Titelbild Osteuropa 2-3/2009

Aus Osteuropa 2-3/2009

Verteidung der Freiheit
Reflexionen über 1989

Adam Michnik

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Abstract in English

Abstract

Das Jahr 1989 brachte eine Revolution ohne Revolution. Der Kampf gegen den Kommunismus offenbarte den Glauben an den Sinn menschlicher Freiheit. Doch diese Freiheit brachte Paradoxien mit sich. Die Arbeiter, die in Polen die Freiheit erstreikt hatten, waren die ersten Opfer der Transformation. Hochburgen der Solidarność gingen Bankrott. Aber im gesamten Raum mit Ausnahme des Balkans und Russlands hat es nie bessere 20 Jahre gegeben als die zurückliegenden. Heute allerdings steht Europa vor einer Bewährungsprobe. Zynismus, der jedes Wertesystem unterminiert, und autoritäre Versuchungen bedrohen die Freiheit. Es geht um die Verteidigung der Republik.

(Osteuropa 2-3/2009, S. 9–18)

Volltext

Warum ist vor 20 Jahren geschehen, was geschehen ist? Die banalste Antwort auf diese Frage lautet: weil sich das kommunistische System als wirtschaftlich ineffektiv erwiesen hatte. Doch das ist nicht die einzige Antwort. Bis heute gibt es kommunistische Länder, auch wenn wir wissen, dass das System nicht effizient ist. Trotzdem existieren Kuba, Nordkorea, Vietnam oder China. Mit einer rein ökonomischen Antwort darf man sich deshalb nicht zufriedengeben.

Das Jahr 1989 war tatsächlich ein Jahr der Wunder, ein annus mirabilis. Je nach Standpunkt sind die Antworten auf die Frage nach den Ursachen für den Untergang des Kommunismus verschieden. Wenn man in Washington lebt, so wird einem ein Amerikaner antworten, dass dies das Ergebnis der US-Politik gewesen sei. Ein Demokrat wird sagen, dass dies ein Ergebnis der von Jimmy Carter durchgesetzten Menschenrechtspolitik gewesen sei. Also dessen, was die Dissidenten mit Vladimir Bukovskij eine „Entspannung mit menschlichem Antlitz“ nannten. Ein Republikaner wird sagen, dass dies ein Ergebnis der Politik Reagans gewesen sei, da er einen Rüstungswettlauf eingeleitet habe, den die Sowjetwirtschaft nicht mehr habe verkraften können.

Im Vatikan wiederum kann man hören, dass der Untergang des Kommunismus hauptsächlich das Verdienst Johannes Pauls II. und seines Wirkens gewesen sei, der diesem System insbesondere in Polen die Legitimation genommen habe. Wenn man in Kabul lebt, so wird einem gesagt, dass der Kommunismus wegen des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan untergegangen sei, aber auch am vernünftigen Widerstand der Afghanen scheiterte, die das Sowjetimperium in eine ausweglose Situation geraten ließen. In Berlin heißt es, der Untergang des Kommunismus sei das Ergebnis einer vernünftigen „Ostpolitik“, die dazu geführt habe, dass die Sowjetunion über Dinge reden musste, über die sie zuvor nicht hatte reden wollen. In Moskau erzählt jeder, es sei das Ergebnis von Gorbačevs Perestrojka, und in Warschau, dass es das Verdienst der Solidarność, Wałęsas usw. gewesen sei.

Kurz gesagt – auf diese Frage gibt es nicht nur eine Antwort. Ein ganzes kompliziertes Faktorbündel ließ die politische Elite in der Sowjetunion zu der Einsicht gelangen, dass eine gewisse demokratische Modernisierung unausweichlich sei und der Sozialismus anderenfalls nicht überleben würde. Ich bin davon überzeugt, dass Michail Gorbačev den Sozialismus modernisieren, nicht aber die UdSSR zerstören wollte. Es stellte sich aber heraus, dass es sich mit dem Kommunismus so verhielt wie in dem bekannten Witz mit den Hosen des jüdischen Schusters. Als die Frau ihm sagt, er solle die Hosen zur Wäsche geben, wehrt er sich energisch. Die Frau will wissen, warum und klagt, dass sie immer schmutziger werden. Schließlich antwortet Mordechaj: „Ja, sie werden schmutzig, aber wenn ich sie zur Wäsche gebe, werden sie ganz auseinander gehen.“

Und so geschah es mit der UdSSR. Der Kommunismus ging paradoxerweise zugrunde, weil die sowjetischen Eliten daran glaubten, ihn reformieren zu können, während er nicht reformierbar war. Recht hatten faktisch diejenigen, die nichts verändern wollten, also die Betonköpfe in der Partei. Wir wissen nicht, wie lange sich der Kommunismus in China, auf Kuba oder in Korea noch halten wird. In historischen Dimensionen gesehen ist er zum Tode verurteilt, doch in den Dimensionen eines Menschenlebens kann er noch einige Generationen bestehen. Insofern war das Jahr 1989 das Zeichen, dass etwas zu Ende geht, doch man wusste nicht im geringsten, wie und bis wann es zu Ende gehen würde.

Vier Perspektiven

Wenn ich zurückblicke, so habe ich vier Perspektiven: eine polnische, da ich Pole bin, eine russische, weil die Karten in Wirklichkeit dort gemischt wurden, eine mitteleuropäische, weil der Untergang des Kommunismus kein rein polnisches Phänomen war, und schließlich auch noch die Perspektive des Westens. Der Westen war überhaupt nicht darauf vorbereitet, was geschah. Damit meine ich nicht nur Westeuropa, sondern auch die USA. Ich erinnere mich an meine damaligen Gespräche mit vielen wichtigen US-Politikern, die nach Warschau kamen. Sie waren absolut unvorbereitet, was passierte. Sie nahmen nicht an, dass die kommunistische Diktatur zerbrechen würde, sie konnten nicht diagnostizieren, was gerade in der Sowjetunion geschah, und sie hatten – wie übrigens auch wir in Polen – überhaupt keine Vorstellung davon, dass die UdSSR ganz zerfallen könnte. Der entscheidende Faktor war Russland. Die Perestrojka setzte neue Kräfte frei, und diese stießen immer weitere Prozesse an, die eine neuartige Dynamik entfalteten. Lange glaubten weder die kommunistischen Herrschaftseliten noch die Opposition in Ostmitteleuropa daran, dass in Russland tatsächlich ein wichtiger Prozess ablief.

1989 war überhaupt nicht klar, dass Gorbačev in der Lage sein würde, sich mit dem Zerfall des Warschauer Paktes und Gesprächen über eine Vereinigung Deutschlands abzufinden, um den Kommunismus in der UdSSR zu retten. Das war damals alles andere als klar. Es ist kein Zufall, dass George Bush noch 1990 die Ukrainer in Kiew davon zu überzeugen versuchte, keine Unabhängigkeit anzustreben.

Das Jahr 1989 ist ein wahnsinnig wichtiges Datum. An seinem Beginn versuchten gerade einmal zwei Staaten, nämlich Polen und Ungarn, einen eigenen Weg zu beschreiten. Doch änderte sich dies wie in einem Kaleidoskop, von Bedeutung sind bisweilen sogar die Tagesdaten. Was im Januar noch nicht möglich war, wurde im Februar Wirklichkeit, und im März konnte man noch mehr fordern. Ich weiß das noch sehr gut von den Beratungen am Runden Tisch.

Anfang April 1989 war ich in Italien. Adam Boniecki war so generös, dass er mich zum Papst mitnahm. Es war bereits nach den sowjetischen Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten. Die Wahlen waren nicht ganz demokratisch, doch erstmals durften Kandidaten antreten, die nicht der Partei angehörten. Andrej Sacharov, Anatolij Sobčak und Oleg Bogomolov zogen ins Parlament ein. Zu den Verlierern gehörte erstmals seit 1917 die recht große Gruppe von Apparatschiks. Der Papst hörte sich mit enormer Aufmerksamkeit an, was ich sagte. Es war für ihn eine ganz neue Situation. Ich erklärte, dass Polen zwar noch vor den Wahlen stehe, doch nach der Lage in der UdSSR zu urteilen, verändere sich wirklich etwas, und man müsse sich überlegen, mit welcher neuen Sprache man sprechen solle.

Unter den Regierungseliten gingen die Ungarn am weitesten. In Ungarn begann der Wandel in der Partei. Imre Pozsgay, der Führer des nationalliberalen Flügels, war einer derjenigen Menschen, die für das „Tauwetter“ in den öffentlichen Medien verantwortlich waren. Er war auch einer derjenigen, die die Verständigung mit dem „nationalen“ Flügel der Opposition anregten. Als erster bestritt er János Kádárs Auslegung des Aufstands von 1956 als Konterrevolution.

Die ungarische Opposition war schwächer als die polnische und von Anfang an in zwei Strömungen geteilt, eine nationale und eine liberale. Die nationale Strömung, deren Anführer József Antall war, sprach sich für eine Verständigung mit Pozsgay aus, um Ungarn seine nationale Identität wiederzugeben, die von der kommunistischen Diktatur mit Füßen getreten worden war. Die zweite Strömung berief sich auf liberale Werte, forderte eine authentische Demokratie und widersetzte sich einem Kompromiss mit der kommunistischen Nomenklatura. Man könnte sagen, dass die „Nationalen“ die Rekonstruktion historischer Strömungen beabsichtigten, während Demokraten wie János Kis oder Tamás Bauer an die europäische Zukunft ihres Landes dachten.

Polen ging am weitesten, da der Runde Tisch die eiserne Logik der kommunistischen Regimes durchbrach und sich für ein anderes Denken öffnete, das seit dem August 1980 kein Gehör mehr gefunden hatte. Damals dachte ich so: Angenommen, die Gegenreformation ist keine Ablehnung der Reformation, sondern die Übernahme einiger ihrer Motive zur Erneuerung der Kirche, um sie zu modernisieren und an neue Herausforderungen anzupassen, so war die Solidarność eine Reformation innerhalb des Kommunismus und Gorbačev ein Gegenreformator. Später stellte sich bei unseren Gesprächen heraus, dass Gorbačev wenig über die Solidarność wusste, doch scheint mir, als sei diese Metapher historisch begründet.

Wenn ich über den Sinn dessen nachdenke, was in Polen am Runden Tisch geschah und was zu einer Art Blaupause für andere Länder wurde, sind einige Faktoren frappierend. Erstens war es eine große Revolution ohne Revolution. Niemand ging auf die Straße, es gab keine Barrikaden und keine Erschießungskommandos. Alle hatten die Barrikaden von 1980 und während des Kriegsrechts vor Augen. Das historische Bewusstsein gab den Rahmen dessen vor, wie wir die Zukunft sahen. Niemand von uns hatte ein Gefühl dafür, was geschah. Wie Aleksander Kwaśniewski viele Jahre später sagen sollte, ist ungewiss, wie sich alles entwickelt hätte, wären sich beide Seiten in Polen damals bewusst gewesen, dass dies alles auf eine Vereinigung Deutschlands hinauslaufen würde. Dennoch war man sich in der Opposition bewusst, dass ein vereinigtes Deutschland nur natürlich sei. Vielleicht wurde das nicht offen thematisiert, aber wir dachten so. Für mich war es offensichtlich, dass es unter den normalen Verhältnissen eines demokratischen Wettbewerbs nicht gelingen würde, die Teilung Deutschlands aufrecht zu erhalten und dass die DDR ein Kasernenstaat war, der ohne die Präsenz der Roten Armee nicht weiter bestehen würde. Die ostdeutsche Opposition dachte anders. Sie war die am weitesten links stehende Opposition von allen Ostblockländern, was hieß, dass sie die Demokratisierung der DDR anstrebte. Die Herbstdemonstrationen in der ehemaligen DDR begannen mit dem Motto „Wir sind das Volk“, ehe das Motto „Wir sind ein Volk“ entstand.

Ich will versuchen, mein damaliges Denken zu rekonstruieren. In Polen war der Plan für einen Runden Tisch die Idee, für Polen eine Art Finnlandisierung herbeizuführen. Wir wussten, dass wir gegen Russland keinen Krieg gewinnen würden, weshalb wir darauf setzen mussten, was uns aus Russland entgegenkam. Darum war die Perestrojka unser natürlicher Verbündeter. 1988 schrieb ich einen Artikel Der Streit um den Stalinismus, den ich an die Wochenzeitung Tygodnik Powszechny schickte. Die Zensur verhinderte seinen Druck, obwohl die der Zensur am wenigsten genehmen Zitate aus sowjetischen Zeitungen stammten. Das zeigt, mit welcher Verspätung und mit welchem Widerstand die Perestrojka zu uns kam. Die polnische Zensur strich bereits das Wort „Stalinismus“. Ende der 1980er Jahre war die Sowjetpresse viel liberaler und freier als die polnischen Zeitungen. Schließlich ließ die Zensur den Artikel aber durch. Es war mein erster Artikel seit 1966, der offiziell unter meinem eigenen Namen erschien. Auch das war ein Zeichen für Veränderungen.

Ein zweiter Faktor waren paradoxerweise die gegen Ende der 1980er Jahre intensivierten deutsch-deutschen Gespräche. In dieser Phase fragte ich in einem meiner Texte General Jaruzelski, warum polnisch-polnische Gespräche nicht möglich seien, während es einen Dialog zwischen Honecker und Kohl gab. Nach knapp zehn Jahren zeigte sich, dass das Projekt einer Modernisierung durch den Kriegszustand im Grunde auf das „chinesische Modell“ hinauslief, nur war unsere Diktatur nicht so stark wie die in China. Die Herrschenden gelangten zu der Einsicht, dass sie etwas Neues versuchen mussten, da das hochverschuldete Polen aus eigenen Kräften nicht mehr weiter wusste.

In Polen hielten im Lager der Herrschenden lange Zeit Rangeleien darüber an, wie der Runde Tisch zu bewerten sei. Die Streiks von Mai und August 1988 ließen eine Lage entstehen, vor deren Hintergrund die Regierung von Zbigniew Messner entlassen wurde. Neuer Ministerpräsident wurde Mieczysław F. Rakowski, der langjährige Chefredakteur der Wochenzeitung Polityka. Die Polityka war zwar ein Organ der kommunistischen Partei, zugleich aber als offen und reformbereit bekannt.

Zuvor war Rakowski stellvertretender Ministerpräsident in der Regierung von Wojciech Jaruzelski gewesen, hatte aber auf Druck des Kreml Mitte der 1980er Jahre abtreten müssen. Rakowski war ein Reformer, auch wenn er seine ganz eigene Reformidee hatte. Er wollte durch kühne wirtschaftliche Entscheidungen eine radikale Verbesserung der Lebensbedingungen herbeiführen und so eine breite Unterstützung für seine Politik erreichen. Dadurch sollte die Opposition der Solidarność marginalisiert werden.

Dieser Einfall hatte keinen Erfolg, und im Lager der Macht gewann die Überzeugung Oberhand, dass man Verhandlungen mit der Opposition aufnehmen müsse. Entscheidend hierfür war ein Streitgespräch im Fernsehen zwischen Lech Wałęsa und dem Vorsitzenden der regierungstreuen Gewerkschaften, Alfred Miodowicz. An diesem Abend saß ganz Polen vor dem Fernseher. Es war die Stunde der Wahrheit: Wałęsa schlug Miodowicz k.o. – Polen kochte über vor Begeisterung. Der Weg zum Runden Tisch stand offen.

Ambivalenzen der Freiheit

Der Kommunismus hatte die Welt systematisiert – auch für die Menschen im Westen. Er hatte ihnen vermittelt, dass das Wesen der Welt im Konflikt zwischen Demokratie und Totalitarismus bestehe. Das Ende des Kommunismus ließ einige Prozesse deutlich werden, derer wir uns nicht ganz bewusst gewesen waren. Erstens bedeutete der Kampf gegen den Kommunismus den tiefen Glauben an den Sinn menschlicher Freiheit. Doch das Ende des Kommunismus offenbarte uns das tiefe menschliche Bedürfnis nach einem Leben in einer sicheren und vorhersehbaren Welt. Trotz seines primitiven Verhältnisses zu den demokratischen Werten sagte der Kommunismus den Menschen ständig: Es gibt keine Arbeitslosigkeit, ihr seid sicher. Das war ein typisches Gefangenensyndrom. Jeder, der einmal im Gefängnis war, weiß genau, dass die Freiheit der einzige Traum des Gefangenen ist. Schließlich wird der Gefangene freigelassen, die Welt ist schön, bunt, die Vögel zwitschern, das Gras ist grün, in den Cafés sitzen Menschen, der einstige Gefangene geht durch die Straßen, er hat Raum.

Doch nach einiger Zeit erkennt er, dass er in Gefahr schwebt. Denn solange er im Gefängnis war, wusste er, zu welcher Stunde es Essen gibt, wann man ihn ins Bad bringt, dass der Friseur kommt und ihm die Haare schneidet, vor allem aber, dass er einen Schlafplatz hat. Und nun geht er plötzlich durch die Stadt und weiß nicht, was sein wird. Er beginnt dem, was gewesen ist, dem Gefängnis, nachzutrauern. So etwas verspürten wir nach dem Fall des Kommunismus für einige Jahre. Für die Oppositionellen schien das unfassbar zu sein, aber so war es. Im Gefängnis hatte alles seinen Platz, und plötzlich hielt das Chaos Einzug.

Ähnlich war es mit der ganzen Welt. Das Ende des Kommunismus löste unerwartete und ambivalente Prozesse aus. Der Kommunismus hatte die nationale und religiöse Tradition unterminiert. Das Ende des Kommunismus bedeutete also das Recht, zu dieser Tradition zurückzukehren. Doch zugleich ist diese Tradition nicht unbedingt gleichbedeutend mit Freiheit. Im heutigen Russland ist die orthodoxe Kirche kein Faktor, der die Demokratie stärkt, sondern sie ist dem Staat untergeordnet. In Polen sagt niemand, der verantwortungsvoll ist, es gäbe heute in unserer Kirche keine antidemokratischen Kräfte – denn es gibt sie. Sie dominieren in der Kirche nicht, doch ihre aktive Existenz ist mit bloßem Auge zu sehen.

Wer hat in Polen den Kommunismus gestürzt? In Polen hat das die Arbeiterklasse getan, die aber auch zum ersten Opfer der Transformation wurde. Stellen wir uns einen großen Industriebetrieb vor, der durch Streiks die Machthaber zu Zugeständnissen bewegen konnte. Dieser Betrieb stellte Lenin-Büsten für Schreibtische her. Die Beschäftigten arbeiteten gut. 1989 hörten sie nicht auf, gut zu arbeiten. Doch heute braucht niemand mehr Lenin-Büsten. Der Markt hat diesen Betrieb zerstört. Die Arbeiter, mit deren Hilfe die Freiheit erstreikt werden konnte, fielen dieser Freiheit zum Opfer. Das ist das erste Paradox der Demokratie in Polen.

Das zweite Paradox besteht darin, dass die größten Betriebe wie die Danziger Werft Hochburgen der Solidarność waren. Die neuen Regierungen wollten diesen Menschen kein Unrecht zufügen, denn schließlich hatten diese sie an die Macht gebracht. Da sie diese Betriebe aber nicht reformierten, gingen sie Bankrott. Das dritte Paradox lautet, dass die politische Kultur, die das System den Menschen beigebracht hatte, auf der führenden Rolle der Partei beruhte. Es war also ein ganz selbstverständlicher Plan, der Solidarność eine Führungsrolle zu geben und sie in eine Position zu bringen, in der sie entscheiden konnte, wer Woiwode oder Direktor wird, wer in einer Bank, beim Geheimdienst oder in der Armee Beschäftigung findet. Dadurch verlor das demokratische System ganz offenkundig Legitimität. Konflikte neuen Typs traten auf.

Alle historischen Utopien malen eine Welt aus, die frei sein sollte von strukturellen Konflikten. Diese Utopie war für die Opposition in den kommunistischen Ländern fast überall die Utopie der Volksherrschaft. Sie beruhte darauf, dass ein neuer Kommunismus aufgebaut werden sollte, nur eben ohne Kommunisten. In jedem der kommunistischen Länder überwogen Hirngespinste von einem dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Meistens endete die Suche nach jenem dritten Weg mit der Feststellung, dass dieser Weg in die Dritte Welt führe, weshalb man ihn lieber bleiben lassen sollte. Derartige Hirngespinste gab es sowohl bei den Linken als auch bei den Rechten, bei jenen, die sich auf konservative, religiöse, nationalistische Werte beriefen, sowie bei jenen, die sich auf plebejische, linke Traditionen und Vorstellungen von der Volksherrschaft bezogen.

Kein Oppositioneller sagte vor 1989, dass wir den Kapitalismus anstreben. Niemand forderte eine Privatisierung, niemand dachte daran. Und doch stellte sich heraus, dass diese absolut notwendig ist. Darum dachte und schrieb Francis Fukuyama, dass wir das Ende der Geschichte erreicht hätten. Fukuyama meinte eine Lage, in der niemand sich realistisch ein besseres politisches Projekt vorstellen konnte als Marktwirtschaft, parlamentarische Demokratie und die uneingeschränkte Achtung der Menschenrechte. Fukuyama konnte sich das nun nicht vorstellen, worin ich ihm Recht geben kann. Doch für Millionen von Menschen war dieses System gar nicht das Beste. Zudem hegte Fukuyama eine Illusion, die ebenso naiv war wie der Glaube anderer an ein sich auf die Regierung von Arbeiterräten stützendes System.

Bis heute erscheinen Bücher, die den Sinn der Transformation bestreiten. Ihre Autoren sind der Auffassung, die Menschen seien wütend, dass nichts gelungen sei, dass die letzten 20 Jahre im Grunde nur ein Haufen Unglück und Fehler seien. Es stimmt, nicht alles war perfekt, doch habe ich genau die entgegengesetzte Auffassung. Es sind viele schlechte Dinge geschehen, doch habe ich das Gefühl, dass mit Ausnahme des Balkans und Russlands die postkommunistischen Länder in ihrer neuesten Geschichte nie so gute 20 Jahre gehabt haben, im Falle Polens sogar in den letzten 300 Jahren.

Die autoritäre Versuchung

Beginnen wir mit Russland. Dort glaubte man an die Modernisierung des Sozialismus, doch dieser Glaube brach recht schnell zusammen. Warum ging Russland gerade diesen Weg? Es gibt hierauf mehr als nur eine Antwort. Es ist höchst wahrscheinlich, dass der historische Wandel dort einem Zickzackkurs folgt. Die russischen Eliten haben die Demokratie relativ schnell als dermokracija (dermo russ. = Scheiße, Scheißdreck) verstanden, also als „Sumpfokratie“, Geschwätz, Korruption und Kriminalisierung des täglichen Lebens. Der Chef des St. Petersburger Fernsehens erzählte mir, dass das Fernsehen unter Brežnev schrecklich gewesen sei. Man habe nichts sagen können und las nur offizielle Verlautbarungen vom Blatt ab. Doch abends konnte man mit seiner Tochter bedenkenlos spazieren gehen. In den 1990er Jahren konnte man straffrei sagen, dass El’cin ein Trunkenbold, ein Alkoholiker, ein Dieb sei, so wie alle Minister und Gouverneure; doch abends konnte man nicht spazieren gehen, aus Angst, entführt und erst gegen ein Lösegeld wieder freigelassen zu werden. Das ist eine sehr gute Definition dessen, wie die Russen die Perestrojka und die Demokratisierung gesehen haben. Deshalb haben heute in Russland die autoritären Lösungswege Putins eine so große Unterstützung. Er hat die Rechtlosigkeit einigermaßen in den Griff bekommen und damit begonnen, Löhne und Renten rechtzeitig auszuzahlen.

In Polen ist diese Angst vor dem Chaos auf zweierlei Weise zu Tage getreten. Als Rückkehr zum Bewährten, womit man die Erfolge der Postkommunisten erklären kann, übrigens nicht nur in Polen, sondern auch in Litauen, Bulgarien, Rumänien, in der Slowakei und in Ungarn. Die Postkommunisten hatten zwei Wege. Einer war der Weg der Zjuganovs und der Miloševićs, also die Transformation in den Nationalismus. Ich habe einmal in einem Artikel geschrieben, dass der Nationalismus die höchste Form des Kommunismus gewesen sei. Das wurde weithin zitiert.

Die Kritiker der demokratischen Transformation in Polen sagen, dass die Bilanz der beiden Jahrzehnte negativ sei. Sie sagen, dass die Täter der größten kommunistischen Verbrechen nicht verurteilt worden sind; dass die Lustration und die Entkommunisierung nie zu Ende geführt worden sind; dass sich die Korruption breit mache; dass die großen Eigentumsunterschiede und das bittere Gefühl vieler Kinder der Solidarność-Revolution sie sagen lassen, für so ein Polen hätten sie nicht gekämpft. Sie sagen auch, dass die Kriterien verloren gegangen sind, wie die Helden der Vergangenheit einzuschätzen seien, dass im Frühjahr 1989 die Zeit nicht für die Kommunisten gearbeitet habe, weshalb der Weg des Kompromisses am Runden Tisch ein Fehler gewesen sei.

Gelegentlich denke ich, dass man in Polen – aber auch in anderen postkommunistischen Ländern – mit großer Leichtigkeit längst vergangene Kriege gewinnt. 1989 war die Sowjetunion noch ganz gut in Schuss, und niemand konnte ihre Selbstzerstörung voraussehen. Der polnische Kompromiss wurde von der amerikanischen Regierung und den Regierungen Westeuropas als Vorbild dargestellt. Der 4. Juni 1989 ist zu einem symbolhaften Datum geworden. An diesem Tag fanden in Polen freie Wahlen statt – nicht ganz demokratische, aber doch schon richtige Wahlen, die dem System der kommunistischen Diktatur die Legitimation nahmen; am selben Tag wälzten in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Panzer die Demonstration jener Studenten nieder, die demokratische Freiheiten forderten. Wer heute sagt, dass damals alles auf der Hand gelegen habe, verschweigt, dass er damals nichts Derartiges sagte. Auch heute sagt er nicht, dass er das Datum und die Umstände kennt, unter denen die kommunistischen Regime in Kuba oder in Korea zusammenbrechen werden, auch wenn er das mit Sicherheit behaupten wird, wenn die Niederlage des Kommunismus auch in diesen Ländern offensichtlich wird.

In unseren Ländern sehen wir immer noch leichter die Vergangenheit vorher als die Zukunft. Auf der anderen Seite aber lässt sich auch die Vergangenheit immer schwerer vorhersagen, da das Bild von ihr von Antikommunisten der elften Stunde gemalt wird, von Menschen, die Personen, die sich im höchsten Maße verdient gemacht haben, bezichtigen, Kontakte mit der kommunistischen politischen Polizei gehabt zu haben. Es hat den Anschein, als würde eine derartige Geschichtsschreibung den Weg zu einem autoritären System neuen Typs bahnen.

Heute erleben wir, wie in vielen Ländern die Ideologie eines antikommunistischen Autoritarismus entsteht. In Ungarn wird sie von Viktor Orbán verkörpert. Orbáns Weg war interessant. Er begann als Wunderkind der Budapester liberalen Intelligenz. Die von ihm geschaffene Partei hatte ein antikommunistisches Antlitz von Friede und Freude. Ich kann mich gut an ein Wahlplakat von Orbáns Partei erinnern: zwei gegenübergestellte Fotografien. Auf der einen sehen wir einen leidenschaftlichen Kuss Brežnevs und Honeckers; auf der anderen die sinnliche und zärtliche Umarmung eines schönen Mädchens und eines gut aussehenden Jungen. Das waren zwei Welten. Doch Orbán führte seine Partei bald schon nach rechts zu einem autoritären, radikalen, revanchistischen Antikommunismus, der den gewöhnlichen Konservatismus und den ungarischen Ethnonationalismus absorbierte. In Polen war die zweijährige Regierungszeit der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) etwas Vergleichbares. In Russland wurde der Weg zu autoritären Regierungen von El’cin geöffnet, der die Tradition und Ideologie des Bolschewismus radikal verwarf, aber mit antibolschewistischen Parolen zu Methoden griff, die von demokratischen Standards weit entfernt waren. Es gibt heute keine große Auseinandersetzung darüber, dass die Präsidentenwahlen in Russland von 1996 getürkt waren. Als Demokrat stand ich damals auf der Seite meiner russischen Freunde, die erklärten, man müsse mit allen Mitteln die Kommunisten aufhalten, welche die erneut errungene Macht nicht wieder abgeben würden.

Wider das zynische Europa

Nach 20 Jahren lohnt es sich, Europa auch als ein neues Ganzes zu betrachten, ein Europa ohne Utopien. Dieses Europa pflegt bewusst politische und kulturelle Pluralität. Gleichzeitig ist es ein Europa ohne starken Wertekanon. Die Stärken der Demokratie beruhten stets auf einer starken Tradition des Nationalstaates, der Pluralismus bewusst erlaubte und die Erklärung der Menschenrechte sowie das Prinzip der Toleranz respektierte. Wo es aber nicht mehr als diese Tradition gibt, sehen wir ein Europa des Berlusconismus, in dem nur geschicktes Spiel, Sozialtechnologie, Zynismus und Geld zählen. Eine Koalition zwischen der Geschäftswelt, der Politik, den Medien und der Mafia. Zweifellos ist die kommunistische Gefahr – die einst auch in Frankreich oder Italien stark war – schlicht und einfach verschwunden. In Frankreich sind die Kommunisten zu einer mikroskopisch kleinen Gruppe geschrumpft, und in Italien wurden sie zur Sozialdemokratie.

Zweitens wächst in Europa ein Geist des Egoismus und des axiologischen Nihilismus, der Furcht, der Angst. Diesbezüglich ist das Projekt der Europäischen Union sehr wichtig und steht zugleich auch auf so schwankenden Füßen, da es ständig von unterschiedlicher Seite angegriffen und angefochten wird.

Drittens ist in den postkommunistischen Ländern die größte Bedrohung, dass die Erfahrungen des Putinismus übernommen werden, also eine Art neuer Version der lateinamerikanischen Systeme, wo es auf dem Papier demokratische Institutionen gibt, in Wirklichkeit aber jemand anderes regiert. Das klassische Beispiel hierfür ist Vladimir Putin, aber auch in Polen hatten wir zwei PiS-Regierungsjahre, in denen dieses Modell aufgebaut wurde, in denen die Institutionen der Zivilgesellschaft durch Angriffe auf das unabhängige Justizwesen oder die unabhängigen Medien geschwächt wurden.

Gibt es ein Europa? Ich denke nein, aber das muss keine Katastrophe sein. Die ganze Zeit über ist Europa durch Krisen und neue Versuche zusammengewachsen. Es ist immer noch ein dynamisches Gebilde, das immer weiter gebaut wird. Wichtig ist, dass auf Seiten des jungen, des postkommunistischen Europa ein europäisches Bewusstsein entsteht. Das muss aber nicht zu einem europäischen Isolationismus führen. Europa sollte sich zum Beispiel nicht von der Ukraine abwenden. Europa hat dann eine Chance, wenn es seine soft power intelligent zu exportieren versteht. Wenn Europa sich abschließt, wird es in Neoisolationismus verfallen und verlieren. Europa sollte ein demokratisches Projekt sein und in die ganze Welt ausstrahlen.

Was bedroht Europa heute? Auf der einen Seite ein zu Schwäche führender Zynismus, der jede Wertelehre und jedes Wertesystem aushöhlt, auf der anderen Seite alle autoritären oder gar totalitären Projekte. Wir sprechen über ein multikulturelles Europa, was natürlich gut ist. Dennoch – wenn wir in Europa einen großen Anteil von Bürgern aus der Welt des Islam haben, die als Minderheit unter Verweis auf die europäischen Grundsätze Rechte einfordern, wenn sie aber zur Mehrheit geworden sind, diese Rechte anderen verweigern, da das ihre Grundsätze sind, so ist darauf hinzuarbeiten, dass die Europäische Union die demokratischen Werte standhaft verteidigen kann.

Natürlich vereinfache ich. Aber darauf beruht das Paradox der Demokratie, dass sie ihre Feinde stets toleriert. Und sie muss so sein, wenn auch nur bis zu einer bestimmten Grenze. Wenn diese Grenze überschritten wird, schlägt sich die Demokratie selbst die Zähne aus. Ich habe mir sehr oft die Frage gestellt, warum die Weimarer Demokratie untergegangen ist. Weil niemand sie verteidigen wollte – weder die Intellektuellen noch die Gewerkschaften und auch nicht die Arbeiter. Es siegte ein partikularer Egoismus, der die Nazis an die Macht brachte. Natürlich wiederholt sich die Geschichte nicht, oder sie wiederholt sich nur als Farce – wie Marx mit Hegel sagte –, doch die Demokratie ist nie garantiert. Es könnte wieder so weit kommen, dass niemand die Demokratie wird verteidigen wollen.

Wenn ich zeitgenössische Theaterstücke ansehe oder Literatur lese – vor allem junge polnische Künstler –, sehe ich hier Verachtung für die Institutionen eines freien Staates. Man kann natürlich sagen, dass die Eliten alles dafür getan haben, um zum Gegenstand von Verachtung zu werden, doch wenn niemand den demokratischen Staat verteidigen wird, wird er schließlich unterliegen.

Meine Obsession ist die Verteidigung der Republik. Das Wesen der Auseinandersetzung in jedem unserer Länder lautet: Verteidigst du die liberalen Werte oder bist du mit einer Art Staat vom Schlage des Putinismus einverstanden? Das ist von größter Bedeutung wie auch das Verhältnis der Staatsmacht zu den von ihr unabhängigen Institutionen. Will die Staatsmacht sich diese Institutionen einverleiben oder ist sie bewusst zu Selbstbeschränkung bereit und erlaubt die Existenz bürgerlicher, religiöser, berufsständischer Organisationen, die definitionsgemäß vom Staat unabhängig sein müssen und mit denen sich die Staatsmacht durch Kompromisse verständigen muss?

Ein zweites Problem – vielleicht ist es heute weniger von Belang, aber vor zehn Jahren war es sicher wichtig – sind Lustration und Entkommunisierung. Kann ein demokratisches System einen bewussten Konsens in Sachen Exklusion und Diskriminierung einer bestimmten Personengruppe tolerieren, nur weil sie informelle Mitarbeiter oder Mitglieder des Ancien Régime waren? Nein, dieser Weg führt direkt in die Diktatur. In der Tschechoslowakei begann nach dem Krieg die Diktatur mit der Flucht, Vertreibung und Ermordung der Deutschen, die immerhin Bürger der Republik waren. Nicht wie in Polen mit der Aussiedlung von Deutschen aus Deutschland. In der Tschechoslowakei gab es eine Mehrheit für die Aussiedlung der deutschen Staatsbürger. Man wendete das Prinzip der kollektiven Verantwortung an. Das ebnete den Weg zum Staatsstreich. Für solche Signale sollten wir empfindlich, ja sogar überempfindlich sein.

 

Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew, Darmstadt

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