Titelbild Osteuropa 11-12/2006

Aus Osteuropa 11-12/2006

Editorial
Lehrstück

Manfred Sapper, Volker Weichsel, Andrea Huterer


Abstract in English

(Osteuropa 11-12/2006, S. 5–6)

Volltext

Jan Matejko kennt in Polen jedes Kind, in Deutschland kaum ein Mensch. Dabei ist dieser Maler ein Klassiker. Seine Werke künden scheinbar von einer vergangenen Zeit. Doch auf den zweiten Blick behandeln sie Themen und Fragen, die zeitlos sind. Matejkos Stańczyk auf dem Ball bei Königin Bona, in einem Ausschnitt auf dem Titelbild und in voller Größe auf der folgenden Seite, ist in Polen fast eine Ikone. Das Gemälde ist dem Hofnarren Zygmunts I. gewidmet, einer zum Symbol gewordenen Figur, die sich um das Schicksal der polnischen Nation und des Staates sorgt. Bereits zu Lebzeiten galt Stańczyk weniger als Unterhalter denn als Analytiker des Politischen. Matejko malte seinen Stańczyk als Selbstporträt. Bemerkenswert sind die Kontraste, die er zum Ausdruck bringt. Der Narr ist ernst. Der Hof tanzt. Während Stańczyk aus dem Brief auf dem Tisch gerade vom Verlust Smolensks erfahren hat, geht das fröhliche Treiben weiter. Stańczyk sieht mehr und denkt gründlicher als die Menschen im Hintergrund. Es herrscht eine Spannung zwischen Gefühlswelt und Umwelt, Vordergründigem und Hintergründigem, Ereignis und Prozeß. Matejko verlangt den Betrachtern seiner Werke einen synthetischen Blick ab, der auch das erfaßt, was noch nicht seine endgültige Gestalt angenommen hat. Dieser synthetische Blick ist wieder gefragt, um zu durchdringen, was in Polen heute passiert. Seit einem Jahr regiert eine Koalition aus drei populistischen Parteien. Das ist einzigartig in der Europäischen Union. Im Weltbild der populistischen Politiker stehen politische Ideen aus der Zwischenkriegszeit neben Vorstellungen aus dem Kommunismus, aus dessen Schatten die Kaczyńskis & Co. das Land angeblich herausführen wollen. Sie bedienen sich einer imitierten nationalistischen Ideologie, stellen sich in die Tradition autoritärer Führungsfiguren wie Roman Dmowski und Josef Piłsudski, knüpfen an deren politische Rhetorik an und revitalisieren alte Feindbilder. Quo vadis, Polonia? Ist Polen wieder Vorreiter in Europa, wie damals bei der Überwindung des Kommunismus? Denn Polen ist kein Einzelfall. Aus der Slowakei ist Ähnliches zu hören. In Ungarn drohte die Polarisierung von Freund und Feind die Schwelle eines Ausnahmezustands zu überschreiten. In Tschechien ist das politische Leben seit einem halben Jahr de facto gelähmt. Das alles sind Krisensymptome. In ihnen kommt die Verunsicherung der Menschen zum Ausdruck, die anderthalb Jahrzehnte ihr Leben umstellen mußten und in der Modernisierung, Europäisierung und Globalisierung eine Bedrohung erblicken. Doch gibt es Anlaß zur Sorge? Es wäre falsch, die Krisensymptome zu überzeichnen. Auch hierin ist Polen ein Lehrstück. Der Versuch einer Kritik der polnischen Vernunft bringt einen eindeutigen Befund. Der Populismus trägt den Keim seines Untergangs in sich. Politisch ist er ambivalent und hat paradoxe Folgen. Er attackiert die Demokratie, doch steigert er ihre Integrationskraft, er ist antimodern, und er befördert doch die Modernisierung. Und der synthetische Blick in Wirtschaft und Gesellschaft zeigt, daß es ein anderes Polen gibt. Die Kluft zwischen den populistischen Eliten und der Gesellschaft wächst. Diese ist individualistischer, flexibler, eigenverantwortlicher und pragmatischer, als es im Weltbild der Populismus denkbar ist.