Titelbild Osteuropa 6/2009

Aus Osteuropa 6/2009

Gott und die Welt
Kirche und Religion in Osteuropa

Thomas Bremer, Jennifer Wasmuth

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Abstract in English

Abstract

Die Religionsgemeinschaften in Ostmittel- und Osteuropa weisen Ähnlichkeiten auf. Sie hängen mit den vergleichbaren historischen Erfahrungen im Kommunismus zusammen. Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft erwachte die Religion zu neuem Leben. Die gesellschaftliche Stellung der Kirchen veränderte sich. Überall spielen Religionsgemeinschaften eine Rolle bei der Herausbildung nationaler und staatlicher Identität. Die Grenzen ihres Einflusses bestimmt nicht nur die Frage, ob sie sich in einer Mehrheits- oder Minderheitssituation befinden. Auch ihre innere Verfassung und ihre Überzeugungen sind für die Position der Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft und ihre Beziehung zur Politik von Bedeutung.

(Osteuropa 6/2009, S. 7–28)

Volltext

Die Religionsgemeinschaften in Ostmittel- und Osteuropa weisen Ähnlichkeiten auf. Sie hängen mit den vergleichbaren historischen Erfahrungen im Kommunismus zusammen. Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft erwachte die Religion zu neuem Leben. Die gesellschaftliche Stellung der Kirchen veränderte sich. Überall spielen Religionsgemeinschaften eine Rolle bei der Herausbildung nationaler und staatlicher Identität. Die Grenzen ihres Einflusses bestimmt nicht nur die Frage, ob sie sich in einer Mehrheits- oder Minderheitssituation befinden. Auch ihre innere Verfassung und ihre Überzeugungen sind für die Position der Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft und ihre Beziehung zur Politik von Bedeutung. Religion ist eine Dimension im Leben des Menschen, die ihn nach anderen Maßstäben prägt, als dies Politik, Kultur oder Wirtschaft vermögen. Religion bestimmt nicht nur die innere Überzeugung vieler Menschen, sondern auch deren Verhalten in unterschiedlichen Situationen. Religion ist mehr als ein beliebiger Punkt neben anderen: Religion betrifft das gesamte Leben des Menschen, und zwar nicht nur sein physisches, materielles Leben, sondern sein ewiges Schicksal. Sie geht davon aus, dass es über das sichtbare Dasein hinaus eine weitere Dimension gibt, die viel wichtiger als alle anderen ist. Für religiöse Menschen ergibt sich daraus die höchste Bedeutung des Glaubens, während für Menschen ohne Glauben eine jenseitige Dimension keine Rolle spielt und auch ihr Verhalten nicht beeinflusst. Für sie agieren religiöse Menschen oft irrational, weil sie eben nicht einer Ratio folgen, die nur das Sichtbare, Messbare und Berechenbare in ihre Überlegungen einschließt. An den Ländern und Gesellschaften Ostmittel- und Osteuropas lässt sich die widerspenstige und nicht leicht eingängige Bedeutung der Religion besonders deutlich sehen. Bis zu den politischen Veränderungen in den späten 1980er Jahren galt Religion nach der herrschenden Ideologie als ein Phänomen, das eigentlich keine oder keine große Bedeutung haben sollte. Da dies mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmte, scheuten die kommunistischen Regimes nicht davor zurück, die Wirklichkeit mitunter auch gewaltsam der Ideologie anzupassen. In manchen Gesellschaften schien dies sehr gut zu funktionieren, in anderen, von denen die polnische das bekannteste Beispiel ist, hatte das staatliche Vorgehen eher eine gegenteilige Wirkung. Nach dem Ende der kommunistischen Systeme erwachte die vielerorts für überwunden gehaltene Religion zu neuem Leben. Sie zeigt sich im Bild der Städte und Dörfer, in den Medien, im Anspruch und Auftreten von religiösen Amtsträgern, im Verhalten und der Rhetorik von Personen des öffentlichen Lebens. Die Beziehung zwischen Staat und Kirche gilt häufig als Parameter, um diese Veränderung zu erfassen, doch gibt es zahlreiche andere Bereiche, in denen sie ebenso deutlich ist. Es zeigt sich, dass die äußere und innere Verfassung der verschiedenen Religionsgemeinschaften, ihre Strukturen und ihre Überzeugungen größere Bedeutung für ihre Positionen haben als die jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. ORTHODOXE KIRCHEN Wenn westliche Medien die Transformation in Osteuropa verfolgen, findet die veränderte Rolle der orthodoxen Kirchen in Staat und Gesellschaft gebührende Berücksichtigung. Vielfach thematisieren sie jedoch allein die Verquickung kirchlicher und staatlicher Interessen und kritisieren die fehlende Trennung von Staat und Kirche. Manche Beobachter beschwören sogar die Gefahr, in den orthodox geprägten Ländern Osteuropas könnten sich „Staatskirchen“ etablieren und es drohe eine massive „Klerikalisierung der Gesellschaft“. Szenen von hochrangigen Politikern, die sich im kirchlichen Zusammenhang zeigen, wie der georgische Staatspräsident Micheil Saakaschwili ehrfürchtig den Segen von Patriarch-Katholikos Ilia II. erbitten oder sich wie Russlands Staatspräsident Dmitrij Medvedev am offenen Grab des jüngst verstorbenen Patriarchen Aleksij II. andächtig bekreuzigen, tun ein Übriges, um diesen Eindruck noch zu verstärken. Auch in West- und Ostmitteleuropa werden Kirchen an Staatsakten beteiligt. Insofern ist dies kein Spezifikum osteuropäischer Staaten. Gleichzeitig mangelt es gerade in Deutschland an einer Selbstreflexion, wie stark bei diesen Befürchtungen die Reserviertheit gegenüber jeglicher Form von öffentlicher Inszenierung mitschwingt, die sich als Gegenreaktion auf die Praxis des Nationalsozialismus verstehen lässt, als der öffentliche Raum durch perfekte Inszenierungen vereinnahmt und ideologisch besetzt wurde. Schließlich gibt es einen dem Protestantismus eigenen, grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber kultischen Inszenierungen, eine latente oder auch manifeste Skepsis gegenüber einer primär visuellen Vermittlung von Glaubensinhalten. Dass in der Orthodoxie und in den von ihr geprägten Gesellschaften „Inszenierungen“ schon immer eine konstitutive Bedeutung hatten und in transformierter Gestalt auch vom sowjetischen Staat übernommen wurden, bleibt unberücksichtigt. So aber werden aus dem öffentlichen Auftreten der Kirche Schlussfolgerungen gezogen, die viel eher etwas über den historischen oder konfessionellen Kontext aussagen als über den realen Einfluss der Kirchen auf Politik und Gesellschaft. Dass orthodoxe Kirchen überhaupt wieder in dieser Form in Erscheinung treten können – wenn etwa Zehntausende Moskauer sich von dem verstorbenen Patriarchen Aleksij II. in der wieder aufgebauten Christus-Erlöserkathedrale verabschieden, die Stalin in den 1930er Jahren hatte einreißen lassen –, ist ohne Frage Ausdruck des Mitte der 1980er Jahre einsetzenden Wandels und der wiedergewonnenen gesellschaftlichen Bedeutung der Kirchen. Daraus aber den Schluss ziehen zu wollen, die Kirchen seien politisch höchst einflussreich und der eigentlich bestimmende gesellschaftliche Faktor, scheint voreilig, solange nicht Fragen nach dem rechtlichen Status, den politischen Partizipationsmöglichkeiten sowie der nachweisbaren gesellschaftlichen Akzeptanz der Kirchen geklärt sind. Rechtlicher Status Der rechtliche Status der orthodoxen Kirchen hat sich in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion grundsätzlich verbessert. In der Präambel des 1997 in der Russländischen Föderation erlassenen Religionsgesetzes wird so „der besonderen Rolle der Orthodoxie in der Geschichte Russlands in Bezug auf dessen geistige und kulturelle Entstehung und Entwicklung“ Anerkennung ausgesprochen; mit diesem Gesetz wurde das liberalere Religionsgesetz von 1990, das die Gewissens- und Religionsfreiheit für alle Religionsgemeinschaften garantierte, zugunsten der Orthodoxie geändert. Allerdings betrifft diese Änderung nicht allein die Orthodoxie, auch „Islam, Buddhismus, Judentum und andere Religionen, die nicht aus dem geistigen Erbe der Völker Russlands wegzudenken sind“, werden als besonders achtenswert hervorgehoben. Da es sich zudem bei der Präambel tatsächlich mehr um eine politische Absichtserklärung handelt, als dass sie direkte rechtliche Konsequenzen hätte, sind die rechtlichen Bestimmungen im Einzelnen zu betrachten, will man sich ein Bild vom gegenwärtigen rechtlichen Status der orthodoxen Kirche machen. Das gilt für Russland nicht weniger als für andere osteuropäische Staaten. Denn auch dort befinden sich die Kirchen keineswegs in einer rechtlich geklärten, sicheren Lage: So erhielten die orthodoxen Kirchen in der Regel zwar Kirchengebäude und Grundstücke aus der vorrevolutionären Zeit in großer Anzahl restituiert und bekamen oft auch staatliche Zuschüsse zur Sanierung. Nicht unbedingt war damit jedoch die Übertragung der Eigentumsrechte verbunden, so dass die Kirchen die Gebäude und Grundstücke vielfach nur nutzen dürfen, und dies unter der Auflage, für Sanierung und Instandhaltung selbst Sorge zu tragen. Zur Finanzierung sind die Kirchen meist auf Spenden angewiesen. Ungeklärt sind auch Fragen, die den Bereich der religiösen Bildung betreffen. So werden beispielsweise in Russland die Abschlüsse von kirchlich getragenen Ausbildungsstätten nach wie vor staatlich nicht oder nicht vollständig anerkannt. Das gilt für die 38 Geistlichen Seminare, an denen die theologische Grundausbildung erfolgt und die zumal in den ländlichen Regionen in der Tat kein besonders hohes Niveau erreichen, ebenso wie für die in Großstädten angesiedelten Geistlichen Akademien, die der Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses dienen, wie auch für theologische Hochschulen und Forschungsinstitute, die wie die St. Tichon-Universität von Moskau inzwischen über die Grenzen Russlands hinaus Ansehen genießen. Allein in Hinblick auf die Präsenz von Religion in den Schulen scheint nunmehr eine Klärung erfolgt zu sein: Nachdem die Russische Orthodoxe Kirche die Anerkennung des umstrittenen Wahlfachs „Grundlagen orthodoxer Kultur“ zunächst nicht durchsetzen konnte – im November 2007 votierte die Duma gegen diese Form des religiösen Unterrichtes an öffentlichen Schulen –, liegt seit Januar 2008 die Zustimmung des Bildungsministeriums zum Fach „Geistig-sittliche Kultur“ vor, das eine abgewandelte Form der „Grundlagen orthodoxer Kultur“ darstellt und ab dem 1. September 2009 unterrichtet werden soll. Rechtsunsicherheiten bestehen hingegen weiterhin in anderen, aus kirchlich-seelsorgerlicher Sicht wichtigen Bereichen: in der medizinischen Versorgung, im Strafvollzug, beim Militär. Auch wenn es auf diesen Gebieten oft pragmatische Lösungen gibt, so bedeuten diese noch keine grundsätzliche Regelung. Politische Partizipationsmöglichkeiten Es gibt medienwirksame Begegnungen zwischen Repräsentanten des politischen Systems und der kirchlichen Hierarchie. Wenn Russlands Präsident Dmitrij Medvedev den georgischen Katholikos-Patriarchen Ilia II. zum Gespräch empfängt, um mit ihm über die Verbesserung der russländisch-georgischen Beziehungen zu beraten –, lässt dies auf einen eminenten politischen Einfluss der Kirchen schließen. Auch die Teilnahme des armenischen Präsidenten Serge Sarkisjan an hohen kirchlichen Festen und Pilgerreisen oder Aussagen wie die des belarussischen Präsidenten Aljaksandr Lukašenka, die orthodoxe Kirche sei Trägerin der „wichtigsten Ideologie unseres Landes“, scheinen diesen Schluss zu bestätigen. Tatsächlich lassen sich aber kaum gesicherte Aussagen über den realen politischen Einfluss der Kirchen machen. Denn ihr politischer Ertrag ist nur schwer fassbar. Das gilt auch für die Mitwirkung von kirchlichen Würdenträgern in politischen Gremien. So gehört etwa Metropolit Kliment von Kaluga und Borovsk der Gesellschaftskammer und der Honoratiorenkammer an, welche die Regierung in wichtigen Fragen berät. Metropolit Kliment galt als aussichtsreicher Kandidat bei der Patriarchenwahl und wurde aus Regierungskreisen auch unterstützt. Ob sich die Regierung aber die Ratschläge des Metropoliten zu eigen macht, ist damit noch nicht gesagt und lässt sich schwer belegen, zumal es anders als in Deutschland, wo es kirchliche Beauftragte bei der Bundesregierung und den Landesregierungen gibt, keine geregelten Verfahren gibt. Da zudem in Russland politische Parteien mit religiösen Zielsetzungen verboten sind, besteht auch hier kein Ansatzpunkt, um den politischen Einfluss der Kirchen genauer zu erfassen. Bemerkenswert scheint hingegen, dass es immer wieder politische Initiativen von kirchlicher Seite gibt, die nachweislich keine Wirkung zeigen. So blieben etwa die Friedensappelle des von Präsident Medvedev nach seinem Tode hochgelobten Patriarchen Aleksij II. ungehört, die unmittelbar vor und im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Tschetschenien 1994 mehrfach an die Regierung ergingen. Gesellschaftliche Akzeptanz Die gesellschaftliche Akzeptanz der Kirche lässt sich im Vergleich zu den politischen Partizipationsmöglichkeiten besser bestimmen, weil es eine Reihe von soziologischen Untersuchungen dazu gibt. Demnach aber handelt es sich nicht um eine verzerrte Wirklichkeitswahrnehmung, wenn von kirchlicher oder politischer Seite der orthodoxe Glaube als gesellschaftliches Kernelement bestimmt wird. Denn tatsächlich begreift sich die übergroße Mehrheit der Befragten als dem orthodoxen Glauben zugehörig; das Levada-Zentrum ermittelte im Februar 2009 für Russland 72,6 Prozent, die Stiftung öffentliche Meinung (Fond obščestvennogo mnenija; FOM) für das Jahr 2008 knapp 60 Prozent. Dieses Ergebnis impliziert allerdings keine hohe Kirchenbindung, denn von den Befragten, die sich als orthodox bezeichnen, gaben 65,1 Prozent an, dass sie das Abendmahl „nie“ empfangen, und 68,7 Prozent, dass sie sich „nie“ an die Fastenzeiten halten; weniger als zehn Prozent fasten „in der Regel“ oder „häufig“. Die allenfalls marginale Rolle, die kirchlich-institutionelle Handlungen in gesamtgesellschaftlicher Perspektive spielen, bestätigt die jüngste Umfrage des Levada-Zentrums auch in anderer Hinsicht. Denn danach ist für die deutliche Mehrheit der Befragten, die sich nicht als Moslems, Juden oder Buddhisten verstehen, außer dem Empfang des Abendmahls und den Fastenzeiten auch der Gottesdienstbesuch an Sonn- und hohen Feiertagen, sakramentale Handlungen wie Beichte oder Krankensalbung, die Teilnahme am Gemeindeleben oder auch der Besuch heiliger Stätten und Klöster ohne nennenswerte Bedeutung. Allein die Frage nach der Taufe spielt eine andere Rolle; 84,5 Prozent der Befragten bejaht die Frage, ob sie getauft seien. Besonderen Zuspruch finden darüber hinaus Weihwasser und Ikonen. Der geringen Kirchenbindung entspricht dann auch, dass keine Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen gewünscht wird, denn die Befragten votieren mehrheitlich dafür, dass die Trennung von Staat und Kirche fortbestehen und der orthodoxe Glaube mithin nicht Staatsreligion werden soll. Wie die jüngste Umfrage des VCIOM zeigt, sind es demgegenüber die von der Kirche vermittelten „Werte“, die in der Bevölkerung Anklang finden: So erkennen 35 Prozent der Befragten immerhin einige der moralischen Normen der Kirche als für den modernen Menschen akzeptabel an, 30 Prozent können darüber hinaus der Aussage zustimmen, dass Menschen sich an die vom orthodoxen Glauben getragenen moralischen Normen und Verhaltensprinzipien halten sollen. Über die Wertevermittlung hinaus sind es einzelne herausragende Persönlichkeiten, die das gesellschaftliche Ansehen der Kirche ausmachen: So wussten immerhin 70 Prozent der Befragten den Namen des neu gewählten Patriarchen Kirill zu nennen und mehr als 80 Prozent bewerteten die Wahl „eher“ oder sogar „sehr positiv“. Aber dies betrifft tatsächlich nur einzelne Persönlichkeiten. Orthodoxe Geistliche, seien es Priester oder Bischöfe, erfreuen sich keiner besonderen Anerkennung, sie sollen geistliche Autoritäten sein, werden als solche aber nicht in Anspruch genommen. Insgesamt lässt sich festhalten: Das gesellschaftliche Ansehen der orthodoxen Kirche verdankt sich hauptsächlich dem Wertesystem, das sie repräsentiert und das offenbar in besonderem Maße als identitätsstiftender Faktor für die postsowjetischen Gesellschaften wahrgenommen wird. Die kirchlich-institutionellen Vollzüge haben demgegenüber kaum eine Relevanz, vielmehr zeigen sich hier deutlich säkulare Tendenzen. Es liegt folglich ein differenzierter Befund vor, weshalb weder kirchenkritische Stimmen, die wie Mitglieder der Russländischen Akademie der Wissenschaften vor der „Klerikalisierung der russischen Gesellschaft“ warnen, noch ausgesprochen kirchenfreundliche Bestrebungen, wie die Gründung der „christdemokratischen Bewegung“ in Georgien mit dem Ziel, die Anerkennung der Orthodoxie als Staatsreligion durchzusetzen, überbewertet werden dürfen. Innere Lage Die innere Lage der Kirchen und ihre konzeptionellen Überlegungen sind von großer Bedeutung dafür, welchen Einfluss die Kirche auf Politik und Gesellschaft ausübt. Zur inneren Lage der Kirchen gehört, dass es – nicht zuletzt im Klerus – nationalpatriotische Kräfte gibt, die in einem autoritären Staat die Voraussetzung für eine „nationale Wiedergeburt“ und damit für die Entwicklung hin zu einer Gesellschaft sehen, in der die Kirche fest verankert ist. Da diesen reformorientierte Kräfte entgegenstehen, kommt es innerhalb der Kirchen immer wieder zu Verwerfungen, ohne dass benennbar wäre, welche Kräfte gegenwärtig dominieren. Der neu gewählte Patriarch Kirill I. von Moskau und ganz Russland ist hierfür ein gutes Beispiel: Einerseits hatte er, in einer Priesterfamilie 1946 geboren, schon in jungen Jahren äußerst negative Erfahrungen mit einem totalitären System machen müssen. Als junger Mann wurde er durch den weltoffenen und ausgesprochen ökumenisch gesonnenen Metropoliten Nikodim von Leningrad und Novgorod geprägt. In diesem Sinne engagierte er sich später auch selbst. Andererseits sind in letzter Zeit immer wieder Stellungnahmen von Kirill zu hören, die eine eher nationalpatriotische Tendenz erkennen ließen und in ökumenischer Hinsicht deutlich auf Abgrenzung zielten. Zur inneren Lage der Kirchen gehören auch die innerorthodoxen Beziehungen. Sie sind sogar in politischen Krisenzeiten belastbar. Während des Kriegs in Georgien riefen der georgische Katholikos-Patriarch Ilia II. und Patriarch Aleksij II. zur Einstellung der Kriegshandlungen auf. Doch wichtiger ist noch etwas anderes: Auf kirchlich-jurisdiktioneller Ebene ist die Russische Orthodoxe Kirche nicht der Anerkennung der Unabhängigkeit von Abchasien und Süd-Ossetien gefolgt, die von beiden Kammern der russländischen Staatsduma ausgesprochen wurde. Ausdrücklich hat sie auf die Eingliederung der georgischen orthodoxen Gemeinden in den beiden Gebieten in das Moskauer Patriarchat verzichtet. Teilweise sind die innerorthodoxen Beziehungen allerdings auch durch heftige Auseinandersetzungen geprägt. Insbesondere die Ukraine ist davon betroffen, in der gleich drei Kirchen – die Ukrainische Orthodoxe Kirche/Moskauer Patriarchat, die Ukrainische Orthodoxe Kirche/Kiewer Patriarchat und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche – den Anspruch darauf erheben, die orthodoxe Kirche zu repräsentieren. Die Folge ist, dass sich die Kirchen in ihren Handlungsmöglichkeiten selbst beschränken, dass sie viel leichter politisch instrumentalisierbar werden und gesellschaftlich erheblich an Ansehen verlieren. Konzeptionelle Überlegungen Seit die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) im Jahr 2000 ihre Grundlagen der Sozialkonzeption vorstellte, gibt es erstmals eine umfassende Stellungnahme zu sozialethischen Fragen. Die hier fixierten Positionen dürfen in den orthodoxen Kirchen als weithin anerkannt gelten, auch wenn ihre Verbindlichkeit auf die russische Kirche beschränkt ist. In den Grundlagen, die ein Autorenkollektiv nach langwieriger innerkirchlicher Abstimmung formulierte, findet sich zwar keine stringent ausformulierte Soziallehre, jedoch sind die für das sozialethische Handeln der Kirche leitenden Ideen dargelegt. Grundlegend für die Bestimmung des Kirche-Staat-Verhältnisses ist der Gedanke der Symphonia, der, anders als es der Begriff vermuten ließe, die Eigenständigkeit von Kirche und Staat betont: Das Wesen der Symphonia bestehe in gegenseitiger Zusammenarbeit, Unterstützung sowie Verantwortung unter Nichteinmischung in die jeweiligen, ausdrücklich vorbehaltenen Kompetenzbereiche. Es wird sogar eine Art passives Widerstandsrecht für den Fall formuliert, dass „die staatliche Macht die orthodoxen Gläubigen zur Abkehr von Christus und Seiner Kirche sowie zu sündhaften, der Seele abträglichen Taten nötigt.“ Der Symphonia-Gedanke lässt sich mit unterschiedlichen Staatsformen verbinden; als Ideal wird ein „orthodoxer Staat“ beschrieben, wie er im Ansatz in Byzanz verwirklicht worden sei, aber auch demokratische Staatsformen finden Anerkennung. Die Grundlagen bewerten also eine demokratische Entwicklung nicht an sich positiv, aber sie schaffen immerhin die theoretischen Voraussetzungen dafür, auch mit einem demokratischen Staat konstruktiv zusammenzuarbeiten. Mit den Grundlagen gibt die Russische Orthodoxe Kirche selbst ein Beispiel dafür, wie das geschehen kann, indem sie sich durch Veröffentlichung einer Art „Denkschrift“ oder „Sozialkonzept“ einer demokratiegemäßen Kommunikationsform bedient. Der grundsätzliche Vorbehalt gegenüber einer demokratischen Staatsform spiegelt sich ferner in der Beurteilung des Prinzips der Gewissensfreiheit und der Menschenrechte wider. So verweist den Grundlagen zufolge die Durchsetzung der Gewissensfreiheit als legales Prinzip auf den Verlust von religiösen Zielen und Werten in der Gesellschaft, den massenhaften Abfall vom Glauben sowie die faktische Indifferenz gegenüber dem Auftrag der Kirche und der Überwindung der Sünde. Allein als Mittel, das „die Existenz der Kirche in der nichtreligiösen Welt“ ermöglicht, kann es auch positiv gewertet werden. Dementsprechend erkennt die ROK die Menschenrechte einerseits als etwas an, das in der biblischen Anthropologie wurzelt (der Mensch als Ebenbild Gottes), andererseits kritisiert sie die Menschenrechte jedoch in ihrem säkularen Verständnis als Rechte des Individuums gegenüber den Ansprüchen von Staat und Gesellschaft. In diesem Sinne sind auch die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte verfasst, die im Juli 2008 erschienen sind und die knappen Ausführungen zu den Menschenrechten in den Grundlagen der Sozialkonzeption ergänzen sollen. So steht auch hier die Problematisierung im Vordergrund (Menschenrechte wider Gottesrechte; Individual- wider Gemeinschaftsrechte; zeitlich bedingte, durch Menschen gesetzte Rechte wider das „vom Schöpfer gegebene ewige sittliche Gesetz“; persönliche Freiheitsrechte wider Glaubenslehre und Tradition). Darüber hinaus führt die ROK ein „patriotisches Element“ ein, demzufolge die Menschenrechte „der Liebe zum Vaterland und zum Nächsten nicht widersprechen“ dürfen. Allerdings werden am Ende des Dokuments Grundsätze und Schwerpunkte der bürgerrechtlichen Tätigkeit der Russischen Orthodoxen Kirche formuliert, die, scheinbar unbeeindruckt von der vorangegangenen Kritik, das sozialethische Handeln der Kirche ganz an den Menschenrechten orientiert sein lassen: Seit Alters und bis heute tritt die Orthodoxe Kirche vor der weltlichen Macht für ungerecht Verurteilte, für die Erniedrigten, für die Unglücklichen und für die Ausgebeuteten ein. […] Auch sind wir aufgerufen, mit Eifer – und nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten – für die Erhaltung der Rechte und der Würde der Menschen Sorge zu tragen. Dieser Passus schließt dann auch „die Verteidigung der Rechte der Nationen und ethnischen Gruppen auf ihre Religion, Sprache und Kultur“ ein sowie ausdrücklich auch die „Erziehung zur Achtung vor dem Gesetz, die Verbreitung positiver Erfahrungen bei der Umsetzung und beim Schutz der Menschenrechte“. Hier zeigt sich einmal mehr, dass die Kirche bestimmte Entwicklungen in der Moderne zwar äußerst skeptisch beurteilt, jedoch zugleich bereit ist, sich auf diese Entwicklungen einzulassen und einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Daraus wird man jedoch insgesamt auch den Schluss ziehen müssen, dass es bei sich wandelnden Rahmenbedingungen in Russland oder anderen osteuropäischen Staaten eher nicht die orthodoxen Kirchen sein werden, die für Demokratisierung einstehen. Sofern die orthodoxen Kirchen nicht in ihrer Existenz gefährdet sind, werden sie sich vielmehr ganz pragmatisch auch auf andere Staatsformen einlassen. KATHOLISCHE KIRCHE In Ostmitteleuropa und Osteuropa ist die katholische Kirche die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft. In manchen Staaten dominiert sie sehr stark, in anderen stellt sie eine nennenswerte oder auch nur sehr kleine Minderheit der Bevölkerung. Die Existenz griechisch-katholischer („unierter“) Kirchen hat immer wieder zu Spannungen zwischen den lokalen orthodoxen Kirchen und der katholischen Kirche geführt, vor allem in der Ukraine und in Rumänien. Besondere Aufmerksamkeit zog in jüngster Vergangenheit der Konflikt zwischen der katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche in Russland auf sich. Dieser war dadurch ausgelöst worden, dass im Februar 2002 die katholischen Apostolischen Administraturen in Russland, kirchliche Verwaltungseinheiten unterhalb des Ranges von Bistümern, zu vollberechtigten Diözesen erhoben worden waren. Die orthodoxe Kirche sah dadurch ihr „kanonisches Territorium“ verletzt. In der Veränderung der kirchlichen Strukturen erkannte sie ein katholisches Expansionsstreben, das gezielt auf orthodoxes Kerngebiet gerichtet sei und das sie entsprechend mit dem Vorwurf des Proselytismus verband. Sie forderte zunächst die Wiederabstufung der Diözesen, heute allgemein den Verzicht auf (angebliche) proselytische Praktiken. Die daraus resultierenden Spannungen sind bis heute nicht beigelegt. Unter Papst Benedikt XVI. und dem neuen Patriarchen Kirill I., der früher das Außenamt der ROK leitete und über gute Kontakte nach Rom verfügt, scheinen bessere Voraussetzungen dafür gegeben, die Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen. Die Ursachen des Konflikts sind weniger in der gegenwärtigen Lage als in einer durch bestimmte historische Erfahrungen – die Bedrohung durch Polen und Litauen – geprägten orthodoxen Mentalität zu suchen. Denn tatsächlich stellen die Katholiken nur etwa 0,6 Prozent der Gesamtbevölkerung in Russland, das sind etwa 850 000 Gläubige. Als solche sind sie weder religiös noch politisch ein bedeutender Faktor. Anders sieht es in der Ukraine aus, wo die mit der katholischen Kirche unierte Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche zumindest in Galizien erheblichen Einfluss hat. Aber auch die Ukraine, die sich durch eine überaus komplizierte kirchliche Situation auszeichnet, ist überwiegend nicht katholisch geprägt. Zu den Kernländern der katholischen Kirche in Ostmitteleuropa gehören Polen, die Slowakei und Litauen. Auch Tschechien und Ungarn wird man dazu zählen dürfen, selbst wenn die kirchliche Bindung hier äußerst gering ist. Die Voraussetzungen, die die Länder im Einzelnen mitbringen, sind sehr unterschiedlich, nicht nur historisch und kulturell, sondern auch in Hinblick auf die Möglichkeiten, die die katholische Kirche hier jeweils vor der politischen Wende besaß. In Polen hatte die Kirche einen relativ großen Handlungsspielraum; hier existierte mit der Katholischen Universität von Lublin die einzige kirchliche Hochschule in allen kommunistischen Ländern, die katholische Wochenzeitung Tygodnik Powszechny (Allgemeines Wochenblatt) konnte regelmäßig erscheinen, es gab eine Reihe von katholischen intellektuellen Zirkeln. In der Tschechoslowakei hingegen kam es Anfang der 1950er Jahre zur härtesten Kirchenverfolgung in Ostmitteleuropa. Die katholische Kirche konnte hier oft vakante Bischofssitze jahrelang nicht besetzen. Die unterschiedlichen Voraussetzungen schlagen sich auch in Meinungsumfragen nieder. In Polen, wo sich der national ausgerichtete Widerstand gegen das Regime mit dem katholischen Glauben verbunden hatte, bekennen sich knapp 90 Prozent der Bevölkerung zur katholischen Kirche. In Tschechien hingegen, wo die katholische Kirche als Bestandteil der habsburgischen Fremdherrschaft wahrgenommen wurde, sind es – mit abnehmender Tendenz – nur etwa 26 Prozent. Damit besitzt die katholische Kirche zwar den größten Anteil unter den kirchlichen und religiösen Gemeinschaften, liegt aber deutlich unter den „Konfessionslosen“, die 59 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Eine deutliche Mehrheit stellen Katholiken in der Slowakei mit ca. 69 Prozent sowie in Litauen (mit steigender Tendenz) ca. 77 Prozent. Trotz der unterschiedlichen Voraussetzungen gibt es auch wichtige Gemeinsamkeiten: So wird die Kirche – abgesehen von Tschechien – in Polen, der Slowakei und Litauen als entscheidender Faktor im Widerstand gegen das kommunistische Herrschaftssystem angesehen. Die Kirche habe durch ihre Präsenz als nicht systemkonforme Institution und ihre beharrliche Bestreitung der totalitären Ideologie entscheidend zur politischen Wende beigetragen. Insbesondere das persönliche Zeugnis von Papst Johannes Paul II. und seine Besuche in Polen, vor allem der erste im Juni 1979, werden in diesem Zusammenhang positiv gewürdigt. Eine solche Einschätzung schließt nicht aus, dass Formen fragwürdiger Kooperation von katholischer Kirche und kommunistischem Staat Gegenstand öffentlicher Kontroversen werden. Doch für die Wahrnehmung der katholischen Kirche ist das nicht entscheidend. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass der Aufbau demokratischer Rechtsstaaten mit Mehrparteiensystem und die Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaften eine besondere Herausforderung für die Kirche bedeutet. Die Kirche war weder konzeptionell noch personell auf die Wende vorbereitet. Die katholische Kirche hat vielfältige Anstrengungen unternommen, um der neuen Situation angemessen zu begegnen. Dazu gehören die Neustrukturierung von Diözesen, um eine effizientere Verwaltung und eine größere Nähe von Priestern und Gläubigen zu ermöglichen; die Reform des Theologiestudiums, um die zukünftigen Geistlichen besser auf die gesellschaftlich relevanten Themen und sozialen Aufgaben vorzubereiten, zumal es jetzt viel leichter ist, im Ausland zu studieren; die Gründung von Akademien, um den Austausch mit den Eliten des Landes zu befördern; die Schulung von Journalisten als ein Baustein, um das Bild der Kirche in den Medien positiv zu beeinflussen; die Einrichtung von Bildungszentren für Jugendliche und Erwachsene, um Gehalte des katholischen Glaubens in einer anderen als der schulischen oder universitären Form zu vermitteln; die Gründung von katholischen Verlagen, Zeitschriften und Rundfunksendern; die Förderung von Laienaktivitäten auf unterschiedlichen kirchlichen Ebenen; die Intensivierung der diakonischen Arbeit etc. Diese Anstrengungen erfolgten in den einzelnen Ländern unterschiedlich intensiv und zeitigten unterschiedlichen Erfolg. Am meisten ist in dieser Hinsicht zweifellos in Polen geschehen, in Tschechien blieb demgegenüber vieles im Ansatz stecken. Beobachten lässt sich in allen Ländern, dass nicht zuletzt divergierende Vorstellungen innerhalb der Kirche dazu geführt haben, dass Reformbemühungen, wenn nicht unmöglich gemacht, so doch erheblich erschwert worden sind. Die Ergebnisse des II. Vatikanischen Konzils (1962–1965) haben sich in den einzelnen Ortskirchen nur sehr langsam und mühsam durchsetzen können. Was die Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche betrifft, so erfolgte sie nach ganz verschiedenen Modellen. In Polen wurde 1998 mit dem Abschluss eines Konkordats das umfassendste Regelwerk in Geltung gesetzt. Diesem Abschluss gingen hitzige Debatten voraus, da mit dem Konkordat der Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche ebenso wie das Gleichheitsprinzip verletzt schienen. Tatsächlich hat die Umsetzung des Konkordats aber eher zu einer Befriedung beigetragen, zumal kontroverse Themen wie die Restitution von kirchlichem Eigentum und die Einführung von Religionsunterricht an öffentlichen Schulen bereits vorher einvernehmlich geregelt worden waren. In der Slowakei und Litauen wurden im Jahre 2000 Verträge zwischen Kirche und Staat abgeschlossen, die auch hier für die Kirche eine rechtlich gesicherte Position bedeuten. Anders sieht die Situation in Tschechien aus: Trotz mehrfacher Zusagen von höchster politischer Ebene gibt es bis heute kein Kirchengesetz. Das hat zur Folge, dass die für die Kirche existenzielle Frage der Restitution kirchlichen Eigentums bis heute nicht geklärt ist. Das Verhältnis der Gesellschaft zur Kirche lässt sich im Einzelnen nur schwer bestimmen. Tendenziell erfährt die katholische Kirche in Polen eine hohe Zustimmung, wenn etwa 70 Prozent der Bevölkerung die öffentliche Stellungnahme der Kirche zu moralischen und ethischen Fragen begrüßen. Ähnliches gilt für die Slowakei. In Litauen und Tschechien hingegen haben die positiven Erwartungen, die zu Beginn der 1990er Jahre gegenüber der Kirche bestanden, abgenommen, ein deutlich geringerer Prozentsatz der Bevölkerung begreift demnach die Kirche als einen Faktor, der einen Beitrag zur Lösung der gesellschaftlichen und sozialen Probleme leisten kann. EVANGELISCHE KIRCHEN Der Protestantismus ist in Osteuropa in allen seinen konfessionellen Varianten vorhanden. Während im Baltikum lutherische Kirchen dominieren, finden sich in Südosteuropa, vor allem unter den ethnischen Ungarn, viele Reformierte. Freikirchliche Gemeinschaften gibt es überall, mit einem Schwerpunkt von Baptisten und anderen täuferischen Gemeinden wie den Mennoniten in Russland. Jedoch gab es nur wenige Staaten im einstmals sozialistischen Machtbereich, in denen Protestanten traditionell eine Mehrheit der Bevölkerung darstellten, ungeachtet heutiger kirchlicher Zugehörigkeit. Neben der DDR waren dies Lettland und Estland. Außerdem gibt es in Ungarn und in der Tschechischen Republik bedeutende protestantische Minderheiten. Grundsätzlich gilt auch für die protestantischen Kirchen, dass ihnen mit dem Ende der kommunistischen Systeme Wirkungsmöglichkeiten offen standen, wie das seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr der Fall war. Die staatliche Religionsgesetzgebung fiel weg oder wurde durch liberalere Bestimmungen ersetzt, und die Kirchen konnten grundsätzlich ohne größere Einschränkungen ihren Glauben frei leben, Gemeinden gründen, Gebäude errichten und publizieren. Allerdings wirkte sich das zumeist anders aus als bei den Großkirchen, da die protestantischen Kirchen nie eine so einflussreiche gesellschaftliche und politische Position innehatten, wie das bei der orthodoxen und der katholischen Kirche dort der Fall ist, wo sie die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren. Die protestantischen Kirchen waren also häufig in einer Art gesellschaftlicher Nische, in der sie weitgehend unbeeinflusst von echten oder vermeintlichen politischen Notwendigkeiten agieren konnten, doch auch umgekehrt keine allzu großen Einflussmöglichkeiten auf die sie umgebenden Gesellschaften ausüben konnten. Aus dieser Situation ergibt sich die Frage nach der Identität der evangelischen Kirchen. Während es in weiten Teilen Deutschlands seit dem frühen 19. Jahrhundert unierte Kirchen gibt, die aus lutherischen und reformierten Gemeinden zusammengesetzt waren (und inzwischen auch Gemeinden mit eigener, „evangelischer“ Identität herausgebildet haben), hat sich in den ostmittel- und osteuropäischen Kirchen zumeist die konfessionelle Identität erhalten. Allerdings treffen hier zwei gegenläufige Entwicklungen aufeinander, zum einen die Tatsache, dass sich die protestantischen Kirchen aufgrund verschiedener Faktoren (Minderheitensituation, Verfolgungserfahrung) in ihre konfessionelle Identität zurückziehen und diese betonen, zum anderen ihre aktive Teilnahme an der ökumenischen Bewegung, die ja gerade bei den Kirchen reformatorischer Prägung in Europa zu zahlreichen Entscheidungen geführt haben, die das Bekenntnis betreffen. Beide Entwicklungen machen es schwierig, eine allgemein protestantische Identität auszubilden und zu bewahren. Das Beharren auf der eigenen Konfession ist ein Phänomen, das sich traditionell in vielen Kirchen der reformatorischen Tradition finde, in Deutschland jedoch wegen der spezifischen Erfahrung mit den evangelischen Kirchen nicht so deutlich ist. Durch die ökumenische Annäherung ist ein gegensätzlicher Prozess entstanden: Einerseits ist das konfessionelle Profil in den letzten Jahrzehnten etwas unschärfer geworden, da Lehrunterschieden nicht mehr so großes Gewicht zugemessen wurde, andererseits hat es konfessionelle Zusammenschlüsse gegeben (wie etwa die Weltbünde), die zuweilen als Gegenbewegung zu den ökumenischen Bemühungen verstanden wurden. Die bedeutendste Entwicklung der Annäherung protestantischer Kirchen in Europa ist die Leuenberger Konkordie, die 1973 geschlossen wurde und mit der sich zunächst lutherische und reformierte Kirchen gegenseitig Kanzel- und Altargemeinschaft gewährten. Damit waren die Unterschiede im Abendmahlsverständnis überwunden, die seit dem misslungenen Marburger Religionsgespräch von 1529 zwischen Lutheranern und Reformierten herrschten, oder genauer: sie wurden nicht mehr als kirchentrennend betrachtet. Auch die Altpreußische Union von 1817, durch die im Bereich des Landes Preußen die unierten („evangelischen“) Kirchen entstanden, hatte diese Frage nicht gelöst, sondern lediglich eine Kirchenunion auf der Ebene der Kirchenverwaltung hergestellt. 1973 nun kam es zu einer Übereinkunft, die zwischen vielen lutherischen und reformierten Kirchen in Europa geschlossen wurde. Inzwischen sind 105 Kirchen Mitglied in der „Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa“ (GEKE), wie sich die Leuenberger Kirchengemeinschaft seit 2003 nennt, darunter zahlreiche Kirchen in Ostmittel- und Osteuropa. Mit diesem Prozess, der sich in den letzten Jahrzehnten ohne größere öffentliche Aufmerksamkeit vollzogen hat, sind die evangelischen Kirchen Ostmittel- und Osteuropas weitgehend aus der Isolation gelangt, in der sie sich lange befanden. Zwar hatten sie zahlreiche Kontakte, vor allem zu den protestantischen Kirchen in Deutschland, die sie nach Möglichkeit auch unterstützten, doch waren sie insgesamt aus den genannten Gründen eher auf sich gestellt. Durch Leuenberg nun ist ein Netzwerk entstanden, das die konfessionellen Kirchen unter Beibehaltung ihrer lutherischen oder reformierten Identität in eine europaweite Gemeinschaft einbindet, die sich ausdrücklich auch ein politisches Anliegen zu eigen macht. Diese Kirchen sehen sich in der Pflicht, bei der Gestaltung Europas aktiv mitzuwirken. Auch wenn die protestantischen Kirchen in Ostmittel- und Osteuropa nur eingeschränkte Möglichkeiten haben, das in ihren Gesellschaften zu verwirklichen, so zeigt die internationale kirchliche Einbindung doch oft ein größeres Bewusstsein etwa für die Grundsätze der europäischen Integration als es in den orthodoxen oder katholischen Mehrheitskirchen anzutreffen ist. Somit ergibt sich ein merkwürdiger Gegensatz: Die evangelischen Minderheitskirchen sind Trägerinnen von Modernisierungsvorstellungen, die jedoch in den Gesellschaften, in denen sie leben, oft noch nicht weit verbreitet sind. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung, die die ökumenischen Beziehungen in der Zeit der kommunistischen Regimes hatten. Auch wenn es nach der Wende eine Debatte über die Frage gab, ob die Ökumene nicht ein Mittel für die Regierungen war, um die Kirchen besser kontrollieren und ihre politischen Vorstellungen im Ausland besser verbreiten zu können, so ist doch nicht von der Hand zu weisen, wie wichtig diese Kontakte in der kommunistischen Zeit vor allem für die kleinen Kirchen waren. Zudem erhielten die Kirchen durch den KSZE-Prozess erweiterte Handlungsmöglichkeiten und nutzten sie. Ein weiteres Element ist die nationale Prägung des osteuropäischen Protestantismus. Die Reformation hatte ihren Ausgang in Deutschland und in der Schweiz; vor allem durch die Auswanderung von Deutschen gelangte reformatorisches Christentum nach Ostmitteleuropa und Osteuropa. Trotz einiger (relativ weniger) Konversionen ist er ein „deutscher“ Glaube geblieben. In Estland war bis zur Unabhängigkeit von 1918 die Kirche als Institution überwiegend deutsch; noch 1939 war ein Viertel des Klerus deutsch. In Lettland waren die Verhältnisse ähnlich, auch wenn sie sich nach der Unabhängigkeit anders gestalteten: Ein konservativer Zug brachte die lettische Kirche in einen gewissen Gegensatz zur lettischen Exilkirche; die lettische Kirche ist bis heute der GEKE nicht beigetreten und steht in Gemeinschaft mit der Missouri-Synode, einer stark hochkirchlich geprägten Kirche in den USA, die etwa – wie die lettische Kirche auch – die Ordination von Frauen ins Geistliche Amt ablehnt. Während der Zwischenkriegszeit ging der deutsche Einfluss zugunsten einer estnischen bzw. lettischen Prägung dieser Kirchen zurück, mit dem Zweiten Weltkrieg war er verschwunden. Nach dem Austritt der baltischen Staaten aus der Sowjetunion konnte sich das kirchliche Leben wieder konsolidieren, wenn auch auf erheblich geringerem Niveau als früher; in keinem der beiden Staaten stellen Protestanten heute die Bevölkerungsmehrheit. Allerdings werden beide Kirchen heute als „nationale“ Kirchen empfunden, nicht mehr als fremde, deutsche. Zu dieser nationalen Prägung des Protestantismus gehört auch das Phänomen, dass manche Kirchen eine nationale Bezeichnung im Namen führen, etwa die Ungarische Reformierte Kirche in Serbien oder die Slowakische Evangelische Kirche in Serbien. In Rumänien führt das sogar dazu, dass es zwei lutherische Kirchen gibt, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Rumänien, die ihren Sitz in Cluj-Napoca hat und vor allem slowakisch geprägt ist, und die Evangelische Kirche des Augsburger Bekenntnisses in Rumänien. Da es sich um nationale Unterschiede handelt, ist die Sprache von Gottesdienst und Predigt oft der Streitpunkt bei Einigungsversuchen. Hier ist die GEKE bemüht, nicht nur die konfessionellen, sondern auch die nationalen Unterschiede zu überkommen. Auch in Russland und anderen Staaten der GUS haben sich zwei lutherische Kirchenorganisationen entwickelt, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Russland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien (ELKRAS), die vor allem aus der deutschen Tradition stammt, und die Evangelisch-Lutherische Kirche des Ingermanlandes in Russland (ELKIR), die sehr stark finnisch geprägt ist. Die ELKRAS wird sehr stark aus Deutschland unterstützt. Die meisten Bischöfe und viele Pfarrer sind Deutsche und kommen oft auch aus Deutschland. Dagegen stützt sich die kleinere ELKIR vor allem auf finnischen Klerus. Auch in ihren theologischen Positionen unterscheiden sich beide: Die ELKIR steht – ähnlich wie die lettischen Lutheraner – in Gemeinschaft mit der Missouri-Synode und ist zwar nicht Mitglied im Weltkirchenrat, wohl aber in der Konferenz Europäischer Kirchen und im Lutherischen Weltbund; hingegen ist die ELKRAS Mitglied in der GEKE. Darin spiegelt sich die Herkunft; auch die lutherische Kirche von Finnland ist wegen ihrer hochkirchlichen Tradition bislang der GEKE nicht beigetreten, während die Gliedkirchen der EKD viel bereitwilliger sind, sich ökumenisch zu öffnen und die ELKRAS offensichtlich davon beeinflusst wurde. Das bedeutet auch eine offenere Haltung in ökumenischen Fragen, denen sich die protestantischen Kirchen als Minderheiten ohnehin stellen müssen, um Anschluss an die Mehrheitskirchen zu finden und somit auch gesellschaftlich wahrgenommen zu werden. Der Protestantismus in Ostmittel- und Osteuropa bietet ein vielfältiges Bild. Unterschiedliche Kirchen haben ihre Identität bewahrt und entwickelt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie aus dem Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit verschwunden waren, falls sie jemals dort waren. ISLAM Vieles von dem zum Protestantismus Gesagten lässt sich grundsätzlich auch auf den Islam beziehen. Nach dem Christentum ist er die zweitgrößte Religion in Ostmittel- und Osteuropa. Hier gibt es ebenfalls einen starken Zusammenhang zwischen Religion und Nation. Für viele Gläubige gehört ihr islamischer Glaube zum Grundbestand der nationalen Identität. Je nach Herkunft ist der Islam in Ostmittel- und Osteuropa unterschiedlich geprägt. In der Zeit der osmanischen Herrschaft konvertierten Angehörige der christlichen Kirchen zum Islam, wobei deren Anteil stark schwankte: Während es in Teilen Südosteuropas (Bosnien, Albanien) oft mehr als die Hälfte der Bevölkerung betraf, war in anderen Gebieten der Region (etwa in Griechenland) der Anteil erheblich geringer. Allerdings stellen sich heute nach Kryptokonversionen sowie durch Vertreibung und Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen nach dem Ende des Osmanischen Reichs die Verhältnisse heute anders dar als während der Osmanenzeit. Der Islam in diesen Gebieten hat oft eine interessante Prägung, die zum Teil durch die Besonderheit der osmanischen Kultur, zum Teil auch durch die Verbindung mit früheren Traditionen oder durch spätere Entwicklungen bedingt sind. So finden sich etwa in Bosnien und Hercegovina Ansätze für einen „europäischen Islam“, der sich deutlich von allen islamistischen Bestrebungen distanziert. Nach Russland hingegen (Kaukasus, Tatarstan, Baškortostan) sowie in die zentralasiatischen Staaten kam der Islam auf verschiedene Weise: Von Süden in den Kaukasus, über Persier und turkstämmige Völker, die dann in der Wolgaregion siedelten (Wolgabulgaren), und aus dem Osten, über die Mongolen, deren Fürsten den Islam annahmen und die vor allem im Gebiet der heutigen Ukraine und im südlichen Russland Khanate errichteten. Entsprechend verteilen sich auch heute in Russland die Muslime hauptsächlich auf den Nordkaukasus und auf die Wolgaregion; dort sind es die Tataren mit Kazan’ als Hauptort sowie die Baschkiren. Im Kaukasus sind vor allem Turkvölker muslimisch, die bereits seit vorislamischer Zeit dort siedeln. Wahabitischen Kreisen gelang es in jüngster Zeit hier im Unterschied zu Südosteuropa Einfluss zu gewinnen. Allerdings hat die lange und strenge kommunistische Herrschaft in Russland vor allem unter den Muslimen im Kaukasus ihre Spuren hinterlassen. Der Islam als politisches Phänomen wurde unterdrückt; diese Religion vermochte Politik und gesellschaftliches Zusammenleben kaum zu prägen. Die islamische Religion konnte sich fast nur auf der Ebene kultureller und folkloristischer Elemente halten. Die Behörden versuchten vor allem, die „Kultdiener“ (Imame) unter ihrer Kontrolle zu halten. Allerdings ließ seit dem Tauwetter der 1950er Jahre im Kaukasus die Kontrolle der Behörden über das Alltagsleben nach. Dadurch gewannen islamisch geprägte Bräuche und soziale Institutionen wieder an Bedeutung. Der Sowjetmacht gelang es nie, alle traditionellen Bräuche außer Kraft zu setzen. Vielmehr versuchte sie, als „nützlich“ erkannte Einrichtungen in das sowjetische System zu integrieren, etwa Ältestenräte, die den Dorfsowjets beigeordnet waren. Aufgrund der unterschiedlichen Herkunftsgeschichten des Islam gab es jahrelang kein einheitliches offizielles Leitungsorgan der islamischen Gemeinden in Russland; die Central’noe Duchovnoe upravlenie musul’man Rossii i Evropejskich stran SNG (Zentrale Geistliche Verwaltung der Muslime Russlands und der europäischen Staaten der GUS, CDUM) erhebt zwar den Anspruch, alle Muslime in Russland zu vertreten, doch fühlten sich nicht mehr alle Muslime Russlands von diesem Organ repräsentiert. Der Sovet muftiev Rossii (Rat der Muftis Russlands) bildete seit 1992 eine Gegenorganisation; doch scheint das Schisma seit 2006 überwunden. Im Zuge der Modernisierung und besonders nach dem Ende der Sowjetunion traten häufig nationalistische Vorstellungen an die Stelle von religiösen Ideen. Vor allem die Tschetschenen entwickelten eine Vorstellung von einem unabhängigen Staat und versuchten sie auch durchzusetzen; die Folgen sind bekannt. Für die islamischen Kaukasus-Nationen bedeuteten diese und ähnliche Entwicklungen, dass sie sich entweder auf das Moskauer Zentrum orientierten und in der russländischen Führung die Garantien für das eigene Wohlergehen sahen – dies gilt etwa für die Inguschen und Osseten – , oder aber dass sie wie die Tschetschenen oder Kabardiner sich vom Zentrum zu entfernen versuchten und unterschiedliche Vorstellungen von eigener Staatlichkeit entwickelten. Die sowjetische Führung reagierte mit großer Härte auf echte oder vermeintliche Feindschaft der betroffenen Nationen; manche (die Tschetschenen und die Krimtataren sind die bekanntesten Fälle) wurden während des Zweiten Weltkriegs deportiert und konnten erst während der Perestrojka in ihre angestammten Siedlungsgebiete zurückkehren. Die Deportationen bedeuteten zwar häufig die Zerstörung sozialer Strukturen, sie trugen aber auch dazu bei, dass sich religiös geprägte Mechanismen und mystische Strömungen (Sufismus) wieder entwickelten, die die Kohäsion innerhalb der deportierten Gruppe förderten und die nach der Rückkehr aus den Deportationsgebieten das Wiederaufleben des Islam ermöglichten. Bemerkenswert ist noch die (autochthone) Präsenz von tatarischen Muslimen in anderen ostmittel- und osteuropäischen Ländern, die aus verschiedenen Gründen in weiten Gebieten Europas, von Finnland bis Bulgarien, zu finden sind. Sie gelangten schon mit der Goldenen Horde in ihre heutigen Siedlungsgebiete, z.T. aber auf der Flucht vor Verfolgungen des zarischen Russland. Fast überall legten sie ihre tatarische Sprache ab und integrierten sich weitgehend in die Aufnahmegesellschaft, doch den Islam als Religion behielten sie bei. Interessanterweise versuchte die orthodoxe Kirche in Russland nur sehr selten, die islamischen Völker zu missionieren – und wenn, war es kaum erfolgreich. Oft erwies es sich, dass mit Gewalt oder Verlockungen erlangte Konversionen zur Orthodoxie nur von geringer Dauer waren und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit rückgängig gemacht wurden. Eine der wenigen Ausnahmen stellen die Osseten dar, die sich in ihrer Mehrheit zur Orthodoxie bekennen. Allerdings gibt es heute eine gegenseitige Beeinflussung des orthodoxen und des muslimischen Wiederauflebens von Religion: Gerade für die Krimtataren war die Ausbreitung der Orthodoxie auf der Krim, vor allem nach ihrer Rückkehr aus den Deportationsgebieten, ein Stimulus zur eigenen religiösen und nationalen Identitätsbildung. Nicht wenige Konflikte und Auseinandersetzungen der letzten Jahre auf der Krim sind auf den Antagonismus zwischen beiden Gruppen zurückzuführen. JUDENTUM Das Judentum als religiöse Gruppe sei hier nur kurz genannt. Nach dem Holocaust sind von den blühenden jüdischen Gemeinden nur noch Relikte übriggeblieben, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch neue Repressionen und Diskriminierung unter sozialistischer Herrschaft sowie durch Emigration weiter dezimiert wurden. Daher hat das osteuropäische Judentum aktuell keine große religiöse Relevanz. Versuche aus Israel und vor allem aus den USA, das jüdische religiöse Leben und die jüdische Kultur in Osteuropa wiederzubeleben, zeigen kaum nachhaltige Ergebnisse. Antisemitismus und Rassismus, die in vielen osteuropäischen Staaten präsent sind, erschweren darüber hinaus die Entwicklung eines normalen jüdischen Lebens. Wichtiger als die bekannten Beispiele wie der Krakauer Stadtteil Kazimierz oder der jüdische Friedhof von Prag sind vielleicht das vorsichtige Wiederaufleben chassidischer Frömmigkeitsformen wie in der Ukraine, wo die Verehrung des Rabbiners Nachman viele Anhänger hat; über dieses Phänomen ist sogar ein sehenswerter Film entstanden. „KONFESSIONSLOSE“ UND „ATHEISTEN“ Schließlich sei eine Gruppe von Menschen genannt, die bei der Betrachtung der religiösen Situation in Ostmittel- und Osteuropa oft übersehen wird: diejenigen, die keinen religiösen Glauben haben. In der Terminologie der kommunistischen Ideologie wie der kirchlichen Wahrnehmung werden sie häufig „Atheisten“ genannt, obwohl sie vermutlich zumeist als Agnostiker zu sehen sind. Atheismus als philosophisch ausgearbeitetes System der Gottesleugnung wird nur von wenigen Menschen vertreten; jedoch bezeichnen sich viele als „Atheisten“, weil das im Kommunismus der gebräuchliche Name für Religionslose war. Umfragen zeigen, dass es in vielen ostmittel- und osteuropäischen Staaten merkwürdige Zwischenformen zwischen Agnostizismus und Gottesglauben gibt, auch zwischen Agnostizismus und religiöser Praxis. Es ist zu erwarten, dass diese Mischformen an Bedeutung verlieren, wenn die Generation derjenigen, die religionslos erzogen wurden, abtritt und neue Generationen sich für oder gegen einen religiösen Glauben entschieden haben werden. DAS ERBE DER VERGANGENHEIT Die Religionsgemeinschaften in Ostmittel- und Osteuropa weisen einige strukturelle Ähnlichkeiten auf. Sie hängen mit ähnlichen historischen Erfahrungen im Kommunismus und in der Transformation zusammen. Sie mussten dadurch ihre Beziehung und die Haltung ihrer Vertreter zu dieser vergangenen Epoche reflektieren und sich in der neuen modernen, pluralen Welt zurechtfinden. Aus dieser Situation entstand in fast allen Religionsgemeinschaften ein Gegensatz zwischen denjenigen, die sich grundsätzlich gegen das Regime ausgesprochen und Widerstand geleistet hatten, und denjenigen, die es für akzeptabel oder reformierbar gehalten hatten und deswegen mit seinen Vertretern zusammengearbeitet hatten. In der Spannung zwischen den „Märtyrern“ und „Kollaborateuren“ spiegelt sich die komplizierte Lage von verfasster Religion in den Zeiten der Verfolgung und Bedrängung – übrigens ein Gegensatz, den das Christentum seit der Antike kennt. Nicht nur in den betroffenen Kirchen und Gemeinschaften, sondern auch in den westlichen Kirchen und der wissenschaftlichen Fachwelt gab es eine Debatte darüber, wie die Position der Kirchen im Kommunismus und ihre Haltung gegenüber den staatlichen Organen zu bewerten sei; diese Diskussion entfaltete sich vor allem an der internationalen ökumenischen Bewegung nach 1948. Der These, die westlichen Gesprächspartner seien „nützliche Idioten“ von staatlich instrumentalisierten Kirchen gewesen, wurde die Ansicht entgegengestellt, dass nur durch solche Kontakte die Kirchen im Osten des Kontinents überhaupt die Möglichkeit gehabt hätten, von wichtigen Entwicklungen in der westlichen theologischen und kirchlichen Welt zu erfahren und Kontakte zu unterhalten, die bis zu Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten von Priestern in westlichen Einrichtungen gingen. Mit dieser Thematik hängt die Frage nach einer Aufarbeitung der Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten zusammen. Die Auseinandersetzung um den Erzbischof Stanislaw Wielgus, dessen Amtseinführung als Erzbischof von Warschau wenige Stunden vor dem geplanten Zeitpunkt wegen Kollaborationsvorwürfen abgesagt werden musste, war ein Höhepunkt der Debatte in der katholischen Kirche. In den meisten orthodoxen Kirchen hat eine solche Debatte noch kaum begonnen. Offensichtlich fällt es schwer, von der Selbstwahrnehmung als „Märtyrer“ aus anzuerkennen, dass es dennoch Amtsträger gab, die den Weg des geringeren Widerstands und der Kollaboration gingen. Doch ist auch hier zu unterscheiden zwischen einer Gewissensentscheidung, um für die eigene Kirche Handlungsmöglichkeiten zu erhalten bzw. diese zu bewahren, und Menschen, die den eigenen Vorteil in den Vordergrund stellten und am Wohl der Kirche nicht interessiert waren. Ein weiteres Spannungsfeld, das ebenfalls aus der jüngsten Geschichte rührt, ist der Gegensatz zwischen den unterschiedlichen Generationen von Amtsträgern, der oft in einem Streit um den richtigen Weg und das richtige Vorgehen zum Ausdruck kommt. Denjenigen Klerikern und Geistlichen, welche die Zeit des Kommunismus und der eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten ihrer Gemeinschaft noch bewusst miterlebt haben, stehen die jüngeren gegenüber, die oft gerade erst ihre Ausbildung abgeschlossen haben und über genauere theologische Kenntnisse verfügen; sie wollen zuweilen Lehre und Praxis ihrer Gemeinschaft „reinigen“. In der Ukraine lässt sich dieses Phänomen an zwei Orten beobachten: Auf der Krim, wo sich unter den Tataren ein Islam mit einigen Besonderheiten und lokalen Traditionen entwickelt hatte, warnen ältere Amtsträger davor, dass ein „fremder Islam“ entstehe, der den seit langem bekannten „revidieren“ wolle und sich dafür ausländischer Missionare bediene. Jüngere Imame, die tatsächlich im Ausland studiert und den Islam dort kennengelernt haben, bilden die Gegengruppe, die einen „reinen“ Islam propagiert. Strukturell ähnlich verhält es sich im Westen des Landes. Die Griechisch-Katholische Kirche war von 1946 bis 1988 verboten und konnte nur im Untergrund sowie in der Emigration existieren. Hier trafen mehrere Gruppen von Klerikern aufeinander: Die noch vor 1946 geweihten, die die Zeit des Verbots im Untergrund überlebt hatten, dann diejenigen, die in dieser Zeit zur Orthodoxie konvertiert waren, dort als Priester aktiv sein konnten und nun zurückkehrten, und diejenigen, die als Ukrainer in Rom oder in den USA ihre Ausbildung genossen hatten und nun aus dem Ausland kamen. Mit der Zeit kam eine große Gruppe von Priestern hinzu, die seit Anfang der 1990er Jahre im Land ausgebildet wurden. Zwischen ihnen kam es nicht selten zu Konflikten, die auch mit der Ausrichtung der eigenen Kirche (eher zur östlichen oder zur westlichen Tradition hin, eher als katholische oder als ukrainische Kirche, in ihrer Beziehung zu den verschiedenen orthodoxen Kirchen in der Ukraine) zu tun hatten. Zum gemeinsamen historischen Erbe gehört, dass in den Religionsgemeinschaften (allerdings nicht nur von Ostmitteleuropa und Osteuropa) vormoderne Denkstrukturen präsent sind. Das macht es oft schwierig, den gesellschaftlichen Diskurs zu vielen Herausforderungen der Gegenwart konstruktiv mitzuprägen. Gemeinsam ist den Religionsgemeinschaften die Rolle, die Religion für die Konstruktion von nationaler oder staatlicher Identität spielt. Diese Konstruktion verlief immer spezifisch, je nach dem, ob die entsprechende Religionsgemeinschaft sich in einer Minderheits- oder Mehrheitssituation befand, ob die jeweilige staatliche Herrschaft der gleichen Religion angehörte oder eine andere vertrat, ob Nationen staatstragend waren oder von anderen beherrscht wurden. All diese Faktoren wirkten sich je unterschiedlich aus, führten aber dazu, dass die religiöse Identität immer in Verbindung mit einer anderen, staatlichen oder nationalen, konstruiert wurde. Die enge Bindung an Staat und/oder Nation ist bis heute Folge dieser Entwicklung. Beispiele wie Irland oder – mit einer gewissen Einschränkung – die Niederlande zeigen, dass das kein Spezifikum Ostmittel- und Osteuropas und schon gar keines der Orthodoxie ist. „Staatskirchen“ im rechtlich-formalen Sinne haben sich in keinem Land etabliert. Ein weiteres Phänomen, das die ostmittel- und osteuropäischen Religionsgemeinschaften miteinander teilen, ist der ungeklärte Umgang mit der Vergangenheit. Die Tendenz, die eigene Geschichte als Triumph- oder Leidensgeschichte zu überhöhen und das Leiden anderer Gruppen zu ignorieren, ist fast überall anzutreffen. Das erschwert das ökumenische und interreligiöse Miteinander, so dass die Pflege der zwischenkirchlichen Beziehungen fast überall in Ostmittel- und Osteuropa ein Import aus dem Westen ist. Der Anstoß zur Ökumene kam in fast allen Fällen von außen. Häufig verbleiben die Beziehungen auf einer pragmatischen Ebene, ohne die theologischen Unterschiede zu behandeln und vor allem ohne die gemeinsame Geschichte zu betrachten. Inzwischen gibt es einige Projekte, in denen die Vertreter von Kirchen (und zuweilen auch von muslimischen Gemeinschaften) versuchen, zu einer gemeinsamen Historiographie zu gelangen. Erst wenn solche Unternehmungen häufiger werden und die Ergebnisse auch in den betroffenen Ländern veröffentlicht werden, kann es zu einer Rezeption kommen, die eine Relativierung der vorherrschenden eigenen Sichtweise zur Folge haben kann. Bis dahin wird es aber noch ein langer Weg sein, wie andere Beispiele zeigen. Schließlich ist nach der Rolle der Religionsgemeinschaften in den Gesellschaften zu fragen. Hier zeigt sich zum einen, dass sie oft noch nach einer eigenen Position suchen. Sie waren nicht darauf vorbereitet, in einer pluralen Gesellschaft zu leben. Auch die Kirchen in Deutschland hatten einen langen und schweren Weg zurückzulegen, ehe sie die gesellschaftliche Position errungen haben, die sie heute einnehmen; hierzu galt es zahlreiche innerkirchliche Widerstände zu überwinden. Die Kirchen in den Transformationsstaaten mussten einen ähnlichen Prozess in sehr kurzer Zeit durchlaufen, und sie konnten ihn kaum beeinflussen. Das dispensiert sie nicht von der Verpflichtung, in ihren Gesellschaften eine Stelle einzunehmen, in der sie sowohl ihre kirchliche Mission erfüllen als auch an der Gestaltung der Gesellschaft nach ihren Vorstellungen mitwirken können. Die Katholische Kirche bringt dabei bessere Voraussetzungen als die Orthodoxen Kirchen mit, einen aktiven Beitrag zur weiteren demokratischen Entwicklung der Gesellschaften zu leisten, da sie auf ausgearbeitete und bereits bewährte Konzepte zurückgreifen kann. Die Russische Orthodoxe Kirche hat mit der Verabschiedung der Sozialkonzeption einen wichtigen Schritt in diese Richtung getan. Allerdings ist Skepsis angebracht, ob sich die Ortskirchen in Ostmitteleuropa und Osteuropa tatsächlich der Bedeutung dieser Aufgabe bewusst sind und sie mit den gebührenden Mitteln angehen. Oft hat es eher den Anschein, als seien ihnen andere, aus ihrer Geschichte übernommene Positionen wichtiger. Doch werden sie auf die Herausforderungen der Moderne aus solchen Positionen heraus kaum eine angemessene Antwort geben können. Thomas Bremer (1957), Dr. theol., Prof. für Ostkirchenkunde an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster Jennifer Wasmuth (1969), Dr. theol., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kirchen- und Konfessionskunde der HU zu Berlin

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