Titelbild Osteuropa 7-8/2009

Aus Osteuropa 7-8/2009

Russland kämpft
Gesetz und Kommission gegen Geschichtsfälscher

Dokumentation

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Abstract in English

(Osteuropa 7-8/2009, S. 273–276)

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Geschichte ist ein hochexplosiver Stoff. Wird sie nicht mit Sorgfalt behandelt und richtig interpretiert, droht Gefahr für Leib und Leben der Bevölkerung – besonders in Russland. Doch dort gibt es weitsichtige Minister, die von Amts wegen verpflichtet sind, drohenden Schaden von ihren Landsleuten abzuwenden. Gegen diese offenbar akute Gefahr trat im Februar 2009 der Minister für Katastrophenschutz, Sergej Šojgu, auf den Plan. Vor Kriegsveteranen sagte der Minister im Range eines Generalsobersten all jenen den Kampf an, die „die Ergebnisse des Krieges, die Verdienste und Heldentaten des sowjetischen Volkes“ leugnen würden. Wer den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg in Abrede stelle oder schmälere, solle strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Wen Šojgu mit seinem historischer Katastrophenschutz im Auge hatte, liegt auf der Hand. All jene europäischen Völker, die durch den Hitler-Stalin-Pakt verraten und zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion zerrieben wurden: die Balten, die Polen, die Rumänen aus Bessarabien und der nördlichen Bukowina, aber auch Bewohner der westlichen Ukraine. Dass hier Hunderttausende Menschen Opfer des stalinistischen Terrors wurden, schikaniert, inhaftiert, nach Sibirien deportiert oder exekutiert wurden, und dass Millionen von Menschen dieser Länder die von Moskau reklamierte „Befreiung vom Faschimus“ mitunter gar nicht als Befreiung empfanden, entspricht der historischen Realität. Doch diese passt nicht in das Weltbild der politischen Klasse in Russland, die sich seit Vladimir Putin wieder um ein staatlich gelenktes, positives, patriotisches Geschichtsbild bemüht. In dieser Hinsicht war Šojgus Ankündigung nur ein Mosaikstein, der sich zu den Schulbüchern und Handreichungen für Lehrern fügt, in denen Stalin mal als „erfolgreicher Manager“, mal als progressiver Modernisierer figuriert. Am 20. April 2009 wurde in Moskau der Gesetzentwurf „Zur Verhinderung der Rehabilitierung des Nationalsozialismus, der nationalsozialistischen Verbrecher und ihrer Handlanger in den neuen unabhängigen Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR“ in die Duma eingebracht. Er sieht drastische Sanktionen gegen Individuen, Organisationen und Staaten vor, die des – diffus gefassten – Strafbestands der „Rehabilitierung“ für schuldig befunden werden. Zur Erinnerung: Als im Frühjahr 2007 das sowjetische Kriegerdenkmal aus dem Zentrum von Estlands Hauptstadt Tallin auf einen Soldatenfriedhof verlagert wurde, sahen manche Kreise in Moskau nationalsozialistische Handlanger am Werk. Würde der Gesetzentwurf Realität, reichten die Sanktionen von Freiheitsentzug, Auflösung und Verbot der inkriminierten Organisationen bis zur Ausweisung diplomatischer Vertreter. Am 20. Mai 2009 ordnete Russlands Präsident Dmitrij Medvedev per Dekret die Bildung einer „Kommission beim Präsidenten der Russländischen Föderation zur Verhinderung von Versuchen der Geschichtsfälschung zum Nachteil der Interessen Russlands“ an. Unter den 28 Mitgliedern sind neben dem Leiter der russländischen Archivverwaltung Vladimir Kozlov und vier Historikern (Natalija Naročnickaja, Andrej Sacharov, Aleksandr Čubarjan und Nikolaj Svanidze) vor allem hohe Beamte des Justizministeriums, der Auslandsaufklärung, des Generalstabs, des Außenministeriums, des Sicherheitsrats, des Inlandsgeheimdienstes und der Präsidialverwaltung. Diese Zusammensetzung lässt ahnen, dass es der Kommission kaum um eine Neuauflage des „Streits der Fakultäten“ um die historische Wahrheit geht. In dem von Medvedev unterzeichneten Dekret werden die zentralen Aufgaben der Kommission festgelegt. Sie soll a) Informationen über Fälschungen historischer Fakten und Ereignisse zum Zweck der Herabsetzung des internationalen Ansehens der Russländischen Föderation zusammenfassen und analsysieren und dem Präsidenten der Russländischen Föderation darüber Bericht erstatten, b) eine Strategie zur Verhinderung von Fälschungen historischer Fakten und Ereignisse zum Nachteil der Interessen Russlands erarbeiten, c) dem Präsidenten der Russländischen Föderation Vorschläge über geeignete Maßnahmen zur Verhinderung der Fälschung historischer Fakten und Ereignisse zum Nachteil der Interessen Russlands unterbreiten, d) die Vorschläge von föderalen Behörden, Behörden der Subjekte der Russländischen Föderation sowie von Organisationen zur Verhinderung von Fälschungen historischer Fakten und Ereignisse zum Nachteil der Interessen Russlands zum Nachteil der Interessen Russlands prüfen und ihre Tätigkeit koordinieren, e) Empfehlungen zu angemessenen Reaktionen auf Versuche der Fälschung historischer Fakten und Ereignisse zum Nachteil der Interessen Russlands und zur Abwendung von deren möglichen negativen Konsequenzen erarbeiten. Der Kommission gehören an: Naryškin, A.D. – Leiter der Präsidialverwaltung (Vorsitz) Kalina, I.I. – Stv. Ministerin für Bildung und Wissenschaft (Stellvertretender Vorsitz) Siroš, I.I. – Assistent des Leiters der Präsidialverwaltung (Stellvertretender Vorsitz) Demidov, I.I. – Sektionsleiter in der Abteilung Innenpolitik der Präsidialverwaltung (Verantw. Sekretär der Kommission) Alchanov, A.D – Stv. Justizminister Busygin, A.E. – Stv. Kulturminister Butko, E.Ja. – Stv. Leiterin der Föderalen Agentur für Bildungswesen Vinokurov, S.Ju. – Leiter der Abteilung für interregionale und internationale kulturelle Beziehungen in der Präsidialverwaltung Dergačev, V.V. – Stellvertretender Direktor des Föderalen Dienstes für technologische und Exportkontrolle (FSTEK), verantwortlicher Sekretär der Interministeriellen Kommission zum Schutz von Staatsgeheimnissen Zatulin, K.F. – Erster Stv. Vorsitzender des Dumaausschusses für die GUS und die Beziehungen zu den Landsleuten (in Abstimmung) Zimakov, V.A. – Abteilungsleiter beim Auslandsaufklärungsdienst (SVR) Kambolov, M.A. – Stv. Leiter der Föderalen Agentur für Wissenschaft und Innovation (Rosnauka) Kozlov, V.P. – Leiter der Föderalen Archivagentur (Rosarchiv) Makarov, N.E. – Chef des Generalstabs der Streitkräfte – Erster Stellvertretender Verteidigungsminister Markov, S.A. – Stv. Vorsitzender des Dumaausschusses für gesellschaftliche Vereinigungen und religiöse Organisationen (in Abstimmung) Nazarenko, V.P. – Stv. Leiter der Abteilung Außenpolitik in der Präsidialverwaltung Naročnickaja, N.A. – Präsidentin der Stiftung zur Untersuchung historischer Perspektive (in Abstimmung) Povalko, A.B. – Stellvertretender Leiter der Föderalen Agentur für Jugendfragen (Rosmolodež’) Romančenko, A.Ju. – Stv. Leiter der Föderalen Agentur für Presse und Massenkommunikation (Rospečat’) Sacharov, A.N. – Direktor des Instituts für russländische Geschichte der Russländischen Akademie der Wissenschaften (in Abstimmung) Svanidze, N.K. – Vorsitzender des Ausschusses für interethnische Beziehungen und Gewissensfreiheit der Gesellschaftskammer (in Abstimmung) Sobolev, W.A. – Stv. Sekretär des Sicherheitsrates der Russländischen Föderation Titov, V.N – Stellvertretender Außenminister Toršin, A.P. – Erster Stellvertretender Vorsitzender des Föderationsrats (in Abstimmung) Christoforov, V.S. – Abteilungsleiter im Föderalen Sicherheitsdienst (Inlandsgeheimdienst) Čubar’jan, A.O. – Direktor des Instituts für allgemeine Geschichte der Russländischen Akademie der Wissenschaften (in Abstimmung) Šabanov, Ja.V. – Leiter der Referentenabteilung des Präsidenten Šipov, S.W. – Abteilungsleiter im Ministerium für regionale Entwicklung Zwei Tage nach diesem Erlass veröffentlichte die Menschrechtsorganisation MEMORIAL eine Erklärung, die wir im Wortlaut wiedergeben.

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