Titelbild Osteuropa 2-3/2007

Aus Osteuropa 2-3/2007

Expansion ohne Erweiterung
Die EU-Nachbarschaftspolitik in der Dynamik Europas

Georg Vobruba

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Abstract in English

Abstract

Die EU hat die Europäische Nachbarschaftspolitik als Alternative zur Erweiterungspolitik entwickelt. Es handelt sich um ein verändertes politisches Tauschangebot. Die EU bietet ihren Nachbarländern nicht mehr die Perspektive einer Mitgliedschaft, sondern eine special relationship gegen die Übernahme von Stabilisierungsaufgaben an der Peripherie. Diese Politik speist sich aus der Expansionsdynamik der EU, die jedoch an ihre Grenzen gestoßen ist. Auch in der Nachbarbarschaftspolitik versteht sich die EU als Werteexporteur. Wie erfolgreich sie sein wird, hängt stark von der Kooperationsbereitschaft der Peripherie ab. Stärker als bisher gilt es, die Kooperationskalküle der Nachbarn und ihre Alternativen zu berücksichtigen.

(Osteuropa 2-3/2007, S. 7–20)

Volltext

Schon vor dem Vollzug der Osterweiterung 2004 setzten in der EU-Kommission Überlegungen ein, wie es danach weitergehen sollte. Klar war, daß die Osterweiterung neue Nachbarschaftsverhältnisse mit neuen Problemen für und Erwartungen an die EU bringen werde. Klar war aber auch, daß für das bisherige Vorgehen, die Peripherie durch Erweiterungsversprechen und Erweiterung zu stabilisieren, kein Spielraum mehr war. Die EU war an die Grenzen ihrer bisherigen Entwicklungsdynamik, der wechselseitigen Bestärkung von Integration und Erweiterung, gelangt. Spätestens mit der Osterweiterung 2004 hatte die Anzahl der Mitgliedsländer so zugenommen und die Heterogenität der Mitglieder ein solches Ausmaß erreicht, daß dies die kulturellen, organisatorischen und finanziellen Integrationspotentiale der EU überforderte. Diese systematische Überforderung verdichtete sich im Widerspruch zwischen Vertiefung und Erweiterung der EU und stellt den Kern der Erweiterungskrise der Europäischen Union dar. Aus dieser Auffassung, daß Erweiterung und Vertiefung der europäischen Integration offen zueinander in Widerspruch geraten, folgte die weithin geteilte Überzeugung, daß der Erweiterungsautomatismus der EU gestoppt werden mußte. Klar war aber auch, daß ein abruptes Ende der Expansionsdynamik nicht im Interesse der EU sein konnte, da es die Gefahr implizierte, die EU in einen schroffen Interessengegensatz zu ihrer Peripherie zu bringen. Es mußte also darum gehen, ein Konzept zu entwickeln, welches eine weitere Expansion der EU zuläßt, ohne daß diese Expansion die EU zu weiteren Erweiterungen zwingt. Wie ist Expansion ohne Erweiterung möglich? Das ist das Kernproblem, um das sich die Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union dreht. Die kurze Geschichte der EU-Programmentwicklung zur Expansion ohne Erweiterung seit 2002 hat ein charakteristisches Merkmal: Mit der Zeit wurden immer mehr Länder der EU-Peripherie in die Programmüberlegungen einbezogen. Es begann Anfang 2003 mit dem „Wider Europe“-Konzept der Kommission, das Belarus, Rußland, Moldova und die Ukraine einbezog. Es ging weiter mit dem Ratsbeschluß von Kopenhagen im Dezember 2003, mit dem das „Wider Europe“-Konzept angenommen wurde, wobei zusätzlich die Länder des Barcelona-Prozesses einbezogen wurden. 2004 wurde das Programm der Expansion ohne Erweiterung im Strategiepapier „Europäische Nachbarschaftspolitik“ (ENP) neu gefaßt und auf Armenien, Azerbajdžan und Georgien ausgeweitet. Gegenwärtig umfaßt die „Europäische Nachbarschaftspolitik“ sechzehn Länder der EU-Peripherie. Die Konzepte zur ENP, die entwickelt wurden, um den Erweiterungsautomatismus der EU zu stoppen, unterliegen selbst einer analogen Dynamik. Angetrieben teils von Partizipationsinteressen einzelner Peripherieländer, teils von den Stabilitäts- und Sicherheitsinteressen einzelner Gruppen von Mitgliedsländern, wuchs der Kreis der Länder, auf welche sich die Nachbarschaftspolitik richtet, wuchs also der Umfang des potentiellen ring of friends um die EU, den die EU mit ihrer Nachbarschaftspolitik herzustellen bestrebt ist. Man kann diese eigenartige Expansionstendenz in der programmatischen Entwicklung der ENP schlicht als die ironische Wiederkehr eines offensichtlich nicht bewältigten Entwicklungsmusters der EU betrachten. Es läßt sich aber auch danach fragen, worin die Gründe dieser offensichtlich persistenten Expansionsdynamik auch jenseits der Erweiterungen liegen? Das Verhältnis zwischen dem wohlhabenden EU-Kern und seiner Peripherie ist als politischer Tausch aufzufassen. Dieses Tauschverhältnis zwischen der EU und ihrer Peripherie verändert sich jedoch im Zuge des Übergangs von Erweiterungspolitik zur Nachbarschaftspolitik. Das hat Auswirkungen auf deren Leistungsfähigkeit. Die Dynamik Europas Aus den Interdependenzen zwischen dem Zentrum und der Peripherie der Europäischen Union ergeben sich spezifische Interaktionen, aus denen sich die Dynamik Europas speist. Zentral ist das Interesse des Kerns der EU an seiner Absicherung als politisch stabile Wohlstandszone. Dieses dominante Interesse führt dazu, daß der Kern seine Peripherie auf zweierlei Weise wahrnimmt: einerseits als Quelle diverser ökonomischer und politischer Probleme, die ihre umfassenden Stabilitätsinteressen beeinträchtigen, andererseits als vorgelagerte Schutzzone, um Probleme aus der ferneren Peripherie abzuhalten. Diese ambivalente Wahrnehmung der Peripherie als Problemquelle und Problemlösung führt zu der charakteristischen Kombination aus Exklusionspolitik und Inklusionspolitik der EU gegenüber ihrer Peripherie. Exklusionspolitik zielt darauf, grenzüberschreitende Probleme durch Grenzschließungen fernzuhalten. Die Erfolgsaussichten einer solchen Politik sind freilich nicht sehr gut. Erstens sind Grenzschließungen gegenüber zahlreichen Formen grenzüberschreitender Prozesse schon aus technischen Gründen unwirksam. Das gilt insbesondere für grenzüberschreitende Umweltbelastungen via Luft oder Wasser. Zweitens sind wirksame Grenzschließungen gegenüber bestimmten Grenzüberschreitungen nur zu unverhältnismäßig hohen – finanziellen, politischen, humanitären – Kosten zu haben. Das gilt insbesondere für Immigrationskontrollen rechtsstaatlicher Zielländer. Und drittens kann Exklusionspolitik auf Durchsetzungsprobleme in der stabilen Wohlstandszone stoßen, da Kosten und Nutzen in dieser Zone ungleich verteilt und mit unterschiedlichen Interessen verbunden sind. Das betrifft vor allem die Regulierung transnational mobiler Produktionsfaktoren, der Arbeitsmigration und ausländischer Direktinvestitionen. Insgesamt also zeigt sich, daß eine Politik der Exklusion zur Absicherung des Wohlstandskerns der EU nur bedingt Erfolgsaussichten hat. All dies hat in der Geschichte der EU immer wieder dazu geführt, daß Exklusionspolitik durch eine Politik der kalkulierten Inklusion ergänzt oder ersetzt wurde und die EU-Politik gegenüber ihrer Peripherie dominierte. Kalkulierte Inklusion folgt der Logik eigennütziger Hilfe. Eigennützige Hilfe im transnationalen Rahmen ist durch das Interesse eines helfenden Landes motiviert, Probleme, die sich grenzüberschreitend ausbreiten, an ihrem ausländischen Entstehungsort zu lösen. Dies kann die Subventionierung der Umweltpolitik eines ärmeren Nachbarlandes, etwa durch Modernisierung von Schrottreaktoren, bedeuten. Eigennützige Hilfe kann auch ökonomischer Aufbauhilfe und politischer Stabilisierung zum Ausdruck kommen. [Satz?xxx] Dadurch wird der Anreiz zur Migration gesenkt. Insgesamt läuft die von der Logik eigennütziger Hilfe bestimmte Politik der kalkulierten Inklusion darauf hinaus, die ärmere Peripherie in einem bestimmten Maße am Wohlstand des EU-Kerns zu beteiligen. Hier liegt der systematische Grund dafür, daß Neumitglieder im Zuge ihres Beitritts ihre regionale Stabilitätsfunktion für die gesamte EU öffentlich betonen: „Rumänien wird keinen Ärger machen und keine Unruhe stiften,“ betonte der rumänische Ministerpräsident im Herbst 2006, „es wird für ganz Südost-Europa eine Zone der Stabilität und Sicherheit bringen.“ Freilich stößt auch die Politik der kalkulierten Inklusion an Grenzen: Zum einen ist diese Politik mit erheblichen finanziellen Aufwendungen verbunden, was ihre Akzeptanz im wohlhabenden Kern beeinträchtigen kann. Dieses Problem wird noch dadurch verschärft, daß die Politik kalkulierter Inklusion sofort Kosten verursacht, während ihre positiven Wirkungen erst mit Verzögerung eintreten. Zum anderen ist eine erfolgreiche Politik kalkulierter Inklusion auf die Bereitschaft der Länder der Peripherie angewiesen, sie mitzutragen. Dies ist ein entscheidender Unterschied zwischen Exklusions- und Inklusionspolitik: Exklusionspolitik ist einseitige Aktion des Wohlstandskerns gegenüber seiner Peripherie, Inklusionspolitik dagegen funktioniert nur als Kooperation zwischen Wohlstandskern und Peripherie. Dies führt zu der Frage, wie und unter welchen Bedingungen die Peripherie bereit ist, mit dem Wohlstandskern im Sinne der Politik kalkulierter Inklusion zu kooperieren. Diese Frage ist für die Europäische Nachbarschaftspolitik entscheidend. Die Kooperationsbereitschaft der Peripherie Die Kooperationsbereitschaft der Peripherie kann keineswegs als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Dies liegt an der Kombination, in der die EU Exklusions- und Inklusionspolitik gegenüber ihrer Peripherie betreibt. Die Politik kalkulierter Inklusion der EU bedeutet für die Länder der Peripherie in erster Linie umfassende ökonomische Modernisierung und politische Demokratisierung. Diese Politik mag längerfristig zwar durchaus im Interesse der Länder der Peripherie sein, kurzfristig jedoch verursacht sie für spezifische Gruppen Kosten, die sich insbesondere in zusätzlicher Arbeitslosigkeit und im Verlust vormals privilegierter politischer Positionen niederschlagen. Somit stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen ein Land der Peripherie bereit und in der Lage ist, mit dem wohlhabenden Kern der EU im Sinne der Politik kalkulierter Kooperation zu kooperieren. Das Problem der Kostenträgerschaft wird noch dadurch verschärft, daß die Politik der EU systematisch darauf hinausläuft, Exklusion nicht nur selbst zu betreiben, sondern Ländern ihrer näheren Peripherie Exklusionsaufgaben zu übertragen. Dies findet insbesondere in der Migrationskontrollpolitik statt. Ökonomische Unterstützung für Nachbarländer wird mit deren Bereitschaft verknüpft, in Grenzkontrollfragen zu kooperieren, der Vorverlagerung der Migrantenabwehr auf ihr Territorium zuzustimmen und an Abschiebeketten für illegale Migranten teilzunehmen. Die EU baut also in die kalkulierte Inklusionspolitik für ihre Nachbarländer Exklusionsaufträge gegenüber Drittländern ein. Diese Exklusionsaufträge verändern das Verhältnis zwischen wohlhabendem EU-Kern und seinen Nachbarn markant: Die Erfüllung eines Exklusionsauftrags der EU setzt ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft des Nachbarlandes voraus und ist für das Nachbarland mit erheblichen Kosten verbunden: materielle für die technische Aufrüstung der Grenzen und die Rückführung von Migranten, aber auch politische durch die Störung traditioneller Beziehungen zu ihren Nachbarn. Für die Nachbarländer der EU entstehen also sowohl Kosten durch die ökonomische und politische Modernisierungspolitik als auch durch die Übernahme von Exklusionsaufträgen der EU. Folglich stellt sich die Frage noch dringlicher: Was motiviert die Nachbarländer zur Kooperation mit der EU im Rahmen der Politik kalkulierter Inklusion, samt den darin eingebauten Exklusionsaufträgen? Bis zur Osterweiterung 2004 wurde das Problem der Kooperationsbereitschaft zwischen Wohlstandskern und Peripherie regelmäßig auf folgende Weise gelöst: Der wohlhabende Kern intervenierte in seiner Peripherie im Sinne kalkulierter Inklusion. Erst wurde die beschränkte Teilhabe am Wohlstand im Gegenzug für die Bereitschaft zur Modernisierung und zur Übernahme von Modernisierungskosten geboten. Zugleich wurde erwartet, daß die Nachbarländer Exklusionsaufgaben übernehmen, also als Pufferzone gegenüber der noch ärmeren und politisch noch instabileren weiteren Peripherie fungieren. Die Übernahme der damit einhergehenden Kosten wurde mit der Perspektive einer späteren Mitgliedschaft in der EU verbunden, um die Akzeptanz der Nachbarländer für die Politik kalkulierter Inklusion zu stärken. Das sollte den politischen Eliten der Nachbarländer auch ermöglichen, die Kooperationskosten vor ihren Bevölkerungen zu rechtfertigen. Der Kooperation zwischen der EU und ihren Nachbarländern liegt also ein politischer Tausch zugrunde: Übernahme der Modernisierungslasten und der Kosten des Exklusionsauftrags durch die Nachbarländer jetzt im Tausch für begrenzte Teilhabe am Wohlstand jetzt und die Perspektive der EU-Mitgliedschaft samt Vollintegration in den Wohlstandskern später. Erst diese Sequenzialisierung von kleinen und großen Erträgen der Kooperation für die Nachbarländer sicherte in deren Bevölkerung die dauerhafte Bereitschaft mitzuwirken. Von der Erweiterung zur Nachbarschaftspolitik Grundlage der gegenwärtigen Politik der Europäischen Union gegenüber ihrer Peripherie ist das Strategiepapier Europäische Nachbarschaftspolitik. Bezugspunkt des Textes ist die Osterweiterung 2004, durch die sich die Außengrenzen der EU geändert [haben]. Wir haben neue Nachbarn gewonnen und sind alten Nachbarn näher gekommen. Diese Umstände schaffen Chancen und Herausforderungen. […] Die Vision der Europäischen Nachbarschaftspolitik ist ein Ring aus Ländern, die die grundlegenden Werte und Ziele der EU teilen und in eine zunehmend engere Beziehung eingebunden werden, die über die Zusammenarbeit hinaus ein erhebliches Maß an wirtschaftlicher und politischer Integration beinhaltet. Überdeutlich finden sich auch hier die konzentrischen Kreise als das klassische Expansionsmuster der EU wieder. So wie bisher ist der Peripherie die Aufgabe zugedacht, sich ökonomisch zu entwickeln und politisch zu stabilisieren – einerseits, um weniger grenzüberschreitende Probleme in Richtung EU zu senden, andererseits, um als Puffer gegenüber der entfernteren Peripherie der EU zu wirken. Die Absicht, zwischen der erweiterten EU und ihrer „Neuen Nachbarschaft“ keine schroffe Grenze entstehen zu lassen, wird immer wieder betont. Zugleich aber ist klar, daß der Abbau von Grenzen zwischen der EU und ihren Nachbarn zum Aufbau von Grenzkontrollen zwischen den Nachbarn und ihrer Peripherie führen muß. Die Exklusionspolitik der EU wird also nach außen verschoben und setzt sich über die Erweiterungen hinaus fort. Daß dies für die nahe EU-Peripherie wiederum zu Spannungen mit ihren Nachbarn führt, wird implizit anerkannt, daß man der Bevölkerung in Grenzgebieten ermöglichen soll, ohne mit übertriebenen Verwaltungshürden konfrontiert zu werden, traditionelle Kontakte zu pflegen. Die Europäische Union könnte auch Möglichkeiten der Visumerleichterung prüfen. Dominant jedoch bleibt das Interesse der EU, eine Pufferzone zu installieren und die Länder der Peripherie ihren Exklusionsauftrag erfüllen zu lassen: „Gewährt eine Seite Erleichterungen, muß die andere im Gegenzug wirksame Maßnahmen ergreifen.“ Im Klartext: Gewährt die EU einem Nachbarland Erleichterungen in Grenzfragen, muß es selbst seine Grenzen gegenüber Drittstaaten abschotten. Es geht der ENP also darum, die Vorteile der EU-Erweiterung von 2004 mit den Nachbarländern zu teilen, indem Stabilität, Sicherheit und Wohlstand aller Betroffenen bestärkt werden. Diese Politik dient der Vermeidung neuer Trennungslinien zwischen der erweiterten EU und ihren Nachbarn. Die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen der Erweiterungspolitik und der Europäischen Nachbarschaftspolitik sind unübersehbar. In beiden Fällen geht es darum, Peripherien sukzessive an den EU-Kern heranzuführen, in beiden Fällen sind intensivere Wirtschaftsbeziehungen, die Angleichung der Rechts- und Wirtschaftsordnungen und Verdichtungen der sozialen Beziehungen aller Art Mittel und Ausdruck dieser Heranführung. Gründe für diese Ähnlichkeit gibt es auf zwei Ebenen. Der erste Grund sind personelle Kontinuitäten. Zahlreiche zentrale Akteure der Osterweiterung 2004 waren auch bei der Entwicklung des Konzepts der Europäischen Nachbarschaftspolitik führend. Ursache sind vermutlich „Angebots- und Nachfrage“-Faktoren: Einerseits mußten sich die einschlägigen Akteure aus Karrieregründen nach der Osterweiterung neue Problemfelder erschließen, für deren Bearbeitung sie sich als kompetent anbieten konnten. Andererseits bestand angesichts der strukturell ähnlichen Problemkonstellation starke Nachfrage nach dem einschlägig spezialisierten Fachwissen. „Die Top-Beamten der Task Forces haben alle einen Erweiterungshintergrund.“ Diese personellen Kontinuitäten bilden die Grundlage für den Transfer von Ideen und rhetorischen Formeln von der Erweiterungspolitik in die Europäische Nachbarschaftspolitik. Individuelle Karriereinteressen und Ideentransfer erklären die Entwicklung der Europäischen Nachbarschaftspolitik natürlich nicht ausreichend. Sie sind eingebettet in eine organisatorische Eigendynamik, die durch das Interesse der Kommission an der Akkumulation von Kompetenzen, die zu Lasten der Nationalstaaten geht, angetrieben wird. Ein zweites Ursachenbündel für die Ähnlichkeiten zwischen Erweiterung und Nachbarschaftspolitik ergibt sich aus der Stellung der Europäischen Kommission in der Institutionenkonkurrenz zwischen europäischer und nationalstaatlicher Ebene. Entscheidend dabei ist, daß die Kommission in der EU-Innenpolitik mittlerweile über ausgedehnte, unstrittige Zuständigkeiten verfügt, während sie in der Außenpolitik permanent um Kompetenz kämpfen muß. Erweiterungspolitik und Nachbarschaftspolitik stehen beide in charakteristischer Weise zwischen Außen- und Innenpolitik der EU. Erweiterungspolitik und Nachbarschaftspolitik beziehen sich in der Ausgangssituation auf Probleme außerhalb des Territoriums der Europäischen Union, sind also erst einmal Außenpolitik. Dann aber nehmen sie unterschiedliche Wege. Die klassische Erweiterungspolitik transponierte ihren Gegenstand von der EU-Außenpolitik in EU-Innenpolitik. Dies kam den Interessen der Kommission an Kompetenzakkumulation entgegen. Mit dem Ende der Erweiterungen geht dieser Mechanismus der Transposition von außen- in innenpolitische Materien für die Kommission verloren. Angesichts des Interesses der Kommission an Kompetenzakkumulation ist die Entwicklung der Nachbarschaftspolitik der Versuch, diese Transposition über das Ende der Erweiterungspolitik hinaus zu erhalten. „Ich räume ein, daß zahlreiche Elemente, die mir einfallen, aus dem Erweiterungsprozeß stammen.“ Die Chance der Kommission, ihre außenpolitische Kompetenz über die Erweiterungspolitik hinaus auszuweiten, ergibt sich aus der Dialektik von Integration und Erweiterung. Durch den Abbau von Binnengrenzen und die gemeinschaftlich finanzierten und verwalteten Fonds hat die Europäische Union ein Integrationsniveau und eine Interessensverknüpfung erreicht, die keine separate Politik einzelner Mitgliedsländer gegenüber ihren jeweiligen EU-externen Nachbarn mehr erlaubt. Trotzdem bestehen starke regionale Unterschiede in den Interessenschwerpunkten einzelner Mitglieder oder Mitgliedergruppen gegenüber der EU-Peripherie. Einzelgänge eines EU-Mitglieds gegenüber seinen Nachbarn in der EU-Peripherie sind entweder institutionell nicht vorgesehen – ein einzelnes Mitglied kann nicht über die Vergabe von EU-Hilfsgeldern an seine Peripherie entscheiden. Oder solche Einzelgänge ziehen derartige Interessenverwicklungen mit anderen Mitgliedsländern nach sich, daß die Handlungsspielräume de facto stark eingeschränkt sind. So reklamieren beispielsweise zahlreiche Mitgliedsländer Mitsprachemöglichkeiten bei migrationspolitischen Entscheidungen der südlichen EU-Mitgliedsländer , da sie sich von diesen Entscheidungen mit betroffen sehen. Umgekehrt fordern die Südmitglieder die gemeinschaftliche Trägerschaft der Kosten ihrer Migrationspolitik, da sie diese als Interesse aller EU-Mitglieder ansehen. Aus den komplementären Positionen entsteht eine starke Disposition zu zunehmend gemeinschaftlicher Koordination der Kontrolle der EU-Außengrenzen. Das gestiegene Integrationsniveau der EU führt also zur dichteren Interessenverknüpfungen im inneren, blockiert damit individuelle Interessenverfolgung einzelner Mitgliedsländer gegenüber ihren EU-externen Nachbarn und steigert so die Nachfrage nach einer gemeinschaftlichen „nahen Außenpolitik“. Die Nachbarschaftspolitik ist als Angebot der Kommission zu einer dem erreichten Integrationsniveau der EU entsprechenden „nahen Außenpolitik“ konzipiert. Sie ist einerseits auf einzelne Nachbarländer zugeschnitten. Anders als bei Erweiterungen geht es nicht um die vollständige Übernahme des acquis communautaire, sondern um individuell zugeschnittene „spezielle Partnerschaften“ je nach den Potentialen der bilateralen EU-Nachbar-Beziehungen. Andererseits aber liegt mit dem Konzept der Europäischen Nachbarschaftspolitik doch ein einheitlicher Rahmen vor, in dem sich die vielfältigen Einzelregelungen zu einem konsistenten Gesamtprojekt der EU – dem „ring of friends“ – zusammenfügen, das unter der Regie der Kommission steht und ein Stück Vergemeinschaftung von Außenpolitik ist. Insgesamt entspricht die Europäische Nachbarschaftspolitik einerseits dem Erfordernis, eine gemeinschaftliche „nahe Außenpolitik“ zu entwickeln und andererseits dem Interesse der Kommission, außenpolitische Kompetenz zu akkumulieren. Ein neues politisches Tauschangebot Die Europäische Nachbarschaftspolitik wird hier im Rahmen der Theorie der Dynamik Europas als der Versuch aufgefaßt, die eigennützige Hilfe des Wohlstandskerns für die Peripherie fortzusetzen. Erinnert sei noch einmal an die politischen Tauschbeziehungen zwischen wohlhabendem EU-Kern und Peripherie, aus denen sich die Dynamik der Erweiterungen der EU ergeben hat: Die EU erwartet von Ländern der Peripherie die Übernahme der Modernisierungslasten und der Kosten des Exklusionsauftrags jetzt und bietet ihnen dafür begrenzte Teilhabe am Wohlstand jetzt und die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft samt Vollintegration in den Wohlstandskern später. Wie unterscheidet sich die Nachbarschaftspolitik von der Erweiterungspolitik hinsichtlich der Kosten und des Nutzens für das Zentrum und die Peripherie? Was den Nutzen für die EU betrifft, ist die ENP auf größtmögliche Ähnlichkeit zur Erweiterungspolitik angelegt: also politische, ökonomische und kulturelle Anbindung an die EU sowie umfassende ökonomische und politische Stabilisierung der Peripherie. In den einschlägigen Programmpapieren der EU wird dagegen der Nutzen für die Nachbarn – was nicht überrascht – stark betont: Ziel der ENP ist es, die Vorteile der EU-Erweiterung von 2004 mit den Nachbarländern zu teilen, indem Stabilität, Sicherheit und Wohlstand für alle Betroffenen gestärkt werden. Wie aber steht es um die Kosten? Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß für die EU weniger Kosten und für die Nachbarländer weniger Nutzen entstehen. Die Nachbarschaftspolitik hat für die EU in mehreren Dimensionen Kostenvorteile: Die Partnerländer übernehmen den acquis communautaire nicht. Das bedeutet vor allem, daß sie außerhalb der EU-Fonds bleiben, also am gemeinschaftlichen Umverteilungsmechanismus nicht teilhaben; daß auf sie die klassischen vier Freiheiten der EU nur nach Maßgabe von Einzelfallregelungen Anwendung finden – während Neumitglieder im Fall von Erweiterung nur in begründungspflichtigen Ausnahmefällen temporär davon ausgeschlossen werden können. Die Partnerländer sind Vertragspartner der EU, bleiben also von allen Entscheidungsprozessen der EU ausgeschlossen. Mit der Nachbarschaftspolitik spart die EU also jene Kosten, die sie im Falle einer Erweiterung für die intensivierte Konkurrenz (insbesondere auf dem Arbeitsmarkt) und die komplizierterer politischen [kompliziertere politische?xxx] Willensbildung aufbringen müßte. Diese Vorteile für die EU stellen zugleich die relevanten Nachteile für die potentiellen Teilnehmer an der Europäischen Nachbarschaftspolitik dar: Sie erhalten weniger und weniger leicht abrufbare finanzielle Unterstützung, Zugang zu allen Märkten der EU nur als Privileg, nicht als Standard; sie haben keine institutionalisierte Mitsprache in der EU. Dazu kommt das entgangene Prestige, als (potentielles) EU-Mitglied anerkannt zu sein. Diese Gegenüberstellung von Kosten und Nutzen führt zu der Schlußfolgerung: Wenn der politische Tausch „Pufferfunktion jetzt für Mitgliedschaft später im Rahmen der Erweiterungspolitik für das Funktionieren der Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie der EU ausschlaggebend war, und wenn sich im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik die Bedingungen dieses politischen Tauschs zu Ungunsten der Peripherie verändert haben, dann ist eine offene Frage, ob sich die Puffer- und Stabilisierungsfunktion im Rahmen der Nachbarschaftspolitik noch realisieren läßt. Mit anderen Worten: Sind die Nachbarländer bereit, die gleiche Leistung wie im Rahmen der Erweiterungspolitik für eine deutlich verschlechterte Gegenleistung der EU zu erbringen? Diese Frage stellt sich natürlich nur dann, wenn das hier dargelegte Kernproblem der Nachbarschaftspolitik auf einer angemessenen Beschreibung des Verhältnisses der EU zu ihrer Peripherie beruht. Die Selbstbeschreibung der EU weicht davon allerdings deutlich ab. Die Europäische Union als Werteexporteur? Die EU beschreibt sich in Art. I-2 des Verfassungstextes selbst als auf „Werte“ gegründet. Konsequent folgt ein Bekenntnis zu den Werten Europas als unabdingbare Beitrittsbedingung (Art I-1 (2)). Eine analoge Formulierung findet sich im Konzept der Europäischen Nachbarschaftspolitik: Die privilegierte Partnerschaft mit den Nachbarn beruht auf einer gegenseitigen Verpflichtung auf gemeinsame Werte in erster Linie in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, verantwortungsvolles Regieren, Achtung der Menschenrechte einschließlich der Minderheitenrechte, Förderung gutnachbarschaftlicher Beziehungen und die Prinzipien der Marktwirtschaft und der nachhaltigen Entwicklung. Lassen wir erst einmal dahingestellt, ob „gutnachbarschaftliche Beziehungen“ und „Prinzipien der Marktwirtschaft“ sinnvoll in einer gemeinsamen Rubrik „Werte“ erfaßt werden können. Jedenfalls muß dieser zentrale Stellenwert des Exports von „Werten“ sozialwissenschaftlich ernst – das heißt: als empirisches Datum – genommen werden. Es geht also weder darum, dieses Wertebekenntnis einfach zu übernehmen, noch seine Authentizität von irgendeiner Warte überlegenen Wissens aus zu bestreiten. Es geht vielmehr darum, nach den Ursachen für den programmatischen Werteexport der EU zu fragen. Was kann der hier vertretene Ansatz einer Theorie der Dynamik Europas dabei leisten? Die Theorie der Dynamik Europas erklärt die Entwicklung der EU unter Rückgriff auf Interessenkalküle der unterschiedlichen Akteure und Akteursgruppen. Im Mittelpunkt steht das Interesse des EU-Kerns an Absicherung seines Wohlstands und seiner Stabilität durch Förderung von Wohlstand und Stabilität ringsum. Davon ausgehend läßt sich der Export von Werten als wichtiges Förderinstrument von Wohlstand und Stabilität untersuchen. Diese Theorieperspektive auf Werte als Instrumente hat den Vorteil, daß man ihre Existenz und Akzeptanz keineswegs bestreiten muß – und so eine lächerliche Entlarvungsattitüde vermeidet –, jedoch nach den Grenzen des Werteexports fragen kann, die sich aus den Interessenkalkülen ergeben, in deren Rahmen er stattfindet. In diesem Rahmen wird auch die merkwürdige Klassifikation von „gutnachbarschaftlichen Beziehungen“ und „Prinzipien der Marktwirtschaft“ als „Werte“ verständlich: Sie sind Voraussetzungen für politische Stabilität und ökonomische Entwicklung in der Peripherie und darum für die Interessen des Wohlstandskerns der EU essentiell. Die These, daß der Werteexport der EU im Rahmen ihrer Nachbarschaftspolitik der Logik von Interessenkalkülen folgt, läßt sich in dreierlei Weise empirisch plausibel machen. Erstens zeigt der Vergleich von Partnerländern, daß unterschiedliche Länder mit gleichen oder höchst ähnlichen „Wertedefiziten“ von der EU unterschiedlich behandelt werden. Dies ist mit der Logik von Werteexporten als Selbstzweck inkompatibel und macht die Hypothese plausibel, daß unterschiedliche geopolitische Relevanzen einzelner Nachbarländer wichtiger sind als deren Werteausstattung. Dies könnte die wertepolitische Zurückhaltung der EU gegenüber einzelnen Ländern Nordafrikas angesichts der Bedeutung dieser Länder bei der Migrationsabwehr und angesichts der Konkurrenz um politischen Einfluß zwischen der EU und den USA erklären. Zweitens zeigt der Vergleich über längere Zeiträume, daß ein und dasselbe Peripherieland zunächst mit Hinweisen auf seine Wertedefizite von der EU ferngehalten wird, und später – trotz fortdauernder Defizits – durchaus als EU-Beitrittskandidat in Frage kommt. Dieses aus einer Werteperspektive inkonsistente Verhalten läßt die Hypothese plausibel erscheinen, daß der Wandel der strategischen Bedeutung eines Landes oder einer Region stärker handlungsbestimmend ist als Probleme seiner Werteausstattung. Dies könnte den Positionswechsel der EU gegenüber den Beitrittsbestrebungen der Türkei nach dem 9.11.2001 erklären. Drittens steht die EU in ihren Beziehungen zu einigen Peripherieländern vor dem Dilemma, daß der Export demokratischer Werte zur Stärkung politischer Kräfte führen kann, welche der Kooperation mit der EU abträglich sind; entweder, weil absehbar ist, daß sich politische Kräfte, die der EU feindlich gegenüber stehen, unter Ausnutzung demokratisch gebotener Handlungsspielräume auf Dauer etablieren würden; oder, weil es durch Demokratisierung zu einer vorübergehenden Destabilisierung der politischen Verhältnisse in einem Nachbarland käme und die Kosten dieser Übergangsphase als zu hoch und ihr Ausgang als zu unsicher eingeschätzt werden. „Das Ziel kurzfristiger Stabilität überschattet deshalb das Ziel, die langfristigen Perspektiven für Demokratie zu verbessern.“ Alle drei Versionen, Stabilitätsinteressen und Werteexport in Beziehung zu setzen, verdeutlichen die vorgeordnete Bedeutung von politischer Stabilität der Peripherie für die Nachbarschaftspolitik der EU und zeigen, daß Werteexport nur im Rahmen und zur Förderung des Stabilitätsziels betrieben werden kann. Es geht hier nicht darum, eine mangelnde Verbindlichkeit der Werterhetorik der EU zu entlarven. Dies ist nicht nur theoretisch sinnlos, sondern auch empirisch insofern unangemessen, als es ja tatsächlich starke Bestrebungen der EU gibt, den Schutz von Menschenrechten, demokratischen Institutionen und Rechtsstaatlichkeit in ihrer Nachbarschaft zu stärken. Daß diese Bestrebungen Mittel in bezug auf die Ziele Prosperität und Pazifizierung sind, modifiziert (vielleicht – das ist eine empirische Frage) ihre Substanz, macht den Werteexport aber keineswegs wertlos. Im Gegenteil, es läßt sich leicht argumentieren, daß nur durch die interessenstrategische Motivation, „Werte“ zu verbreiten, sowie durch die Wechselwirkungen zwischen der Hebung demokratischer Standards und gesteigertem Wohlstand und politischer Stabilität nachhaltig Verbesserungen in den Nachbarländern der EU erzielt werden können. Das Ergebnis der Auseinandersetzung mit der Werteexportthese lautet: Der Erfolg der Nachbarschaftspolitik hängt stark von der Kooperationsbereitschaft der Peripherie ab, die wiederum davon abhängt, ob diese Länder die Angebote der Europäischen Nachbarschaftspolitik im Rahmen des politischen Tauschs akzeptieren. Aus dem Vergleich ist deutlich geworden: Im Rahmen der Nachbarschaftspolitik wird der Peripherie weniger geboten als im Zuge der Erweiterungspolitik. Dieser Umstand ist der politikbegleitenden sozialwissenschaftlichen Beobachtung nicht verborgen geblieben: „Die ENP verlangt den Nachbarn viel ab und bietet ihnen im Gegenzug höchst vage Anreize.“ Kurzum: „Das Zuckerbrot ist dünner geworden.“ Doch damit ist noch nichts Endgültiges über die Chancen der Europäischen Nachbarschaftspolitik gesagt. Denn für die Kooperationsbereitschaft der Nachbarn ist entscheidend, in welchem Spektrum politischer Möglichkeiten sie das Angebot der Europäischen Nachbarschaftspolitik sehen und einschätzen. Dies muß keineswegs ausschließlich im Rahmen der Alternative: Nachbarschaftspolitik oder Vollmitgliedschaft geschehen. Die Kooperationskalküle der Nachbarn In die Entwicklung der Europäischen Union ist ein Expansionsmechanismus eingebaut. Dieser Mechanismus ergibt sich aus den Interessenverknüpfungen und der Interaktion zwischen wohlhabendem EU-Kern und seiner Peripherie. Das Interesse des durch die Erweiterungen wachsenden EU-Kerns an einer wirtschaftlich prosperierenden und politisch stabilen Peripherie hat bisher immer wieder zu Erweiterungsrunden geführt. Die Perspektive auf eine EU-Mitgliedschaft hat sich für die Peripherien als starker Anreiz erwiesen, sich ökonomisch und politisch zu modernisieren und Funktionen für den EU-Kern zu übernehmen. Erweiterungspolitik beruhte also auf dem politischen Tausch zwischen Zentrum und Peripherie: Übernahme der Pufferfunktion und der Lasten der Modernisierung jetzt für Beitritt zur EU später. Im Rahmen der Theorie der Dynamik Europas läßt sich auch zeigen, daß die Verpflichtung der Peripherie auf Werte der EU zwar eine Rolle spielt, daß dem jedoch ein instrumenteller Charakter in bezug auf die dominierenden Stabilitätsinteressen des Kerns zukommt und daß diese Interessen den Rahmen für den Werteexport aus der EU in die Peripherie abstecken. Zentral für die Politik der Expansion ohne Erweiterung, also für den Übergang von Erweiterungspolitik zu Europäischer Nachbarschaftspolitik, ist somit, ob die Peripherie zur Übernahme dieser Lasten auch ohne eine Perspektive auf spätere Mitgliedschaft bereit ist, ob der Tausch zwischen Zentrum und Peripherie auch zu ungünstigeren Bedingungen für die Peripherie funktioniert. Den relevanten Akteuren der EU war von Anfang an klar, daß der Erfolg der Nachbarschaftspolitik davon abhängt, ob die Peripherieländer die damit verbundenen Angebote für ausreichend attraktiv halten. Die entscheidende Frage ist also: Das Ziel des Beitritts ist gewiß der stärkste Reformanreiz, den wir uns vorstellen können. Aber weshalb sollte ein weniger ambitiöses Ziel nicht ebenfalls einen solchen Effekt haben? Was bildet einen Anreiz für ein Nachbarland, mit der EU auf der Grundlage der Europäischen Nachbarschaftspolitik zu kooperieren? Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß Peripherieländer ihren Kooperationskalkülen mit der EU zwingend den Vergleich zwischen Beitrittsperspektive und Nachbarschaftspolitik zugrunde legen. Eine solche Annahme übersieht die Möglichkeit, daß diese Länder weitere Alternativen haben oder zumindest zu haben glauben. Die Analyse der Kooperationschancen zwischen EU und Peripherie muß darum die Vergleiche alternativer (erwarteter) Kosten und Nutzen rekonstruieren, welche die Länder der Peripherie selbst anstellen. Denn die Kalküle der Peripherieländer auf die Alternative Beitritt oder Nachbarschaftspolitik zu reduzieren, würde bedeuten zu unterstellen, daß sie keinerlei Alternativen zur EU sehen. Und das würde bedeuten, den Extremfall alternativenloser Angewiesenheit auf die EU – oder konkurrenzloser Attraktivität – zum Normalfall zu machen. Das aber wäre analytisch fehlerhaft und politisch naiv. Die EU mag sich zwar realistisch als „a pole of attraction for its neighbours“ sehen, sollte aber bei der Gestaltung ihrer Nachbarschaftspolitik nicht davon ausgehen, für ihre Nachbarländer unwiderstehlich zu sein. Die entscheidende Grundlage für Kooperationsbereitschaft sind also die Vergleiche, welche die Nachbarländer zwischen dem Angebot der Europäischen Nachbarschaftspolitik und Alternativen, die sie dazu sehen, selbst anstellen. Diesbezüglich gibt es zwischen einzelnen Ländern und Ländergruppen der Peripherie große Unterschiede. Es kann hier nicht darum gehen, dies im einzelnen zu untersuchen. Aus den bisherigen Untersuchungsschritten ergibt sich ein zweidimensionales analytisches Schema: Für die Kooperationsbereitschaft kommt es offensichtlich einerseits darauf an, was für Vorteile ein Nachbarland von der EU tatsächlich erwartet. Und es kommt andererseits darauf an, welche Alternativen zum Angebot der Nachbarschaftspolitik ein Nachbarland sieht. Es wäre analytisch ertragreich und politisch sinnvoll, die „Länderberichte“, die im Zuge der Europäischen Nachbarschaftspolitik angefertigt werden, in Hinblick auf Kooperationskalküle der EU-Nachbarländer zu evaluieren und dabei von folgenden vier Varianten auszugehen: · Ein Land erwartet von der EU wenig Vorteile und hat wenig Alternativen. Daraus ergibt sich ein schwaches Interesse an der ENP. Insbesondere deshalb, weil man mit fundamentalen Problemen konfrontiert ist, bei deren Lösung man der EU nicht viel zutraut. Das Ergebnis: Die ENP greift kaum. · Ein Land erwartet von der EU große Vorteile und hat wenig Alternativen. Ein Indiz, daß sich ein Land in dieser Position sieht, ist die ausgiebige moralrhetorische Unterfütterung seiner Annäherungs- oder Beitrittswünsche. Dies führt kaum zu einer Partnerschaft unter zufriedenstellenden Bedingungen für das Peripherieland. Darauf sind unter Umständen irrationale Reaktionen möglich, die in Richtung politischer Isolation gehen. Das Ergebnis: Die Nachbarschaftspolitik greift bedingt, die Kooperation ist aber instabil, weil von politischer Dauerfrustration begleitet. · Ein Land erwartet von der EU wenig Vorteile und hat gute Alternativen. Das ist die Position (relativer) Stärke eines Nachbarlandes. Diese Konstellation führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Kooperationsbeziehungen mit der EU außerhalb der Europäischen Nachbarschaftspolitik. · Ein Land erwartet von der EU große Vorteile und hat gute Alternativen. Diese Konstellation führt dazu, auf einer langfristigen Beitrittsperspektive zur EU zu beharren. Die Nachbarschaftspolitik funktioniert in diesem Fall, verfehlt aber das zentrale Problem der Europäischen Union: „Wir können nicht unendlich erweitern.“ Die Voraussetzung dieses Kooperationskalküls, das zu stabilen Kooperationsbeziehungen im Sinne der Europäischen Nachbarschaftspolitik führt, ist also die Preisgabe ihres zentralen Ziels: Expansion ohne Erweiterung.

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