Titelbild Osteuropa 1/2009

Aus Osteuropa 1/2009

Energieaußenpolitik mit oder gegen Russland?
Irrtümer der europäischen Energiedebatte

Roland Götz

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Abstract in English

Abstract

In der europäischen Energiedebatte wird immer häufiger eine angeblich gefährliche Importabhängigkeit von Russland beschworen und bisweilen einer Militarisierung der Energiepolitik das Wort geredet. Stichwort Energie-NATO. Doch das Bedrohungsszenario ist verfehlt. Russland ist vom Export fossiler Energieträger mindestens ebenso abhängig wie Europa von deren Import. Inadäquat sind auch die Mittel, die zur Erhöhung der Energiesicherheit gefordert werden. Alle anderen Lieferstaaten und Lieferwege außerhalb Europas sind viel problematischer als Russland. Die EU sollte daher, statt alternative Pipelines zu fordern, alternative Energien fördern. Dies trägt ebenso wie die Erhöhung der Energieeffizienz in den östlichen EU-Staaten und in Russland nicht nur zur Versorgungssicherheit, sondern auch zur Klimasicherheit bei.

(Osteuropa 1/2009, S. 3–18)

Volltext

In der europäischen Energiedebatte wird immer häufiger eine angeblich gefährliche Importabhängigkeit von Russland beschworen und bisweilen einer Militarisierung der Energiepolitik das Wort geredet. Stichwort Energie-Nato. Doch das Bedrohungsszenario ist verfehlt. Russland ist vom Export fossiler Energieträger mindestens ebenso abhängig wie Europa von deren Import. Inadäquat sind auch die Mittel, die zur Erhöhung der Energiesicherheit gefordert werden. Alle anderen Lieferstaaten und Lieferwege außerhalb Europas sind viel problematischer als Russland. Die EU sollte daher statt alternativer Pipelines zu fordern, alternative Energien fördern. Dies trägt ebenso wie die Erhöhung der Energieeffizienz in den östlichen EU-Staaten und in Russland nicht nur zur Versorgungssicherheit, sondern auch zur Klimasicherheit bei. Die fossilen Energieressourcen der Welt gehen zur Neige und werden auf Kosten Europas zunehmend von Schwellenländern wie China und Indien beansprucht. Der Import von Erdgas, Erdöl und Kohle nach Europa wird in den kommenden Jahrzehnten erheblich ansteigen, weil die Binnenförderung abnimmt, während der Verbrauch steigt. Die Importabhängigkeit von Russland wird hoch bleiben oder noch zunehmen. Die EU insgesamt und vor allem einige östliche EU-Staaten sind bereits besorgniserregend und einseitig von russischen Energielieferungen abhängig. Russland ist ein unzuverlässiger Energielieferant, weil seine Energieexporte wegen unzureichender Investitionen in die Öl- und Gasfelder langfristig nicht gesichert sind und der Kreml Energie als politische Waffe benutzte und auch in Zukunft einsetzen könnte. Dies ist die energiepolitische Lage, in der viele Beobachter aus Publizistik, Politik und Wissenschaft Europa heute sehen. Die Energiesicherheit Europas könne daher nur durch in der EU koordiniertes staatliches Handeln garantiert werden, wofür die EU neue Kompetenzen und Instrumente bräuchte. Die Mitgliedsstaaten sollen sich solidarisch verhalten, so dass die EU zu Russland „mit einer Stimme spricht“. Auch sollten die EU-Staaten ihre Energiebezüge stärker diversifizieren. Dazu müsse der „südliche Energietransportkorridor“ („Nabucco“-Gaspipeline) ausgebaut und eine Einkaufsgemeinschaft bei Erdgas gebildet werden. Zudem solle die Nachbarschafts- und ihre Zentralasienpolitik energiepolitisch ausgerichtet werden. Schließlich sollen die EU-Staaten Verbindungspipelines und Stromnetzwerke (Interkonnektoren) innerhalb der EU ausbauen und gemeinsam nutzbare Lager für Erdgas sowie LNG-Terminals errichten. Diese Lagebeschreibung und die daraus abgeleiteten politische Forderung sind Kernelemente eines weitverbreiteten Sicherheitsdiskurses. Die Debatte über eine strategische Energie- und Rohstoffpolitik ist allerdings von „Fehlwahrnehmung, Alarmismus und zahlreichen Missverständnissen“ gekennzeichnet. Der sicherheitspolitische Blick auf die Energiewirtschaft verstellt den Blick auf wesentliche Aspekte des Energiemarkts und die Position Russlands in diesem Markt. MYTHOS "VERWUNDBARKEIT" Europa ist, anders als behauptet wird, nicht in gefährlichem Maße energiepolitisch verwundbar. Es verfügt neben erheblichen eigenen fossilen und erneuerbaren Energieträgern über breite Importmöglichkeiten und hohe Kaufkraft, die ihm die Energievorkommen der gesamten Welt zugänglich machen. Zwar wird die Förderung von leicht gewinnbarem („konventionellem“) Erdöl weltweit spätestens um 2020 nicht mehr ansteigen. Doch verbleiben riesige Vorräte an fossilen Energieträgern wie Erdgas, nicht konventionellem Erdöl und vor allem an Kohle, die insgesamt rund 200 Mal so groß sind wie die konventionellen Erdölvorkommen und auch geographisch breiter verteilt sind als letztere. Um das zu erkennen, muss man außer den „Reserven“, also jenem Teil der Vorräte, der bereits gegenwärtig rentabel gefördert werden kann, auch die erst in Zukunft – bei höheren Preisen und weiter entwickelter Technologie – voraussichtlich rentabel gewinnbaren „Ressourcen“ in die Betrachtung einbeziehen. Dann wird offensichtlich, dass auch langfristig keine Knappheit an nicht erneuerbaren Energierohstoffen – und natürlich auch nicht an erneuerbaren Energien – zu erwarten ist. Alle auf einer kommenden „Energielücke“ aufbauenden Bedrohungsszenarien sind daher nicht gerechtfertigt. Tatsächlich bedroht sind durch Piraten und feindselige Staaten nur die Schiffstransportwege für Erdöl aus dem Nahen Osten in den Meerengen von Hormuz und Malakka. Hiervon betroffen sind vor allem die Ölimporte der USA und Ostasiens, kaum jedoch die Ölversorgung Europas, weil sie überwiegend auf sicheren Land- und Seewegen aus Russland (!), dem Kaspischen Raum und Afrika erfolgt. Angesichts eines gewaltigen Potentials an fossilen Rohstoffen, das unter Marktbedingungen immer weiter genutzt werden würde, ist die entscheidende politische Aufgabe, den Übergang zu erneuerbaren Energien zu gestalten und Anreize für Energiesparen zu geben. Dagegen ist die Politik nicht aufgerufen, Europas Versorgung mit fossilen Rohstoffen zu sichern, denn das besorgt der Energiemarkt, dessen Funktionsfähigkeit von vielen Beobachtern verkannt und unterschätzt wird. Die Bemühungen der Schwellenländer wie China und Indien um ihre Energieversorgung sind nicht nur legitim. Sie bedrohen auch nicht die Versorgungssicherheit Europas. Die energiepolitischen Aktivitäten dieser Länder werden übrigens, anders als oft behauptet, überwiegend nicht durch staatliche Politik, sondern durch kommerzielle Aktivitäten der dortigen Energieunternehmen voran getrieben. Wenn auch in der Energiesicherheitsdiskussion zuweilen konzediert wird, dass ausreichende Potentiale an Energierohstoffen vorhanden sind, so wird doch oft behauptet, dass diese von den Ölgesellschaften der Opec-Länder, die überwiegend in Staatsbesitz sind, wie auch von russländischen Staatsunternehmen wegen „Unterinvestition“ nicht rasch genug zugänglich gemacht würden. Wer so argumentiert, tritt für die Befriedigung eines Wachstums der Energienachfrage ein, das weder von Prinzipien der Nachhaltigkeit (im Sinne von Ressourcenschonung) noch von der Rücksicht auf Klimafolgen begrenzt wird. Dahinter steht die unausgesprochene These, dass es für die Energiekonsumenten günstiger wäre, wenn die Energievorräte der Welt einschließlich Russlands in der Verfügung der westlichen Energiekonzerne und damit vollständig dem Markt unterworfen wären. Grundsätzlich ist dagegen jedoch einzuwenden, dass Staaten im Rahmen ihrer völkerrechtlichen Souveränität frei entscheiden können, in welchem Umfang sie die Erschließung und Ausbeute ihrer Bodenschätze begrenzen wollen. Deswegen ist der Umstand, dass Russlands Bodenschätze in Staatseigentum sind und Lizenzen zu ihrer Nutzung nach Kriterien der Staatsraison vergeben werden, vollständig mit dem Völkerrecht vereinbar. Norwegen, das in der auf Russland konzentrierten Diskussion übersehen wird, praktiziert dieses Prinzip selbstverständlich auch. Dort entscheidet das Parlament über die Vergabe von Förderlizenzen. In der Debatte über Russland steht vor allem Gazprom in der Kritik. Man unterstellt dem weltgrößten Gasproduzenten, die Erschließung von Gasfeldern zu Gunsten des Erwerbs von Unternehmensbeteiligungen im Ausland – sowohl in der GUS als auch in Europa – zu vernachlässigen. Abgesehen davon, dass dies eine legitime Geschäftsstrategie sein könnte, stimmt das Argument gar nicht: Gazprom tätigt umfangreiche Investitionen in Fördereinrichtungen und Transportwege unter Konzentration der Investitionsmittel auf die Gasfelder auf der Jamal-Halbinsel, die neben Westsibirien zum zweiten Fördergebiet für russländisches Erdgas werden soll. Damit werden die Voraussetzungen für eine weitere Steigerung der Gasexporte nach Europa geschaffen. Freilich ist nicht auszuschließen, dass sich die Aufnahme der Gasförderung auf Jamal einschließlich der Verlegung von Unterwasserpipelines im Nördlichen Eismeer wegen der dort anzutreffenden extrem schwierigen natürlichen Verhältnisse verzögern könnte. Doch auch dann ist nicht mit einer Beeinträchtigung der Gasexporte zu rechnen, da eine Begrenzung des gewaltigen Inlandsverbrauchs, für den zwei Drittel des in Russland geförderten Gases verwendet werden, durch Preiserhöhungen möglich wäre. Die angeblich 2010 oder 2012 in Russland drohende „Gaslücke“ ist eine ursprünglich vom ehemaligen stellvertretenden russischen Energieminister Vladimir Milov aufgestellte These, die mit Hilfe eines Brüsseler Think tanks vom Londoner Rechtsanwalt Alan Riley weltweit publik gemacht werden konnte. Sie wird gerne von all denjenigen zitiert, die Russlands Lieferfähigkeit bei Erdgas in Zweifel ziehen möchten, beruht aber auf Rechen- und Datenfehlern. POPANZ "ABHÄNGIGKEIT" Die Wahrnehmung eines unvermeidlichen Kampfes um knappe Ressourcen entspricht nicht der Realität einer globalisierten Welt, bei der es wegen der Interdependenz aller Märkte – die Finanzkrise von 2008 hat dies überdeutlich gemacht! – keine klaren Gewinner und Verlierer geben kann. Die gegenseitige Abhängigkeit von Produzenten und Konsumenten im Energieträgerhandel bewirkt, anders als zumeist unterstellt wird, gleichgerichtete Interessen aller Seiten und hat konflikteinhegende Wirkung. Diese grundlegende Einsicht fehlt in der Energiesicherheitsdebatte. Numerische Importabhängigkeit wird fälschlich mit politischer Erpressbarkeit gleichgesetzt. Verkannt wird, dass einer numerischen (quantitativen) Importabhängigkeit der Energiekonsumenten in vielen Fällen auch eine ebensolche numerische Exportabhängigkeit der Energielieferanten gegenübersteht. Dies gilt vor allem für die Erdgasbeziehungen, wo die numerischen Abhängigkeiten zwischen den europäischen Ländern und Russland noch stärker als beim mehr diversifizierten Erdölhandel bestehen: Tabelle 1: EU-Länder mit Erdgas-Nettoimporten 2006 aus Russland und der sonstigen GUS (Mrd. Kubikmeter und Anteile in Prozent) Mrd. Kubikmeter Anteile (Prozent) aus RF GUS gesamt RF GUS EU-27 123 3 293 42 1 D 32 73 44 Italien 21 69 30 Ungarn 8 1 10 80 11 Frankreich 7 43 16 Polen 7 2 10 69 23 Tschechien 6 9 74 Österreich 6 7 82 Slowakei 6 6 100 Rumänien 5 0,3 5 94 6 Finnland 4 4 100 Bulgarien 3 3 100 Litauen 3 3 100 Griechenl. 2 3 81 Lettland 2 2 100 Estland 1 1 100 Belgien 1 17 4 Slowenien 1 1 52 Datenquellen: *Energy and Transport in Figures. Statistical Pocketbook 2007/2008, Brüssel 2008, . **EU Commission Staff Working Document {COM(2008) 744}, . – Die Angaben in Millionen Tonnen Öläquivalent (mtoe) wurden mit dem Faktor 1,1 in Mrd. m3 umgerechnet. Die EU insgesamt, aber auch die großen europäischen Gaskonsumenten Deutschland und Italien sind auf dem Energiegebiet Russlands (sowie Algeriens) größte Kunden und Russland ist für sie (zusammen mit Norwegen und Algerien) der größte Energieträgerlieferant, was alle Beteiligten ökonomisch aneinander bindet. Ostmittel- und Südosteuropäische Staaten wie Ungarn, Polen, Tschechien, die Slowakische Republik, Rumänien und Bulgarien, aber auch Österreich und Griechenland, die nur verhältnismäßig geringe Mengen russländischen Erdgases selbst verbrauchen, sind als Transitstaaten wichtig. Nur wenige kleine EU-Staaten fallen für Russland weder als Abnehmer noch als Transitstaaten ins Gewicht, sind aber selbst von Energielieferungen aus Russland numerisch stark abhängig. Es handelt sich dabei um Finnland sowie die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. In diesen Fällen, in denen eine energiepolitische Erpressbarkeit denkbar wäre, ist wegen der Küstenlage dieser Länder eine Versorgung mit Flüssiggas (LNG) über die Ostsee möglich, wenn dort die entsprechenden Verflüssigungsterminals gebaut werden. Ebenso könnten Verbindungspipelines zu westlichen Nachbarstaaten ausgebaut werden und die Stromnetze enger verbunden werden. Es wird eine „asymmetrische“ Abhängigkeit Europas von Russland behauptet, ohne dass die umgekehrte und viel größere Abhängigkeit der russländischen Energiewirtschaft von europäischen Abnehmern und damit die gegenseitige Abhängigkeit gewürdigt wird. Angeblich könne Russland auf seine Gasexporte nach Europa verzichten und durch ein „Abdrehen des Gashahns“ politisch motivierte Erpressung ausüben, der Europa hilflos ausgeliefert wäre. In den Medien werden auf sehr oberflächliche Weise die Preisauseinandersetzungen zwischen Russlands Gazprom und der oft zahlungsunwilligen ukrainischen Gasgesellschaft als Beleg für derartige Absichten und Möglichkeiten „des Kremls“ gewertet. Diese Argumentation verkennt, dass Gazprom, immerhin Russlands größter Industriekonzern, sich mit einer Einstellung seiner Gasexporte nach Westen sein eigenes Grab schaufeln würde, denn es wäre nach einem derartigen Bruch der entsprechenden mit europäischen Unternehmen geschlossenen Lieferverträge vom europäischen Markt auf alle Zeiten verbannt – und die europäische Kohle- und Kernkraftunternehmen würden an seine Stelle treten. Ebenfalls wird nicht erkannt, dass Russlands Anteil an den europäischen Erdgasimporten in Zukunft voraussichtlich deutlich abnehmen wird, weil die europäischen Gasimporte aus Afrika und dem Nahen Osten – zum großen Teil in Form von Flüssiggas – stark steigen, dagegen Russlands Gasexporte nach Europa auf hohem Niveau nahezu stagnieren werden. Dies erwartet zumindest die Internationale Energieagentur (IEA) in ihrem Referenzszenario von 2008: Demnach wird der Anteil der gesamten GUS – d.h. vor allem Russlands – an den Gasimporten der europäischen OECD-Staaten (west- und ostmitteleuropäische EU-Staaten sowie Norwegen und Türkei) von 58 Prozent im Jahre 2006 auf 32 Prozent im Jahre 2030 zurückgehen, während der Anteil der Importe aus Afrika im selben Zeitraum von 37 Prozent auf 54 Prozent zunehmen wird. Mit anderen Worten: Europa wird, wenn die IEA-Prognose stimmt, zunehmend von Afrika, aber nicht von Russland „abhängig“ werden! SCHRECKGESPENST „ENERGIE ALS WAFFE“ In der „Bedrohungsdiskussion“ werden zwei Argumente angeführt, die unter dem in der Publizistik auf Russland gemünzten Schlagwort „Energie als Waffe“ zusammen gefasst werden können: Gefährlich sei die Energieabhängigkeit von Russland deswegen, weil russländische Energiekonzerne dem Kreml als Instrumente seiner imperialistischen Außenpolitik dienten. Russland plane zudem mit dem Iran und Algerien eine Gas-Opec, die Europa den Gaspreis diktieren und es dadurch ökonomisch und politisch erpressen könne. Dass Wirtschaft und Politik in Russland wie in der übrigen Welt nicht ganz zu trennen sind, ist eine banale Erkenntnis. Die eigentliche Frage ist aber, ob in Russland, das zwar keine reine Marktwirtschaft, jedoch ein kapitalistischer Staat mit überwiegendem Privatbesitz an Produktionsmitteln ist – dies gilt auch für den Energiesektor, wo neben der halbstaatlichen Gazprom eine Reihe privater Öl- und Gasfördergesellschaften tätig sind und der Staatsanteil unter 50 Prozent liegt –, nur von einer Steuerung der Wirtschaft durch die Staatsmacht auszugehen ist, jedoch kein Einfluss der Wirtschaft auf die Politik besteht. Auch hier gibt es gegenseitige Abhängigkeiten: Russlands Energiekonzerne sind keine willfährigen Handlanger des Kremls, sondern verfolgen ihre kommerziellen Ziele unter dem Schutzdach der Politik, wobei eine enge Interessenverflechtung zwischen Großkapital und Staatsbürokratie besteht. Die Gasstreitigkeiten zwischen Russlands Gazprom und der Ukraine oder die Streitigkeiten zwischen Belarus und Russland um die Aufhebung von Steuervergünstigungen für Ölexporte hatten banale wirtschaftliche Hintergründe – es ging jeweils um die Kürzung der aus den Sowjetzeiten stammenden Subventionen. Auch die Stilllegung einer Abzweigung der Družba-Ölpipeline nach Lettland und Litauen folgte keiner außenpolitischen Kreml-Strategie, sondern war Folge eines wirtschaftlichen Machtkampfes um Raffinerien und Hafenanlagen, bei dem der russländische Ölkonzern Lukojl den staatlichen Pipelinebetreiber Transneft’ einspannte. Freilich spielten dabei auch tief sitzende, aus der älteren wie jüngeren Vergangenheit gespeiste Aversionen beider Seiten eine Rolle. Energie ist, wie Dmitri Trenin sagt, „ein politisches Geschäft, aber es ist in erster Linie und letzter Konsequenz ein Geschäft.“ Das gilt auch für Russlands Unternehmen. Die Gefahr einer Gas-Opec ist gering: Ein Preiskartell auf dem Gasmarkt unter Beteiligung Russlands ist nämlich nicht möglich, so lange die Unternehmen am System der langfristigen Verträge und der Bindung des Gaspreises an den Ölpreis festhalten. Die großen privaten und staatlichen Gasexporteure in Russland, Norwegen, Algerien, Katar und künftig im Iran sind aber gerade an solchen Verträgen interessiert, weil sie sonst keine Planungssicherheit für die Erschließung von Gasfeldern, den teuren Pipelinebau und die ebenfalls teure Errichtung von Gasverflüssigungsanlagen haben. Spekulationen über einen Zusammenschluss Russlands mit Iran, Katar und Algerien zu einem funktionierenden Gaskartell sind daher ohne Substanz, entsprechende Äußerungen russländischer Politiker nicht als realistische Ankündigungen, sondern als psychologisches Druckmittel zu verstehen. DIE „VERSICHERHEITLICHUNG“ DER ENERGIEDEBATTE Der im Oktober 2008 veröffentlichte neunte Bericht über die Fortschritte des EU-Russland-Energiedialogs erkannt an, dass Russland auch in Zukunft ein verlässlicher Energielieferant für Europa bleiben wird. Gleichzeitig wird Russland in der europäischen Energiesicherheitsdebatte aber als Hauptstörenfried behandelt, obwohl nicht begründet werden kann, warum es die Energiebeziehungen mit seinen westlichen Abnehmern aufs Spiel setzen sollte. Derartige Widersprüche sind dadurch erklärbar, dass die Bewertung Russlands nicht Ergebnis einer fachkundigen Diskussion, sondern eines von Fakten und rationalen Erwägungen losgelösten Sicherheitsdiskurses ist. In EU und Nato ist zunehmend eine „Versicherheitlichung“ von Energiefragen zu beobachten. Die „Kopenhagener Schule“ der Theorie der Internationalen Beziehungen (Barry Buzan, Ole Weaver) hatte bereits Mitte der 1990er Jahre mit dem Konzept der „securitization“ (Versicherheitlichung) darauf aufmerksam gemacht, dass jedes politische Problem als existentielle Bedrohungen der Sicherheit dargestellt werden kann, das mit zivilen Mitteln der Politik nicht bearbeitet werden kann. Die Wahrnehmung eines existenzbedrohenden Sicherheitsproblems ist somit nicht eine Frage des Sachverhalts, sondern des Diskurses. Dies gilt insbesondere auch für die Energiesicherheitsdebatte. In dieser geben konservative US-amerikanische Denkfabriken wie die Heritage Foundation und das Nixon Center den Ton an. Russlands Energieexporte werden als existentielle Bedrohung Europas dargestellt, die außerordentliche Maßnahmen bis hin zu militärischen Einsätzen erforderten. Diese Argumente werden in den neuen ostmitteleuropäischen EU-Mitgliedsstaaten bereitwillig übernommen – in Polen bereicherte man sie mit der Idee einer „Energie-Nato“ – und so Teil des europäischen Energiesicherheitsdiskurses. Unterstützung finden sie durch Einzelstimmen aus Russland und den skandinavischen Ländern. Deutsche Beiträge referieren überwiegend die US-amerikanischen Bedrohungsszenarien. Dass gerade US-amerikanische Analytiker Europa dazu drängen, sich aus den engen Energiebeziehungen zu Russland zu lösen, mag auf deren pessimistischen Szenarien für die Sicherheitslage in Europa beruhen. Nach Meinung des ehemaligen Sicherheitsberaters Präsident Carters und auch Beraters des neuen Präsidenten Obama Zbigniew Brzezinski ist die Zurückdrängung der Dominanz Russlands in Eurasien das Hauptziel der US-amerikanischen Ostpolitik, ihr zentrales Element das Herauslösen der Ukraine aus dem Moskauer Einflussgebiet und wichtiges Instrument ein Beitritt der Ukraine zur Nato. In diesem Zusammenhang wäre im Zuge der dann zu erwartenden Auseinandersetzungen die längere Unterbrechung oder gänzliche Stilllegung der durch die Ukraine führenden Transitpipelines denkbar. Deutschland und andere westeuropäische Staaten wären davon nach Fertigstellung der Nord Stream und South Stream allerdings wenig betroffen. Dies lässt manche Kontroversen um diese „exklusiven“ Gasleitungen in neuem Licht erscheine: Diese Pipelines konterkarieren eine energiepolitische Abkoppelung Westeuropas von Russland und damit auch eine geopolitisch motivierte Ostpolitik à la Brzezinski. FALSCHE REZEPTE Bereits die Grundvorstellung, wonach in erster Linie nationale und übernationale Instanzen Energiesicherheit zu gewährleisten hätten, da der Markt keine Energiesicherheit garantieren könne, ist unzutreffend. Dass die Energieversorgung Europas vor allem durch gut funktionierende ökonomische Mechanismen auf Unternehmensebene gewährleistet wird und dem Staat in der marktwirtschaftlichen Ordnung hierbei nur ordnende und unterstützende Funktion zukommt, wird hierbei nicht begriffen. Es wird nicht berücksichtigt, dass EU-Gremien im Energiebereich nur tätig werden dürfen, wenn die einzelnen EU-Mitglieder Aufgaben nicht selbst erfüllen können (Subsidiaritätsprinzip). Die deutsche Bundesregierung spricht sich daher in ihrem Bericht zur Öl- und Gasmarktstrategie richtig für einen dreistufigen Ansatz aus. Verantwortlich seien „primär die Unternehmen, dann die EU-Mitgliedsstaaten und erst wenn nötig die EU“. Obwohl die Kompetenzen der EU im Energiesektor auf den EU-Binnenmarkt beschränkt sind, konzipiert die EU-Kommission eine weitreichende Energieaußenpolitik, die leicht in Konflikt mit den Interessen sowohl einzelner EU-Staaten als auch der dort ansässigen Unternehmen gerät. Die EU-Kommission vernachlässigt mit ihrem „top-down“-Ansatz das Subsidiaritätsprinzip: Sie sieht sich veranlasst, Energiesicherheit zu garantieren, ohne ausreichend zu berücksichtigen, was die Mitgliedsstaaten selbst dazu beizutragen vermögen. Dies wird besonders deutlich bei den EU-Projekten zur Erhöhung der Energiesicherheit der Baltischen Staaten. Diese haben bislang keine eigenen Anstrengungen unternommen, um ihre Energienetze miteinander zu verzahnen und damit gegen Störungen sicherer zu machen. Zwar ist dort nach der Stilllegung von energiefressenden Rüstungs- und Schwerindustriebetrieben die Energieintensität (d.h. der Energieverbrauch im Verhältnis zur Produktion) zurückgegangen, doch wurden noch keine zukunftsweisenden Programme zur Förderung von Energieeffizienz und erneuerbaren Energien umgesetzt. Stattdessen fordert man vehement „Solidarität“ der großen EU-Staaten zur Lösung der eigenen Energieprobleme ein. Litauen hat sich im Jahr 2000 auf Druck der EU zur endgültigen Stilllegung des Kernkraftwerks Ignalina bis Ende 2009 bereit erklärt, welches 70 Prozent des Elektrizitätsbedarfs des Landes deckt. Es hat bislang aber kein realistisches Programm für den Ersatz der ab 2010 entfallenden Stromerzeugungskapazität vorgelegt. Ob, wie bisweilen angekündigt, bereits 2015 ein geplantes polnisch-baltisches Kernkraftwerk am selben Standort („Ignalina II“) in Betrieb gehen kann, muss wegen der schleppenden Planungen bezweifelt werden. Stattdessen könnten entweder erhöhte Stromimporte aus Kaliningrad und Belarus oder die Wiederinbetriebnahme stillgelegter Kohlekraftwerke erforderlich werden. Polen profitiert im Energiebereich davon, dass es mit vergleichsweise billigem Erdgas und Erdöl aus Russland beliefert wird und somit zur Deckung seines Primärenergiebedarfs nicht alleine auf seine veraltete und klimaschädigende Kohleindustrie angewiesen ist. Statt diesen Vorteil auszubauen, sucht das Land seit Jahren, aber ohne greifbare Ergebnisse, nach Wegen, um die „Abhängigkeit von Russland“ zu verringern. Dabei geht es vor allem um Erdgas. Während gegenwärtig rund 90 Prozent des importierten Erdgases – im Jahr 2008 rund zehn Milliarden Kubikmeter aus Russland bzw. anderen GUS-Staaten kommt, soll künftig rund die Hälfte der Importe aus westlichen Ländern erfolgen. In der Diskussion sind Leitungsverbindungen nach Skandinavien und Deutschland. Auch eine Belieferung über die geplante Nabucco-Gaspipeline sowie der Bau eines Flüssiggasterminals sind im Gespräch. Alle diese Pläne kommen jedoch nicht voran, da die Alternativen gegenüber den Importen aus Russland bzw. anderen GUS-Staaten wesentlich teurer wären. Eine ähnliche Situation besteht bei Erdöl, bei dem die Abhängigkeit von Lieferungen aus Russland 97 Prozent beträgt. Zwar könnte durch die Verlängerung der ukrainischen Erdölpipeline Odessa-Brody bis nach Polen der Import von Erdöl aus dem zentralasiatischen Raum ermöglicht werden. Doch steht auch dieses Projekt unter dem Vorbehalt der kommerziellen Rentabilität. Die Abwendung von fossilen Energieträgern steckt in Polen noch in den Anfängen, die Verbesserung der Energieeffizienz macht kaum Fortschritte. Vor diesem Hintergrund „nicht gemachter Hausaufgaben“ können die polnischen Forderungen nach „Solidarität“ der anderen EU-Staaten nicht überzeugen. In der EU wird, entsprechend dem publizistischen Tenor, die Energiesicherheit der baltischen Staaten, Finnlands und Polens als vordringlich betrachtet. Hoch ist in allen diesen Staaten nur die spezifische Importabhängigkeit bei Erdöl und Erdgas, die jeweils zwischen 95 und 100 Prozent liegt, wobei die Importe fast ausschließlich aus Russland stammen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Erdöl und Erdgas in der Energiebilanz dieser Staaten nur verhältnismäßig geringe Anteile haben und für den Import von Erdöl der gesamte Weltmarkt in Frage käme. Wenn sie Russlands Erdöl bevorzugen, so deswegen, weil es verhältnismäßig preisgünstig ist und die Sicherheitsbedenken offenbar nicht so groß sind, dass diese Staaten auf andere Anbieter zurückgreifen würden. Es bleiben die Erdgasimporte aus Russland, die wegen der Leitungsgebundenheit nicht leicht ersetzbar sind. Die Brisanz dieses Problems wird aber erheblich überschätzt, weil es um verhältnismäßig geringe Mengen und kleine Anteile an den Energiebilanzen der entsprechenden Länder geht. Estland importiert rund eine Milliarde Kubikmeter Erdgas aus Russland, womit 15 Prozent des Primärenergiebedarfs gedeckt werden; Lettland deckt mit rund zwei Milliarden Kubikmetern Erdgas aus Russland rund 30 Prozent seines Inlandsbedarfs an Primärenergie; Litauen benötigt zur Abdeckung von rund 30 Prozent seines Primärenergiebedarfs rund drei Milliarden Kubikmeter Erdgas aus Russland. Finnland schließlich benötigt rund vier Milliarden Kubikmeter pro Jahr zur Abdeckung von rund zehn Prozent seines Energiebedarfs. Die aus Russland stammenden Gasimporte aller drei baltischen Staaten zuzüglich Finnlands machen somit nur rund zehn Milliarden Kubikmeter pro Jahr aus, was drei Prozent der gesamten Erdgasimporte der EU (2007: 310 Mrd. Kubikmeter) entspricht. Diese Mengen könnten ohne Schwierigkeiten aus anderen EU-Ländern wie Polen, Deutschland und Schweden bezogen werden, falls die angeblich von Lieferstops bedrohten Länder die Aufwendungen für die erforderliche Transportinfrastruktur (Pipeline, LNG-Terminals) auf sich nehmen wollten. Polen ist für Erdöl und Erdgas aus Russland ein wichtiges Transitland und daher ohnehin nicht anfällig für Erpressungsversuche. Mit Erdgas im Umfang von rund zehn Milliarden Kubikmetern pro Jahr, das zu rund 90 Prozent aus Russland und Zentralasien stammt, bestreitet es rund zehn Prozent seines Primärenergiebedarfs. Auch diese Menge könnte, falls Warschau dies wünscht, ohne große Probleme aus Westeuropa beschafft werden. Freilich ist Polen auf derartige Vorschläge aus Deutschland bislang nicht eingegangen. IRRGLAUBE „DIVERSIFIZIERUNG“ Grundsätzlich erhöht eine fortschreitende räumliche Diversifizierung der Erdgasbezüge die Versorgungssicherheit, weil zusätzliche Lieferanten ins Spiel kommen, die das Gasangebot erhöhen, und Alternativen zur Verfügung stehen, falls Gasfernleitungen aus technischen oder politischen Gründen unterbrochen werden. Zu fragen ist aber, wie hoch die Liefersicherheit der alten und neuen Anbieter einzuschätzen ist und welche Sicherheitsbedenken die zu ihnen führenden Transportkorridore aufwerfen. Über alle Zweifel erhaben sind nur die Importe aus Norwegen in die EU, die aber den Zusatzbedarf nicht voll befriedigen können. Russlands langfristige Lieferfähigkeit steht unter dem Vorbehalt der zügigen Erschließung der riesigen Gasvorkommen auf der Jamal-Halbinsel und in der Barentssee. Noch nicht klar erkennbar ist, ob und wie sich das Auftauen des Permafrostbodens auf die Förder- und Transporteinrichtungen im Hohen Norden auswirken wird. Davon abgesehen könnten noch für einige Zeit, so lange die durch die Ostsee und das Schwarze Meer führenden offshore-Gaspipelines (Nord Stream und South Stream) nicht gebaut sind, Auseinandersetzungen über den Gaspreis für die Inlandsversorgung der Transitstaaten Belarus und Ukraine zu kurzfristigen Störungen des Gastransits führen. Transitprobleme treten bei den Gaslieferungen aus Nordafrika, die über Unterwasserpipelines durch das Mittelmeer erfolgen, nicht auf und auch das Angebotspotential erscheint gesichert. Dagegen bieten die Lieferanten aus dem Kaspischen Raum und dem Iran nur begrenzte Sicherheit, da die Liefermengen langfristig nicht garantiert sind und manche der Transitstaaten Anlass zur Sorge geben. Das als Alternative zu Erdgaslieferungen aus Russland von der EU in den Vordergrund gespielte Projekt eines südlichen, durch die Türkei über Osteuropa nach Österreich verlaufenden Gastransportkorridors („Nabucco“) ist für diesen Zweck von vornherein nicht geeignet, weil es mit 30 Milliarden Kubikmetern pro Jahr nicht die benötigte Kapazität hat, um den Gasimport aus Russland von 150–200 Milliarden Kubikmetern pro Jahr zu ersetzen. Ungeklärt ist neben der Frage der Belieferung dieser Pipeline auch noch die Rolle der Türkei, die sich nicht nur als Transitland zur Verfügung stellen, sondern als selbständiges Verteilerzentraum von Erdgas auftreten will. Ein sicherer, aber nicht ausreichender Lieferant für Nabucco wird allenfalls Aserbaidschan werden, das bereits über eine Pipeline (South Caucasus Pipeline oder Baku-Tbilisi-Erzerum Pipeline) in das osttürkische Erzerum verfügt, deren Kapazität im Endausbau bei 20 Milliarden Kubikmeter liegen soll. Ob bzw. wann und wieviel Erdgas Turkmenistan, der Iran und der Irak über Pipelines nach Europa liefern werden, ist dagegen noch nicht abzusehen. Turkmenistan steht außer Europa der russländische und der chinesische Markt offen; Iran, Irak und Katar werden möglicherweise vor allem Flüssiggas auf den Weltmarkt exportieren wollen. Gasimporte aus dem Kaspischen Raum werden, falls sie zustande kommen, kaum die europäische Gasversorgung wesentlich verbessern, sondern in erster Line russländische Erdgastransporte durch die Ukraine ersetzen und dadurch ungewollt die ökonomische Verhandlungsposition der Ukraine als Transitland schwächen. Während die Pipelineprojekte russländischer und europäischer Unternehmen in der Publizistik und auch vom EU-Parlament ohne überzeugende Begründung als politisch gesteuert bezeichnet werden (Gaspipelines Nordstream und South Stream), wird umgekehrt die Nabucco-Gaspipeline zum erstrangigen Projekt der EU-Politik erhoben und damit selbst politisiert. SACKGASSE ENERGIECHARTA-VERTRAG Als wichtigstes Instrument für die Durchsetzung von internationalen Regeln auf dem Energiemarkt gilt der Energiecharta-Vertrag. Russland hat diesen 1994 unterzeichnet, aber bislang nicht ratifiziert. Es will ihn allerdings „provisorisch“ soweit anwenden, wie dies mit den russländischen Gesetzen vereinbar ist. Seit der Einfluss von Gazprom auf den Kreml mit dem Amtsantritt Putins 2000 gewachsen ist, sind die Chancen auf eine Ratifizierung gleichwohl gesunken. Gazprom macht unter anderem geltend, dass durch den Energiecharta-Vertrag und sein Transitprotokoll die zentralasiatischen Gasexporteure leichten Zutritt zum russländischen Gasnetz erhielten und dadurch Russlands Exporte nach Europa sowie das gesamte System der langfristigen Lieferverträge mit den europäischen Kunden gefährdet wären. Russland sieht sich in seiner Haltung dadurch bestärkt, dass große Energieexporteure wie Norwegen und Australien den Energiecharta-Vertrag ebenfalls nicht ratifiziert bzw. wie die USA nicht einmal unterzeichnet haben. Russlands Haltung wird auch dadurch beeinflusst, dass es für die Ratifizierung keine Gegenleistung von der EU zu erwarten hat, wie dies bei Moskaus Zustimmung zum Kyoto-Protokoll der Fall war, als die EU ein Entgegenkommen in den WTO-Verhandlungen versprochen hatte. Russlands Teilnahme an internationalen Regelungen wie dem Energiecharta-Vertrag kann erst dann erwartet werden, wenn zwischen der EU und Russland eine neue Vertrauensbasis geschaffen ist. Dafür sind vertrauensbildende Maßnahmen notwendig, wie z.B. eine objektive und nicht wie bislang überwiegend politisch geprägte Bewertung der Ostsee-Gaspipeline (Nord Stream) – auch und gerade in den der EU angehörenden Ostsee-Anrainerstaaten. EINE ZUKUNFTSFÄHIGE ENERGIEAUßENPOLITIK FÜR DIE EU Die EU hat sich 2007 mit einer Energiestrategie und einem Energie-Aktionsplan zu einer gemeinsamen Energiepolitik verpflichtet, deren Entwicklung die EU-Kommission im November 2008 zum zweiten Mal in ihrem Strategic Energy Review dargestellt hat. Die dort enthaltenen Vorschläge für mehr und bessere Verbindungen der Elektrizitäts- und Gasnetze in der EU und den Ausbau der Speicherkapazitäten für Erdgas und die Ermunterung zur Errichtung von LNG-Terminals sind vernünftig und durchführbar. Dagegen sind die über den EU-Raum hinaus weisenden Forderungen an eine Energieaußenpolitik der EU – mit Ausnahme des Angebots der Unterstützung bei Energieeffizienz- und Klimaprojekten – weder gut begründet noch voraussichtlich realisierbar. Die Kommission plant die Energieaußenpolitik der EU gegenüber Russland, führt den EU-Russland-Energiedialog und beabsichtigt die Neufassung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens mit Russland ohne erkennbare Koordination und mit unterschiedlichen Zielrichtungen. Während die Konzeption einer Energieaußenpolitik von Misstrauen gegenüber Russland gespeist wird, betont man im Energiedialog die Kooperationsmöglichkeiten und gemeinsamen Ziele, die auch dem Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zu Grunde liegen sollen. Die EU muss sich darüber klar werden, welche Richtung sie in ihren Verhandlungen mit Russland einschlagen will, wenn diese sich nicht gegenseitig blockieren und fruchtlos bleiben sollen. Das in den Diskussionen über die europäische Energiesicherheit hochgespielte Problem der „Gasabhängigkeit“ von Russland erweist sich bei näherem Hinsehen als Scheinproblem. Die in den EU-Dokumenten zum Ausdruck kommende explizite Ausrichtung der EU-Energieaußenpolitik auf die Verringerung des Einflusses Russlands ist unbegründet, hat keine Erfolgsaussichten und sorgt dort nur für ein Klima des Misstrauens. Die Falle der sich gegenseitig verstärkenden negativen Perzeptionen ist bereits zugeschnappt. Dadurch werden auch die Verhandlungen über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen der EU mit Russland belastet. Die gegen Russland gerichtete Energieaußenpolitik der EU geht zudem in der Ukraine, im Südkaukasus und in Zentralasien mit einer US-amerikanischen Geopolitik konform, die aus weltpolitischen Gründen und einer aus berechtigter Enttäuschung über Russlands Entwicklung unter Putin (Tschetschenienkrieg, Jukos) gespeisten Aversion gegenüber Russland auf Eindämmung des russländischen Einflusses zielt. Sie wird als selbständiger europäischer Ansatz dadurch unglaubwürdig. Die Möglichkeiten einer konstruktiven Energieaußenpolitik der EU, die statt konfrontativen geopolitische Strategien gemeinsame Anliegen wie Energieeffizienz und Klimaschutz und damit eine Modernisierungspartnerschaft, wie sie der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier wünscht, in den Vordergrund stellt, werden zu wenig genutzt. Der Versuch, unter dem Mantel einer „gemeinsamen Energieaußenpolitik“ die Mitgliedsländer dazu zu bewegen, Kompetenzen in der Energie- Außen- und Sicherheitspolitik an die EU zu delegieren, könnte die EU eher spalten als vereinen. Die Unterschiede zwischen den EU-Staaten in der Energiewirtschaft und den außenpolitischen Beziehungen können nicht eingeebnet werden, indem unbegründete Gefahren beschworen und aus ihnen zweifelhafte Strategien abgeleitet werden. Die EU weckt mit der Ankündigung einer Energieaußenpolitik Erwartungen, denen sie angesichts ihrer begrenzten Kompetenzen und divergierenden Interessen nicht gerecht werden kann. Die politische Forderung nach einer von Russland unabhängigen Gasversorgung wird nicht nur erfolglos bleiben, sondern auch den Aufbau eines partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen der EU und Russland erschweren. Europäische Energiepolitik kann unter den gegebenen Bedingungen eingeschränkter Zuständigkeiten der EU vor allem den internen Wettbewerb stärken und damit die europäische Energiewirtschaft effizienter machen. Im Einklang mit ähnlichen Bemühungen der Unternehmen und der einzelnen EU-Mitglieder können – unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips – Krisenreaktionsmechanismen etabliert sowie Netzverbindungen und Speicher ausgebaut werden. Für das Baltikum, dessen Gasimportbedarf weniger als zehn Milliarden Kubikmeter pro Jahr beträgt, bietet sich der Anschluss an das polnische Gasnetz an. Wesentlicher Schwerpunkt einer EU-Energieaußenpolitik sollte die Förderung der Energieeffizienz und der erneuerbaren Energien in Osteuropa und der GUS einschließlich Russlands werden, die bereits in Pilotprojekten erprobt wird. Damit wird indirekt auch Klimapolitik betrieben, die auf direktem Wege in Russland kaum Chancen hat, da dort wie in der gesamten GUS und in Osteuropa Klimafragen nicht hoch auf der politischen Agenda stehen. Projekte zur Ausweitung des Imports fossiler Energien wie z.B. neue Pipelines sollten demgegenüber nachrangig behandelt und in erster Linie den hieran interessierten Unternehmen überlassen werden. Grundsätzlich muss die EU anerkennen, dass Russland ein zuverlässiger Partner für die europäische Energieversorgung ist und bleiben wird. Weder wird es sich vorrangig östlichen Märkten zuwenden noch seine europäischen Kunden mit einem Gaskartell unter Druck setzen. Umgekehrt sollte die EU davon absehen, aus politischen Gründen ein EU-weites Erdgaseinkaufskartell bilden zu wollen und damit nicht nur ihre eigenen Wettbewerbsprinzipien zu verraten, sondern auch in Russland den Verdacht, es werde mit zweierlei Maß gemessen, zu verstärken. Die in den EU-Institutionen sowie in der Publizistik um sich greifende „Versicherheitlichung“ (securizitation) der Energiedebatte steht einer konstruktiven und Russland einbeziehenden Problemlösung im Wege. Die energiewirtschaftlichen Fragen und Probleme Europas einschließlich der damit verknüpften Klimafragen sind viel zu komplex, als dass sie vor allem unter dem Gesichtspunkt der Minderung einer angeblichen gefährlichen Abhängigkeit von Russland verstanden und diskutiert werden können. Den Sicherheitsbedürfnissen der neuen östlichen EU-Mitglieder kann durch stärkere Einbindung in mitteleuropäische Versorgungsnetze ausreichend genügt werden, ohne dass gleichzeitig Russlands Beitrag zur Energieversorgung Europas in Frage gestellt werden muss. So lange die EU ihre zweideutige Position gegenüber Russland – einerseits soll die Zusammenarbeit auf dem Energiesektor intensiver werden, andererseits sollen die Energiebeziehungen reduziert werden – nicht aufgibt, wird sie im Osten keine erfolgreiche Energieaußenpolitik betreiben können. Ein erster Schritt für eine Neujustierung der Energiebeziehungen zu Russland muss darin bestehen, die Ausgangspunkte der EU-Energieaußenpolitik kritisch zu überprüfen und sich von zahlreichen Mythen zu verabschieden.

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