden, muss es sich vom Populismus jeglicher Couleur verabschieden. Nicht das von Orbán umworbene China wird dem Land helfen. Ungarns Zukunft liegt in Europa. Dies demonstrieren die Studien zu Geschichte, Gesellschaft und Kultur in diesem Band. Wenn die Bürger des Landes sich schonungslos Rechenschaft über die Lage ablegen, hat Ungarn die Chance auf einen Neubeginn.