Titelbild Osteuropa 12/2009

Aus Osteuropa 12/2009

Editorial
Idee und Interesse

Manfred Sapper, Volker Weichsel


Abstract in English

(Osteuropa 12/2009, S. 5–6)

Volltext

Slavia heißt die Bellezza auf dem Titelbild. Unverkennbar stammt sie aus der Feder des tschechischen Künstlers und Graphikers Alfons Mucha, eines der Hauptvertreter des internationalen Jugendstils. Bei dem Werk handelte es sich um eine Auftragsar-beit. Die schöne Slavia hatte die banale Funktion, durch ihre Attraktivität Aufmerk-samkeit zu wecken und möglichst viele Damen und Herren zu bewegen, bei der As-sekuranzgesellschaft gleichen Namens Policen zu zeichnen, um sich gegen Unbill und Unglück, Brand und andere Katastrophen zu versichern. So profan der Zweck, so sakral die Anmutung. Fast priesterlich wirkt die junge Frau, in deren Darstellung sich Volksornamentik und religiöse Motive mischen. Und dass die Versicherungsgesellschaft nicht nur Prager Kunden im Blick hatte, sondern Slawen überall in der Habsburger Monarchie, signalisieren die Lindenblätter, welche die Slavia umranken, die weiß-rot-blauen Bänder in ihrer Rechten und der Ring in ihrer Linken. Es sind die Schlüsselsymbole der slawischen Einheit. Die Vorstellung von der Gemeinsamkeit der Slawen, aus der eine politische Einheit erwachsen solle, ist älter als Muchas Plakat von 1907. Sie geht auf das zweite Viertel des 19. Jahrhunderts zurück, als sich ein literarischer Panslawismus ausbildete. Intel-lektuelle bedienten sich auf der Suche nach einer gemeinslawischen Sprache und Literatur einer kritischen historisch-philologischen Methode. Diese traf mit dem neu-en, wachsenden Interesse am Volk zusammen, wie es Johann Gottfried Herder in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zum Ausdruck brachte. Doch anders als Herder, der in seinem berühmten Slawenkapitel die Slawen als eine Nation verstand, gehört es zur Ironie der Geschichte, dass viele Intellektuelle in Ostmitteleu-ropa und auf dem Balkan, die unter dem Vorzeichen des „Erwachens der Völker“ von einem panslawischen Gedanken ausgegangen waren, tatsächlich die eigene nationale Bewegung beförderten. Immer wieder wurde die ideologische Homogenität der Sla-wischen Idee überschätzt. Unter diesem Oberbegriff verbargen sich so unterschiedli-che Phänomene wie der russozentrische autoritäre Panslawismus, der demokratische Austroslawismus oder der föderale Jugoslawismus. Im 20. Jahrhundert griff Stalin nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion auf die Slawische Idee zurück, um den Widerstand der slawischen Völker gegen die Deutschen zu stärken; nach dem Krieg instrumentalisierte die Sowjetunion die Idee von der Gemeinsamkeit der Slawen, um die kommunistische Herrschaft in Ostmittel-europa aufzubauen, zu konsolidieren und zu legitimieren. Und selbst heute ist die Slawische Idee mehr als eine leere Ideologie von vorgestern. Immer wieder tauchen Versatzstücke der Idee der slawischen Gemeinsamkeit auf der politischen Bühne auf. In Belarus stilisiert sich Aleksandr Lukašėnka zum Retter der „bedrohten slawischen Zivilisation“, in der Ukraine greifen Politiker nicht nur im Wahlkampf auf die Vorstellung ostslawischer Gemeinsamkeit zurück und bringen eine „Osteuropäische Union“ ins Gespräch. Auch in Russland ist immer wieder pan-slawisches Gedankengut zu hören, in der Regel in seiner russozentrischen Variante. Gemeinsam ist diesen Appellen an ein slawisches Gemeinschaftsgefühl das Interesse: Sie dienen zur Mobilisierung der Bevölkerung, zur Legitimationsstiftung der Herr-schenden und zur Abgrenzung von der Europäischen Union und den USA. Der aktuelle politische und rhetorische Zugriff auf Elemente der Slawischen Idee demonstriert: Erstens sind Teile der slawischen Gesellschaften bis heute empfänglich für derartige Signale. Slawisches Gemeinschaftsbewusstsein muss Bestandteil der kollektiven Identität sein. Ansonsten ließe sich mit diesen Appellen keine politische oder ideologische Unterstützung mobilisieren. Zweitens zeigt sich in den vielfältigen Erscheinungsformen der Slawischen Idee über nahezu zwei Jahrhunderte hinweg, wie flexibel und interpretationsoffen diese Ideolo-gie ist. Vor über einem halben Jahrhundert prägte der Historiker Hans Kohn in seinem Büchlein „Die Welt der Slawen“ die Redewendung „Von der Einsamkeit und Ge-meinsamkeit der Slawen“. Damit meinte er im Blick auf die kommunistischen Re-gime in Ostmitteleuropa, dass die slawischen Völker nie eine größere Gemeinsamkeit in ihrer Geschichte aufgewiesen hätten. Doch der Eiserne Vorhang machte daraus auch eine Einsamkeit in Europa. Die Gemeinschaft der Slawen heute zu denken, ist schwerer denn je. Einige der slawischen Staaten sind heute integraler Bestandteil der EU. Ein anderer Teil strebt danach, der Union möglichst bald anzugehören. Die poli-tischen Regime anderer mehrheitlich slawischer Gesellschaften wiederum definieren ihre Herrschaft gerade durch die Abgrenzung von der Europäischen Union. Diese Unterschiede bleiben nicht ohne Auswirkungen auf die Substanz der Slawischen Idee und auf die integrative Kraft, die sie zu entfalten vermag. Das vorliegende Heft verdankt sich der Zusammenarbeit mit dem Geisteswissen-schaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO). Stefan Troebst und sein Team werden mit Mitteln des Bundesmi-nisteriums für Bildung und Forschung den Wandlungen des Panslawismus seit 1918 als einer ost(mittel)europäischen Ideologie auf der Spur bleiben. Das Zentrum ist für Anregungen und Kritik an Aktivieren Sie JavaScript, um diesen Inhalt anzuzeigen. dankbar.