Titelbild Osteuropa 10/2006

Aus Osteuropa 10/2006

Editorial
Der Sowjetmensch – Klaus Mehnert zum 100. Geburtstag

Andrea Huterer, Manfred Sapper, Volker Weichsel


Abstract in English

(Osteuropa 10/2006, S. 122)

Volltext

Am 10. Oktober 2006 jährte sich der Geburtstag von Klaus Mehnert zum einhundertsten Mal. Jahrzehntelang hatte er die Zeitschrift Osteuropa als Autor, Redakteur und Impressario geprägt. Bereits zu Beginn der 1930er Jahre hatte er sich sein erstes Renommee als Experte für die junge Sowjetunion erworben. Zwischen 1931 und 1934 amtierte er als Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas und als Redaktionsleiter von Osteuropa. Schon im ersten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft trug ihm sein Eintreten für die Rapallo-Politik das Etikett „Salonbolschewist“ ein. Seine politische Verortung im Umfeld der Schwarzen Front von Otto Strasser brachte ihn in Konflikt mit dem NS-Staat, dem er sich entzog, indem er 1934 als Korrespondent nach Moskau ging. Von dort zog er 1936 als Dozent an die University of California, später als Professor an die Universität Honolulu auf Hawaii. Dort erhielt er 1939 die Nachricht, daß die Zeitschrift Osteuropa ihr Erscheinen einstellen mußte. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war er sowohl unter den Gründern der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde als auch der spiritus rector der Wiedergründung von Osteuropa im Jahr 1951. Bis 1975 wirkte er als deren Chefredakteur. Seine eigentliche Bedeutung gewann er jedoch als Publizist. Seine Produktivität war beachtlich, seine Reichweite ist bis heute kaum zu überschätzen. Insbesondere in den 1960er und frühen 1970er Jahren, als das Fernsehen noch nicht das Leitmedium in der öffentlichen Meinungsbildung war, spielte Mehnert, der unterdessen eine Professur für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen innehatte, eine überragende Rolle, um Weltbilder zu vermitteln und das weltpolitische Geschehen zu erklären. Es wäre reizvoll zu erforschen, welchen Niederschlag seine Beobachtungen und Erklärungen in dem Bild fanden, das sich das breite (bundes-!)deutsche Publikum von der Sowjetunion, China und Südostasien machte. Allein sein Buch „Der Sowjetmensch“, das er nach zwölf Reisen durch die Sowjetunion 1958 veröffentlichte, war ein enormer Erfolg. Dieses Werk avancierte zu einem Bestseller und Longseller zugleich. Bis 1971 verkaufte die Deutsche Verlags-Anstalt 585 000 Exemplare. Dazu kamen ab den frühen 1960er Jahren Lizenzausgaben in Brasilien, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Italien, Japan, Norwegen, Schweden, Spanien und den USA. Selbst von der letzten Taschenbuchausgabe des „Sowjetmenschen“, die 1981 im Ullstein-Verlag erschien, wurden bis 1987 noch einmal 10 000 Exemplare abgesetzt. Von einer derartigen Verbreitung können selbst Wissenschaftler vom Schlage der Becks, Münklers oder Wehlers, die auch als Publizisten reüssieren, heute nur träumen – von den erfolgreichsten Osteuropa-Autoren wie Karl Schlögel ganz zu schweigen. Das alles ist schon Grund genug, an diese außergewöhnliche Persönlichkeit zu erinnern, indem wir in Zusammenarbeit mit dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart, das den schriftlichen Nachlaß Klaus Mehnerts verwaltet, einen Bilderbogen aus seinem Leben aufblättern.