Titelbild Osteuropa 12/2007

Aus Osteuropa 12/2007

Editorial
Das Ich und das Rätsel der Herrschaft

Manfred Sapper, Volker Weichsel


Abstract in English

(Osteuropa 12/2007, S. 3–4)

Volltext

Das Ich des denkenden und handelnden Subjekts hatte es schwer in Osteuropa. Das alte Russland ruhte auf dem Fundament der Unterordnung der niederen Ränge gegenüber den höheren, der unteren Schichten gegenüber den oberen. Das Individuum war eingeklemmt in Subordinationsketten – in Gefolgschaften, Rangtabellen und in der Armee. Bauern waren gefesselt in Leibeigenschaft und wurden aus bürokratisch-steuerlichen Zwecken zu anonymen „Seelen“ degradiert. Ein guter Indikator für die Stellung und Wahrnehmung des Einzelnen ist die bildende Kunst. Es bedurfte erst der Rebellion einiger Absolventen der Petersburger kaiserlichen Akademie der Künste gegen die überlebten Kunstauffassungen und Praktiken, ehe das Individuum jenseits des Herrscherportraits in den Blickpunkt rückte. Es waren die Künstler um Ivan Kramskoj, die als Peredvižniki (Wanderer) in die Kunstgeschichte eingehen sollten, die dem amorphen Volk individuelle Züge verliehen. Selbst auf seinen vermeintlichen Heldendarstellungen „Suvorov und seine Truppen überqueren die Alpen“ (1899) und „Die Bojarin Morozova“ (1887), die in diesem Heft abgebildet sind, galt Vasilij Surikovs Aufmerksamkeit dem individuellen Ich der Vielen: Surikov malte die Menge um die Bojarin nach Gesichtern von in Moskau lebenden Altgläubigen. Er gab dem Spannungsverhältnis von Held und Volk Ausdruck. Da geht es um Wünsche und Sehnsüchte, Identitätsstiftung und individuelles Verhalten, Orientierung und Erinnerung, Projektion und Integration. Auch wenn Heiko Haumann in diesem Heft das Thema am Material des späten 18. und 19. Jahrhunderts entwickelt, handelt es sich nicht ausschließlich um ein historisches Phänomen. Es ist bis heute aktuell und betrifft die Grundlagen der Macht. Im Zentrum steht das ewige Rätsel der Herrschaft: Wie funktioniert sie? Warum ordnen sich die vielen Menschen den wenigen unter? Wann sind die vielen gehorsam und bereit, Befehlen zu folgen? Was bewegt den einzelnen Menschen, sein Ich zu suspendieren und zum Teil der Masse zu werden, selbst um den Preis, dass es auf Dauer deformiert oder gar – wie das Titelfoto aus der Spätphase der Brežnev-Periode eindrücklich demonstriert – nivelliert und pulversiert wird? Diese Fragen stellen sich gerade demjenigen, der verstehen will, was Diktaturen und autoritäre Herrschaft zusammenhält. Es sind nicht allein der Terror, der Zwang und die Unterdrückung. Was aber dann? Am Beispiel der Sowjetunion nach Stalins Tod zeigt sich, dass die Einbindung und Folgebereitschaft des Homo sovieticus durch Anpassung und Gewohnheit, durch die integrative Kraft des Siegs im Großen Vaterländischen Krieg und die suggerierte Teilhabe am technischen Fortschritt der „Großmacht UdSSR“ erreicht wurden. In Russlands kollektiver Erinnerung ist die Raumfahrt mit Jurij Gagarin als „Held unserer Zeit“ dafür das unumstrittene Symbol. Wie aktuell diese Mechanismen sind, Identität und Integration zu stiften, demonstriert Boris Dubin mit seiner luziden Ableitung aus der Analyse der Brežnev-Periode: Vladimir Putin und den anderen Epigonen des Goldenen Zeitalters des Brežnevismus ist es gelungen, die Gegenwart mit dem Vorgestrigen zu versöhnen. Und der Preis? Das Ich des denkenden und handelnden Subjekts hat es nicht leicht in diesem Geist der Zeit.