Titelbild Osteuropa 4-6/2005

Aus Osteuropa 4-6/2005

Verschüttete Gefühle
Wie die deutschen Schriftsteller den Bombenkrieg bewältigten

Volker Hage

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Abstract in English

Abstract

War die Zerstörung deutscher Großstädte durch alliierte Bomber im Zweiten Weltkrieg für die deutsche Literatur über fünfzig Jahre lang kein Thema? Jedenfalls widmete sich kein einziger großer Roman der deutschen Nachkriegsliteratur dem Bombenkrieg. Während des Ost-West-Konflikts wurde der Nachhall der Bomben vom antizipierten Knall „der Bombe“ übertönt. Allerdings durchzogen die Kriegserlebnisse die Werke all jener Schriftsteller, die als Kinder den Bombenhagel im Luftschutzkeller erlebten. Erst als in Europa erneut Bomben auf – jugoslawische – Städte fielen, wurde das Thema wieder aktuell: Der Kosovo-Krieg und die Debatte um W.G. Sebalds Kritik an der Tabuisierung des Luftkriegs schärften den Blick. Auch wenn heute offener und mehr über den Luftkrieg geschrieben wird, revidiert kein ernstzunehmender deutscher Autor die Schuldfrage.

(Osteuropa 4-6/2005, S. 265–280)

Volltext

Mit· den Worten „Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel“ beginnt ein in der Bundesrepublik 1951 veröffentlichter Roman: Tauben im Gras. Der Schriftsteller Wolfgang Koeppen vermittelt darin ein Bild des Landes wenige Jahre nach Kriegsende. „Anflug und Abflug, Übungen des Todes, ein hohles Getöse, ein Beben, ein Erinnern in den Ruinen“, heißt es. „Noch waren die Bombenschächte der Flugzeuge leer. Die Auguren lächelten. Niemand blickte zum Himmel auf.“ Ein furioser Romanauftakt, der eine Gesellschaft zwischen wirtschaftlichem Aufbruch und neuer Kriegsangst skizziert: Die Zeitungen melden Bedrohliches („Krieg um Öl“, „Verschärfung im Konflikt“, „Flugzeugträger im Persischen Golf“, „Atomversuche in Neu-Mexiko“, „Atomfabriken im Ural“), man lebt in einem geteilten Land, „im Spannungsfeld“ zwischen östlicher und westlicher Welt, also „an der Nahtstelle, vielleicht an der Bruchstelle“, denn: „hier wie dort horteten sie Pulver, den Erdball in die Luft zu sprengen“. Er habe den Roman kurz nach der Währungsreform geschrieben, „als das deutsche Wirtschaftswunder im Westen aufging“, erläuterte Koeppen in einem Vorwort zur zweiten Auflage. Der Kopf sei „von Hunger und Bombenknall noch etwas wirr“ gewesen, „und alle Sinne suchten Lust, bevor vielleicht der dritte Weltkrieg kam“. Und Koeppen stand mit seiner Beobachtung nicht allein, viele Schriftsteller waren damals von der Angst vor einem Atomkrieg ergriffen – einer Angst, die das kulturelle Leben in Deutschland vom Herbst 1945 an ständig begleitete, im Grunde bis weit in die 1980er Jahre hinein, bis zum Ende des Ost-West-Konflikts. „Atombomben und V2-Waffen werden die zukünftigen Kriege entscheiden“, davon war schon im November 1945 auch Hans Henny Jahnn überzeugt. Ernst Jünger suchte, als er im August 1945 vom Abwurf der ersten Atombombe über Hiroshima erfuhr, Zuflucht zu biblischen Vergleichen. „Es scheint, daß man durch Strahlung Mauern umwerfen kann“, notierte er im Tagebuch. „Das überbietet die Trompeten von Jericho.“ Nicht nur Jünger dürfte in jenen Tagen die Überlegung angestellt haben, was geschehen wäre, „wenn wir den Krieg weiter in die Länge hätten ziehen können“, wenn also der Zweite Weltkrieg in Europa nicht schon im Mai 1945 zu Ende gegangen wäre – „man hätte uns dann noch mit einigen dieser Dinger aufgewartet, zu allgemeiner und inniger Genugtuung.“ Thomas Mann hielt in den USA schon am Tag des Abwurfs, am 6. August, im Tagebuch fest: „Erster Angriff auf Japan mit Bomben, in denen die Kräfte des gesprengten Atoms (Uran) wirksam.“ In den folgenden Tagen blieb das in seinem Tagebuch Hauptthema. Er schrieb über die „unheimliche Zerstörung der Stadt“ und formulierte: „Enormer Staubsturz himmelwärts.“ Bertolt Brecht drückte seine Abscheu Anfang September, ebenfalls im Tagebuch, noch unverblümter aus: „Der Sieg in Japan scheint denen, die ungeduldig ihre Männer und Söhne zurückerwarten, vergällt. Dieser Superfurz übertönt alle Siegesglocken.“ Einer, der ebenfalls im US-Exil überlebt hatte, der jüdische Schriftsteller und Philosoph Günther Anders, machte die Warnung vor der Atombombe in den folgenden Jahrzehnten sogar zu seinem Lebensinhalt und zum zentralen Gegenstand seines Schreibens. Bis zu seinem Tod wurde er nicht müde, vor der apokalyptischen Potenz der Bombe zu warnen. Hiroshima und Auschwitz waren für ihn Chiffren des mörderischen Unheils des 20. Jahrhunderts. Er besuchte die Schauplätze des Schreckens: Hiroshima und Nagasaki 1958, Auschwitz 1966. Seine Reisenotizen publizierte er in den Büchern Der Mann auf der Brücke (1959) und Die Schrift an der Wand (1967) – das zweite Tagebuch (mit dem Auschwitz-Kapitel Besuch im Hades) umfaßt die Jahre 1941 bis 1966. So mühsam sich in der frühen Bundesrepublik ein Bewußtsein für die von den Nazis begangenen Verbrechen und Massenmorde durchsetzte, so rasch und kontinuierlich entwickelte sich das Gefühl für die neue Bedrohung durch die Atombombe. Die Vermutung ist nicht ganz abwegig, daß sich mancher Deutsche im Verbund der internationalen Antiatombewegung (zu deren Vorreitern auch Anders zählte, er steuerte 1959 seine „Thesen zum Atomzeitalter“ bei) insgeheim der erlittenen Ängste in den Bombennächten erinnerte, daß sich also in die Phantasie über kommende Schrecken die Bilder der schon erlebten mischten; hinter der deutschen Protestwelle gegen Atomrüstung, jener ersten großen außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik, könnte sich uneingestandene Empörung verbergen – über die reale Zerbombung der Städte und angesichts der Vorstellung, wie knapp Berlin oder andere deutsche Städte 1945 dem Abwurf einer Atombombe entgangen sind. Auffällig ist jedenfalls, wie gerade in der deutschen Literatur eine Vorliebe für das Sujet des Atomkriegszenarios Platz griff. Mit viel Liebe zum Detail entwarfen Autoren die zu erwartenden Alpträume, erzählten in aller Farbigkeit von einer Apokalypse, deren reales Eintreten in den Zeiten des Kalten Krieges als realistisch galt – was mittlerweile fast vergessen ist, nachdem der Ost-West-Konflikt ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Ende fand, ohne daß es zum befürchteten atomaren Schlagabtausch gekommen war. Die Reihe der deutschen Untergangsvisionen begann schon in den fünfziger Jahren mit Romanen wie Keiner kommt davon! Berichte aus den letzten Tagen Europas (1957) von Hans Helmut Kirst und Die Kinder des Saturn (1959) von Jens Rehn. Prädestiniert zum Schreiben solcher Fiktionen glaubten sich offenbar besonders Autoren, die im Hauptberuf Ärzte waren, wie Josef Gollwitzer (Pseudonym) mit dem Roman 6. August (1975) oder Udo Rabsch mit Julius oder Der schwarze Sommer (1983). Rabsch verlegte die atomare Katastrophe in eine nahe Zukunft. Mitten in Europa wankt sein Held Julius durch verseuchte Landstriche, verkohlte Wälder und zerglühte Dörfer. Im selben Jahr wie Rabschs Roman, 1983, erschienen noch zwei ähnliche Werke: Glückliche Reise von Matthias Horx und Der Bunker von Gerhard Zwerenz. Die Romane wurden allesamt kaum beachtet und schnell vergessen, und ein Nachzügler, der ebenfalls in diese Reihe gehört, Die Rättin (1986) von Günter Grass, fand nur dank des prominenten Verfassers mehr Beachtung, erfuhr allerdings überwiegend Ablehnung bei der Literaturkritik. Angeführt werden diese Bücher hier vor allem als Beleg für eine ehemals weit verbreitete Stimmung bei deutschen Schriftstellern in West und Ost. Die bekannteren unter ihnen, bis auf Grass, mißtrauten allerdings der epischen Ausmalung des Schreckens und verlegten sich lieber auf publizistische Wortmeldungen oder auf Anspielungen, wie sie sich bei Christa Wolf in ihrer Erzählung Kassandra (1983) finden. Man lebe mit der Bombe, so hatte Heinrich Böll schon 1966 das Grundgefühl definiert, „wir haben sie alle in der Tasche, neben den Zündhölzern und den Zigaretten, mit ihr, der Bombe, hat die Zeit eine andere Dimension gewonnen, die Dauer fast ausschließt.“ Rund 15 Jahre später schrieb Botho Strauß: „Kein Mensch kann dauernd mit diesem menschheitlichen Einschnitt im Kopf herumlaufen.“ Die Bedrohung möge dem Bewußtsein oft entschwinden, „dem Unbewußten aber vielleicht nicht“. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre wurden diese Ängste im Zusammenhang mit der Nachrüstungsdebatte noch einmal besonders virulent. „Was die nuklearen Planungsstäbe mit uns vorhaben, ist unsäglich“, erklärte Christa Wolf im Sommer 1982 vor Studenten in Frankfurt am Main. Doch schreiben wir weiter in den Formen, an die wir gewöhnt sind. Das heißt: wir können, was wir sehen, noch nicht glauben. Was wir schon glauben, nicht aussprechen. […] Sich den wirklichen Zustand der Welt vor Augen zu halten, ist psychisch unerträglich. Zwei Jahre später gab sich an derselben Stelle in Frankfurt ein Kollege aus der Bundesrepublik, Peter Härtling, noch eine Spur pathetischer: „Wir schreiben, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, Endzeit-Literatur, erzählen beharrlich von den Menschen vor der uns alle bedrohenden Fiktion.“ Die Kinder des Bombenkriegs So ist es vielleicht kein Wunder, daß die jüngeren deutschen Autoren, die als Kinder im Luftschutzkeller gesessen hatten oder als Jugendliche zu Flakhelfern wurden, vorerst über ihre Erfahrungen schwiegen. Warum über den vergangenen Krieg reden, wenn ein neuer ins Haus zu stehen schien? Dieses Gefühl war keineswegs auf Deutschland beschränkt – wie es durchaus kein deutsches Exklusivschicksal war, in zartem Alter mit Bombergeschwadern konfrontiert zu sein. Der Niederländer Harry Mulisch etwa (1927 in Haarlem geboren) sah als Jugendlicher, freilich mit Freuden, alliierte Flugzeuge über seine Heimat gen Hannover oder Berlin fliegen, und sein Landsmann Cees Nooteboom (1933 in Den Haag geboren) erlebte im Mai 1940, wie Heinkel-Bomber und Stukas den Flugplatz Ypenburg in der Nähe des Elternhauses zerstörten („mein Vater hat einen Sessel auf den Balkon gestellt und schaut zu“) und später Rotterdam angriffen („der Horizont rot gefärbt“). Für das Kind ein unvergeßlicher Eindruck: Der Sechsjährige war von einem unaufhörlichen Zittern erfaßt, damit es aufhörte, wurde sein Rücken mit eiskaltem Wasser abgewaschen. Unterdessen wurde am Roman meines Lebens geschrieben, ich brauchte nichts dazu zu tun. In Deutschland gab es in den 1960er und 1970er Jahren nur wenige Versuche, den Luftkrieg zum Thema der Literatur zu machen, nachdem die frühe Welle der zumeist konventionell und unreflektiert erzählten Nachkriegsromane über die Front- und Bunkererlebnisse ohne viel Nachhall abgeflaut war – literarisch Bedeutsames war außer den Werken von Wolfgang Borchert (Draußen vor der Tür), Gert Ledig (Vergeltung) und Hans-Erich Nossack (Der Untergang) kaum dabeigewesen. Offenbar erwartete auch niemand mehr ein solches Thema: Als 1967 ein noch weniger bekannter Autor namens Hans J. Fröhlich (1932–1986) einen Roman mit dem Titel Tandelkeller veröffentlichte, wurde die darin beschriebene unterirdische und scheinbar zeitenthobene Welt zumeist als surrealer Schauplatz gedeutet. Daß hinter dieser Erzählwelt eine ganz konkrete traumatische Erfahrung stand, wollte kaum jemand erkennen: Fröhlich war in seiner Heimatstadt Hannover als Kind in einem Luftschutzkeller verschüttet gewesen – und wer das weiß, erkennt das Echo deutlich. Die Erinnerung drängt schubweise – in kursiv gesetzten Passagen – an die Oberfläche (wo es dann heißt: „nur die Angst bleibt und das Schreien aus dem Keller“), unterbricht gewissermaßen die parabelhafte Erzählung, um am Schluß, vielleicht einem psychoanalytischen Prozeß vergleichbar, die Oberhand zu gewinnen – „jetzt liege ich hier und nun ist alles zuende“, so lautet doppeldeutig der letzte Satz, interpretierbar als Durchbruch der mit Todesangst besetzten Erinnerung ebenso wie vordergründig als Abschluß des Erzählexperiments. Hubert Fichte (1935–1986), der seine Kindheit in Hamburg verbracht und den seine Mutter 1942/43 für einige Zeit in einem bayerischen Waisenhaus untergebracht hatte, war kurz vor den großen Angriffen auf Hamburg im Juli/August 1943 wieder zurückgekehrt. Zunächst erscheint der Bombenkrieg in seinem Werk nur am Rande: in seinen ersten beiden Romanen Das Waisenhaus (1965) und Die Palette (1968), in einer kurzen Erzählung, 1963 in seinem Debütband Der Aufbruch nach Turku enthalten. Erst in Fichtes Roman Detlevs Imitationen ,Grünspan’ (1971) taucht das Thema mit Nachdruck auf, in einem eigenen, formal eigenwilligen Kapitel: Fichtes Alter ego Jäcki wird im Jahre 1968 zu einem Rechercheur in Sachen „Operation Gomorrha“, 25 Jahre nach dem Ereignis: Er sucht nach Informationen in Büchern – und vergleicht das Gelesene mit der eigenen Erinnerung. „Jäcki will alles über den Terrorangriff lesen“, heißt es, und in einer Art Selbstgespräch wird der auch von den Nazis verwendete Begriff auf Tauglichkeit hin untersucht: Wer wirft mir das Wort vor? Das Wort ist reingerüttelt in meinen Bregen von einigen zigtausend Kilo Sprengstoff. Das bedeutet für mich kein Kürzel mehr für die Propaganda von Dr. Joseph Goebbels. Für mich: Zebras in der Julius-Vosselerstraße. Der Geruch der Leichen am Krüppelheim. Der Verlust des Begriffes Dauer. Wörterbuch des Unmenschen? Was ist ein Unmensch? Auch in diesem Prosastück wird der Prozeß der mühsamen Rekonstruktion, der Wiederaneignung eines kaum erzählbaren Erinnerungsstoffs vorgeführt. Einen ebenso eindrucksvollen, streng komponierten und kompakten Text zum Bombenkrieg stellt der Abschnitt Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 von Alexander Kluge dar, enthalten in dem Band Neue Geschichten. Hefte 1–18 (1977). Im Vorwort zu dem Buch stellte der 1932 geborene Autor klar, daß er diesen Angriff als Kind miterlebt hatte, auch die Detonation einer Sprengbombe direkt neben sich: „Ich war dabei, als am 8. April 1945 in 10 Meter Entfernung so etwas einschlug.“ Nicht davon aber erzählt der Adorno-Schüler in seinem Text, sondern er bemüht sich, in der Montage von Puzzleteilen, von Fotos, Tabellen und Schaubildern die Ereignisse dieses Tages zusammenzusetzen, die Splitter unterschiedlicher Wahrnehmungen nebeneinanderzustellen, streng getrennt nach „Strategie von unten“ (am Boden) und „Strategie von oben“ (aus der Sicht der Angreifer). Die Unterscheidung zwischen Dokument, Zitat und Fiktion macht Kluge bewußt schwer. Am Ende aber steht ein einfacher Satz, einem Zeugen in den Mund geschoben: „An einem gewissen Punkt der Grausamkeit angekommen, ist es schon gleich, wer sie begangen hat: sie soll nur aufhören.“ Hinter Kluges Texten trat das autobiographische Moment zurück. Mehr darüber, wie er selbst mit den Erlebnissen vom 8. April 1945 fertiggeworden war, erklärte er gelegentlich einmal im Interview: daß er als Kind zunächst nur daran dachte, ob möglicherweise nun die Klavierstunde ausfallen werde, oder was er danach seinen Freunden alles zu erzählen hätte – aber: „Solche Erlebnisse wirken lange nach“, so Kluge. Jahrzehnte später werde die Erinnerung immer intensiver. In einer lobenden Kritik der Neuen Geschichten schrieb Hans Magnus Enzensberger seinerzeit, Kluges Erzähltechnik mache ihn beim lesenden Publikum vielleicht nicht unbedingt beliebt, qualifiziere den Autor aber dazu, jene „Regungen und Gefühle“ ausfindig zu machen, „die das fortdauernde Bombardement verschüttet hat und oft jahrzehntelang später an den überraschendsten und ‚verbotensten’ Stellen wieder zutage treten, wie Blindgänger, in denen enorme Energien aufgespeichert sind.“ Wie hat das auf die Kinder gewirkt, die damals in den bombardierten Städten gelebt hatten und später Schriftsteller wurden? Wie hat das nachgewirkt? Und hat es wirklich so wenige literarische Spuren hinterlassen – einen kafkaesken Roman bei Fröhlich, ein Romankapitel bei Fichte, eine Prosamontage bei Kluge? Vielleicht muß man sich einmal vorstellen, um das Ausmaß der Verstörung zu verdeutlichen, man hätte die Kinder damals gelegentlich mit an die Front genommen, ihnen gewissermaßen zur Anschauung den Beschuß mit einer Stalinorgel vorgeführt oder ähnliches. Ein absurdes Gedankenspiel. Doch qualitativ nicht viel anders war das, was sie daheim erlebten – Erfahrungen, die, um das mindeste zu sagen, „absolut neuartig“ waren, wie es Walter Kempowski kühl formulierte. Tatsächlich lassen sich diese Spuren finden. Ist man einmal hellhörig geworden und schaut genau hin, läßt sich das Echo der erlebten Luftangriffe und Tieffliegerattacken bei vielen deutschen Autoren nachweisen, die den Krieg als Kinder und Jugendliche erlebten. Von Christa Wolf (Jahrgang 1929) gibt es eine autobiographische Erzählung Blickwechsel, im Mai 1970 geschrieben, also 25 Jahre nach der Befreiung, in der sie beschreibt, wie sie als junges Mädchen aus dem zertrümmerten Berlin Richtung Westen flieht („im Eilmarsch nach Schwerin, da sind die Amerikaner, und wer noch fähig war, sich Fragen zu stellen, der hätte es eigentlich merkwürdig finden müssen, wie alles jenem Feind entgegendrängte, der uns seit Tagen nach dem Leben trachtete“). Wie in einer Filmszene wird ein Angriff auf die Flüchtenden geschildert: Erst sah ich die weißen Sterne unter den Tragflächen, dann aber, als sie zu neuem Anflug abdrehten, sehr nahe die Köpfe der Piloten in den Fliegerhauben, endlich sogar die nackten weißen Flecken ihrer Gesichter […], und es kam mir unnatürlich vor, daß ich mich für eine Sekunde fragte, ob ihnen das Spaß machte, was sie taten. Und sehr gefaßt schildert die Autorin aus der Erinnerung, wie neben ihr ein Mann stirbt, „nachdem die Tiefflieger ihm in den Bauch geschossen hatten“. Ihr trockener Kommentar: „So sah ich mit sechzehn meinen ersten Toten, und ich muß sagen: reichlich spät für jene Jahre.“ Bei den noch jüngeren, im Krieg geborenen Autoren klingt das ganz anders. Es wird weniger leicht erzählt, wenn überhaupt. So hat der Österreicher Gerhard Roth, Jahrgang 1942, der im Januar 1945, noch keine drei Jahre alt, den Angriff eines Tieffliegers auf einen vollbesetzten Zug miterlebte, diese Erfahrung nur verschlüsselt in einer märchenhaften Miniatur zu Literatur gemacht, enthalten in seinem umfangreichen Roman Landläufiger Tod (1984). Sein Landsmann Peter Handke, ebenfalls 1942 geboren, erlebte als Kind Luftangriffe sowohl in Berlin (woher sein Vater stammte) als auch in seiner Kärntner Heimat (sogar auf seinen Geburtsort Altenmarkt, Gemeinde Griffen, fielen Bomben). Er habe die als Kleinkind erfahrene Kriegsangst („als die Bomben entweder auf Südkärnten oder auf Berlin gefallen sind“) noch lange als Trauma mit sich herumgeschleppt, sagte er später in einem Interview. „Jetzt erinnere ich mich, daß in der Nacht die Bomber geflogen waren“, heißt es in seinem Romandebüt Die Hornissen (1966), und gleich auf der ersten Seiten der Erzählung Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) sagt der Held von sich: Soweit ich mich zurückerinnern kann, bin ich wie geboren für Entsetzen und Erschrecken gewesen. Holzscheite lagen weit verstreut, still von der Sonne beschienen, draußen im Hof, nachdem ich vor den amerikanischen Bombern ins Haus getragen worden war. Viel mehr findet sich in Handkes Werken dazu nicht – dennoch liegt es nah, daß die spätere vehemente Stellungnahme des Autors im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg sich auch aus diesen Kindheitsängsten speiste, zumal Handke vor allem die Bombardierungen durch Nato-Flugzeuge verurteilte. Von Rolf Dieter Brinkmann (1940–1975) sind frühe Ängste nur posthum zu erfahren gewesen: aus seinem 1971 verfaßten, 1987 publizierten Tage- und Skizzenbuch Erkundungen. Der Autor, dem es während eines Aufenthalts in Rom nicht gelingen wollte, einen zweiten Roman zu schreiben (sein erster und einziger war 1968 erschienen: Keiner weiß mehr), haderte in den privaten Aufzeichnungen mit seiner Generation: Sie können nicht einmal Schmerz darstellen, sie können weder Freude, noch Lust, noch Wut, noch Haß, noch Verachtung darstellen, nichts, spüren sie das nicht mehr, erfahren sie das nicht mehr? So gepanzert? So ängstlich? Erledigt? Und dann machte er einen bemerkenswerten gedanklichen Sprung: Nach der dumpfen Enge und permanenten Betäubung von 1940 bis 1945, diese Angstatmosphäre, dieser Tod, plötzlich waren Leute verschwunden, kamen nicht mehr wieder, verhängte Fenster, Fliegeralarm, Bunker, Sand rieselt runter, ich muß immerzu den Mund offen halten, vor Angst singende Mutter, immer wieder, heißt es unvermittelt. Er sei etwas über vier Jahre alt, kommt es dann wie eine jähe Erinnerung: und jetzt ist die Verwüstung da /: kaputte Städte […], erstarrte Körper, das ist Krieg, sieht das keiner??? /: diese negativen Rückkoppelungen, die in Gang gesetzt worden sind, zu durchbrechen erfordert Kraft und Mut, wer geht schon gern durch seine eigene erstarrte Hölle? Die eigene erstarrte Hölle: Selten wird so greifbar wie in diesen wenigen, in einer wüsten Collage aus Notizen, Entwürfen und Fotos versteckten Sätzen der Zusammenhang zwischen einer tief wirkenden Erschütterung und einer langfristigen Lähmung, einer Erschütterung, die nicht produktiv macht, sondern das Erzählen, das literarische Werk verhindert. Erst in den 1980er Jahren setzte allmählich eine Phase der Rückwendung ein. Tatsächlich brachte das Jahrzehnt für viele Jüngere die erste Annäherung an die traumatischen Erfahrungen – nach einer ganzen Weile des Schweigens und Verdrängens. Die Welle der frühen Kriegs- und Luftkriegsromane war nach 1960 abgeflaut, und die Werke waren zumeist schnell vergessen worden. Und so konnte der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler W. G. Sebald zu seiner 1982 erstmals formulierten Frage kommen, weshalb die von Millionen Deutschen in den letzten Kriegsjahren miterlebten Luftangriffe auf deutsche Städte und die von dieser Zerstörung katastrophalen Ausmaßes bewirkte radikale Veränderung der gesellschaftlichen Lebensformen in der deutschen Literatur kaum je behandelt wurde. Auch in der historischen Forschung in Deutschland übrigens bereitete sich bereits der Wandel vor. Ein Geschichtswissenschaftler aus der DDR, Olaf Groehler, arbeitete an einem übergreifenden Werk; als sein Buch Bombenkrieg gegen Deutschland dann 1990 endlich erschien, gab es seinen Staat schon nicht mehr, die fundierte Studie wurde daher nur wenig zur Kenntnis genommen. In den 1990er Jahren dann, nach der Wende, wurde der Blick zurück dringlicher. Von den Zeitzeugen, die den Zweiten Weltkrieg als Erwachsene erlebt hatten, lebten viele schon nicht mehr, und selbst diejenigen, die damals Kinder oder Jugendliche waren, kamen nun langsam ins Alter – vor allem jene, die zur Flakhelfer-Generation gezählt, also Ende der 1920er Jahre geboren worden waren. Erinnerungen tauchten auf, oft wie nebenbei in anderen Zusammenhängen – so in dem Essay Aussichten auf den Bürgerkrieg (1993) von Hans Magnus Enzensberger, Jahrgang 1929. Er sehe sich immer noch, „nach fünfzig Jahren, in einem Keller hocken, eingewickelt in eine Decke“, heißt es da. Das Gebell der Flak könne er bis auf den heutigen Tag vom Heulen einer Luftmine unterscheiden: „Manchmal sucht mich im Traum der auf- und abschwellende Ton der Sirenen heim, eine widerwärtige Melodie.“ Ludwig Harig (Jahrgang 1927) berichtete 1990 in seinem autobiographischen Roman Weh dem, der aus der Reihe tanzt: Nie werde ich in den Bahnhof von Merzig einfahren können, ohne an den Tag zurückzudenken, als wir dort, von Tieffliegern angegriffen, aus dem Zug stürzten und uns kopfüber zwischen die Schienen warfen. Eine Gruppe amerikanischer Jagdbomber griff die Menschen auf dem Bahnsteig an, eine alte Frau schrie nach ihrer Tochter, die sich schützend über einen Kinderwagen werfen wollte, und dabei stürzte: Dort lag sie, ohne sich zu rühren, ich wußte nicht, ob sie schon tot war, doch dann strich eine Kugelgarbe über sie hinweg und perforierte sie der Länge nach vom linken Schulterblatt den Rücken hinunter bis zum Oberschenkel, und da wußte ich, daß ihr nicht mehr zu helfen war. Ob Günter Kunert (Jahrgang 1929) in seinen Erinnerungen mit dem Titel Erwachsenenspiele (1997) beschreibt, wie er als Halbwüchsiger zusieht, als eine Frau auf der Suche nach ihrer Schwester in Berliner Trümmerbergen schreiend herumwühlt und „geschwärzte und deformierte Überbleibsel von Körpern ans Licht“ zerrt, oder Günter de Bruyn (Jahrgang 1926) in Zwischenbilanz (1992) als Jugendlicher vor den Trümmern des Hauses steht, „in dem ich geboren und aufgewachsen war“, nachdem eine Luftmine im Hof detoniert war (seine Schwester half bis zum Morgen Tote und Verwundete wegzutragen) – das Fazit ist überall das gleiche: „Meine Kindheit war nun wohl wirklich zu Ende.“ Bisweilen war auch das Gefühl da, in der Stunde des Schreckens gewissermaßen erstarrt und dazu verurteilt zu sein, ein ewiges Kind zu bleiben: Wolf Biermann (Jahrgang 1936), der im Alter von sechs mit seiner Mutter durch das von der „Operation Gomorrha“ entfachte Hamburger Feuerinferno um sein Leben lief, hat sich später so geäußert. Über diese Nacht könne er einen Roman schreiben, schrieb Biermann 1995, wenn er denn Romane schreiben könnte. Er bilde sich ein, sagte er im Gespräch, daß in dieser Nacht der Grundstein dafür gelegt worden sei, daß er Lieder und Gedichte schreibt – immerhin sind auch zwei über den Bombenkrieg darunter: Jan Gat unterm Himmel in Rotterdam und Die Elbe bei Hamburg, verfaßt 1988 und 1993. Im letzteren Gedicht heißt es über Biermanns Erfahrung in jener Nacht: „Genau auf sechseinhalb blieb meine Lebensuhr da stehen.“ Biermann war in einer „komplizierten Interessensituation“ (so seine Formulierung im Gespräch): in Lebensgefahr durch jene Bomben, die seine Mutter, deren jüdischer Mann in Auschwitz ermordet worden war, eigentlich begrüßte. „Es wäre interessant“, antwortete er auf gezielte Nachfrage, denselben Vorgang aus der Perspektive eines kleinen Jungen und einer Arbeiterfrau zu schildern, die weiß, daß ihr Mann gerade durch den Schornstein in Auschwitz gegangen ist und als Rauch in diesem verrauchten Himmel schon zuguckt, von oben. Das wäre, wenn ich denn einen Roman schreiben müßte, der raffinierte Drehpunkt, der die Sache dann auch interessant für andere Menschen macht. Denn nur Wunden vorzeigen, nur zeigen, wie schlimm es alles war und wie schrecklich – das ist die erste naive und menschliche Reaktion, aber nicht hinreichend für große Literatur. Und wenn man über sowas schon schreibt, dann reicht es nicht, daß das Feuer so groß war und das Entsetzen so gewaltig. Die 1990er Jahre, das ist oft beschrieben worden, ließen in Deutschland viele politische und daraus folgende kulturelle Gewißheiten in sich zusammenbrechen, an die sich auch und gerade Intellektuelle und Schriftsteller geklammert hatten. Das erwies sich besonders deutlich an den Debatten über den Golfkrieg (1991) und den Krieg im Kosovo (1999), wo erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa wieder Bombeneinsätze – nun von der Nato – geflogen wurden. Gerade an diesen Schlägen aus der Luft entzündete sich die Diskussion, und es war auffällig, wie stark die Argumentation von frühen eigenen Erfahrungen und deren späterer Interpretation geprägt war, denn nun meldete sich vor allem die Generation der deutschen Kriegskinder zu Wort. Dieter Forte, 1935 in Düsseldorf geboren, bezog eine deutlich pazifistische Position: Krieg erreiche immer nur teilweise das Ziel, für das er angeblich geführt werde; er töte Menschen auf qualvolle Weise, und die Überlebenden seien bis zu ihrem Tod gezeichnet. Und dann: „Ich habe den Krieg als Kind erlebt, monatelange Bombardierungen, wochenlange Kampfhandlungen, ich habe in der totalen Angst der auf mich herunterdröhnenden Bomben gelebt, einer Angst, die bis zum heutigen Tag in mir ist.“ Vielleicht sei dieses „Urgefühl des Krieges in mir“ daran schuld, daß er keinem Militär und Politiker auch nur annähernd glaube. Fortes Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern erschien in den 1990er Jahren: Das Muster (1992), Der Junge mit den blutigen Schuhen (1995) und In der Erinnerung (1998). Der mittlere Band bietet eine der eindringlichsten Darstellungen des Luftkriegs in der deutschen Literatur überhaupt, der dritte schildert die unmittelbare Nachkriegszeit, das Leben inmitten von Trümmern, und er endet mit einem fast verwunderten Rückblick aus der Gegenwart. Vor allem diese beiden Bände sind Ergebnis eines von Forte mühsam erkämpften Eintauchens in die eigene Kindheit und ihre Schrecken. Er brauchte Jahrzehnte, um sich an dieses Thema heranzutrauen – wie auch andere aus der „Generation der Kinder in den Großstädten“, so Forte, „die sich erinnern können, wenn sie es können, wenn sie die Sprache dafür finden, und darauf muß man ein Leben warten“. Später hat es Forte im Gespräch so beschrieben: Während des Schreibens habe sich in ihm etwas geöffnet. Und die gesamte Erinnerung war da. Nicht nur das oberflächlich Behaltene, die gesamte Erinnerung. Auch der Schrecken und die Angst, die in mir ist. Es war ein richtiger Durchbruch. Ich habe geschrieben, geschrieben, die Manuskriptseiten sind kaum lesbar. […] Im Grunde ist alles noch da, und vielleicht wollen die Menschen deswegen nichts davon hören. Es sei sein Lebensinhalt, das zu berichten, „alles Vorherige war nur ein Umweg“. Und offenbar wirkt der Schock dieser Erfahrung bis heute nach. Bemerkenswert etwa, daß selbst Autoren, die erst im Krieg geboren wurden, die also überwiegend frühkindliche Erinnerungen an die Bombennächte haben, anschaulich von ihnen berichten, wenn auch zumeist bruchstückhaft. Monika Maron, 1941 in Berlin geboren, beschreibt in ihrem autobiographischen Buch Pawels Briefe (1999) Szenen im Luftschutzkeller, die sie im Alter von drei oder vier Jahren erlebt haben muß. Gleich zu Beginn der Erzählung – Untertitel: Eine Familiengeschichte – taucht die Frage auf, warum sie gerade jetzt über das Leben ihres jüdischen Großvaters schreiben wolle, „warum erst jetzt, warum jetzt noch“. Ihre Antwort: „Erinnerungen haben ihre Zeit.“ Bei Wolfgang Hilbig, der 1941 in Sachsen geboren wurde, ist es – mehr als 50 Jahre danach – ein Romanheld, der ebenfalls die Frage der Erinnerung thematisiert: Und einmal war ihm der Knall der zerspringenden Lampe in den Schlaf gefahren, so tief dieser auch gewesen war, dunkel glaubte er sich der Explosion zu entsinnen, die schwach hereingedrungen war wie aus einem entfernten Gelände […] so ähnlich mußten sich in den letzten Kriegsjahren die in den Straßen zerplatzenden Luftminen angehört haben, wenn er mit der Mutter im Keller Schutz gesucht hatte. Hilbig hat verschiedentlich bestätigt, daß es sich dabei um eigene Erfahrungen handelt: „Meine ersten Erinnerungen, die ich zu haben glaube, sind fast immer geprägt vom Feuerschein und Rauch der Bombenangriffe auf die kleine Industriestadt, in der wir wohnten.“ Die Ruinen und Trümmer waren seine Spielstätten. Europa in Ruinen – mit diesem Buchtitel hatte Enzensberger 1990 ein Jahrzehnt des Rückblicks eingeläutet: eine Collage aus den Reiseberichten der Jahre 1944 bis 1948, aus den Büchern und Reportagen von damaligen Besuchern in der Trümmerwelt, Texten, die längst vergessen und zum Teil nie übersetzt worden waren. „Hätte jemand den Höhlenbewohnern von Dresden oder Warschau damals eine Zukunft wie die des Jahres 1990 prophezeit“, so der Herausgeber und Arrangeur im Begleittext, „sie hätten ihn für verrückt gehalten. Ebenso unvorstellbar aber ist den Heutigen ihre eigene Vergangenheit geworden.“ Die Sebald-Debatte Ende der 1990er Jahre tauchte erstmals die Frage in der Öffentlichkeit auf, ob sich die deutsche Literatur des Themas Luftkrieg gebührend und ausreichend angenommen habe. Es war W. G. Sebald (1944–2001), der sie 1997 in einer mehrteiligen Poetikvorlesung in Zürich stellte. Der Schriftsteller und Essayist – bis dato vornehmlich einem kleinen Kreis bekannt und geschätzt als melancholischer Erzähler fremder Schicksale, vor allem jüdischer Biographien, als Autor, der seine eigene Person allenfalls mit seiner Rechercheur-Rolle ins Spiel brachte – kam aus England angereist, wo er seit langem als Universitätsdozent lebte, und es war nicht ohne Reiz, daß er nun ausgerechnet vor einem staunenden Schweizer Publikum auf ein deutsches Problem zu sprechen kam, das er ein „mit einer Art Tabu behaftetes Familiengeheimnis“ nannte. Seine Thesen über Luftkrieg und Literatur, die er zwei Jahre später auch in Buchform präsentierte, stießen jedenfalls von Anfang an auf großes Interesse. Sebald vertrat die Überzeugung, daß sich die Nachgeborenen, wenn sie sich einzig auf die Zeugenschaft der Schriftsteller verlassen wollten, kaum ein Bild machen könnten vom Verlauf, von den Ausmaßen, von der Natur und den Folgen der durch den Bombenkrieg über Deutschland gebrachten Katastrophe. Er sprach von der „Unfähigkeit einer ganzen Generation deutscher Autoren, das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis“. Sein Fazit: Gewiß gibt es den einen oder anderen Text, doch steht das wenige uns in der Literatur Überlieferte sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht in keinem Verhältnis zu der extremen kollektiven Erfahrung jener Zeit. Sebalds These vom weitreichenden und weitergereichten Tabu bezieht sich auf den Zustand Deutschlands bei Kriegsende. Als schandbares „Familiengeheimnis“, so glaubte er, seien die „finstersten Aspekte des von der weitaus überwältigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung miterlebten Schlußakts der Zerstörung“ empfunden worden, als Geheimnis, „das man vielleicht nicht einmal sich selber eingestehen konnte.“ Die Auswirkung, auch und nicht zuletzt auf die Literatur: Der wahre Zustand der materiellen und moralischen Vernichtung, in welchem das ganze Land sich befand, durfte aufgrund einer stillschweigend eingegangenen und für alle gleichermaßen gültigen Vereinbarung nicht beschrieben werden. Diesen Ansichten wurde zum Teil lebhaft widersprochen. In der Debatte, die sich schon 1998 an den Zürcher Vorlesungen entzündete, wurden im wesentlichen zwei Argumente gegen Sebald ins Feld geführt. · Die Grundthese sei falsch: Daß der Luftkrieg in der deutschen Nachkriegsliteratur nicht stattgefunden habe, sei eine „paradoxe Übereinkunft“ (Günter Franzen) von Sebald und einigen anderen Literaturkennern; es hätten sich sehr wohl deutsche Schriftsteller „des Themas angenommen“, wobei diese Behauptung dann gewöhnlich mit dem einen oder anderen bisher in der Debatte nicht genannten Autoren- oder Textbeispiel begründet wurde (verwiesen wurde etwa auf Eberhard Panitz). · Von einem Tabu könne keine Rede sein, es habe niemals ein Verbot gegeben, über den Luftkrieg zu reden und zu schreiben – alles andere sei „Unsinn“ (Jost Nolte). Dem ersten Argument konnte Sebald einigermaßen gelassen entgegentreten: Er habe nach seinen Vorlesungen in Zürich – für ihn eine „unfertige Sammlung diverser Beobachtungen, Materialien und Thesen“ – auf Ergänzung und Korrektur gewartet, doch seien sie nicht gekommen. Stillschweigend baute er zwar einen Hinweis auf Ledigs Roman Vergeltung in die Buchfassung von Luftkrieg und Literatur ein, ignorierte aber andere Hinweise (etwa auf die Werke von Forte, Kempowski, Remarque oder Panitz). Tatsächlich liegt hier der angreifbarste Punkt von Sebalds Theorie: Trägt man die einzelnen Hinweise zusammen und forscht weiteren Beispielen nach, so ergibt sich am Ende ein literaturhistorisches Gesamtbild, das schon rein quantitativ zu einer Korrektur von Sebalds Ansicht zwingt. Vieles ist erst durch hartnäckige Recherche wiederzuentdecken, mühsam über Antiquariate zu besorgen, nur mit Glück zu finden: besonders Werke aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Lücke, die nicht nur von Sebald empfunden worden ist, war und ist weniger eine der Produktion als der Rezeption – es sind viele Romane und Erzählungen über den Luftkrieg publiziert worden, doch sie fielen schnell und gründlich dem Vergessen anheim, wenn sie denn überhaupt zur Kenntnis genommen wurden (ein Paradefall: Ledigs Vergeltung). Tatsächlich hat der Luftkrieg überall seine Spuren hinterlassen, in den Erinnerungen und Andeutungen der Betroffenen, in den Gesichtern der Städte und auch in der deutschen Literatur. Die bisher zitierten und genannten Werke dürften allemal ausreichen, um das zu begründen, doch ist die Aufzählung der Titel keineswegs vollständig. Was schließlich den zweiten Teil der 1998 geäußerten Argumente gegen Sebald angeht, die Frage des Tabus, so ist er vielleicht der interessantere. Vorab sollte festgehalten werden, daß dabei von der Situation in der alten Bundesrepublik ausgegangen wird – in der DDR war die Tabuproblematik deutlich anders gelagert. „Über Dresden wurde gesprochen“, erinnert sich etwa Monika Maron im Gespräch. „Es war immer der anglo-amerikanische Angriff, das war eine stehende Formulierung. Aber alles andere war ein Tabu, etwa die Vergewaltigungen.“ Dagegen steht für Forte fest, der ansonsten gegenüber Sebalds Buch eine durchaus kritische Haltung eingenommen hat: „Es wurde doch eigentlich alles verschwiegen, die wenigen Ansätze, die es gab, endeten schnell in einer selbstgefälligen Literatur, das Trauma wurde zu einem Tabu.“ Auffällig ist und bleibt jedenfalls, daß sich, was die Belletristik angeht, das Thema Luftkrieg weitgehend abseits dessen abgespielt hat, was als Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur gelten kann. Schwer zu entscheiden dabei, ob das Eingehen auf das nach Sebalds Meinung vom Tabu umstellte Thema den Erfolg der entsprechenden Werke und ihrer Verfasser verhindert hat oder ob umgekehrt die später so erfolgreichen und prominenten Autoren das heikle Gelände von Anfang klug gemieden haben. Einer davon, Günter Grass, hat Sebalds These, ohne ihn beim Namen zu nennen, indirekt und spät, aber deutlich zugestimmt, als er im Jahr 2000 in einer Rede über die Folgen des „bedenkenlos begonnenen und verbrecherisch geführten Krieges“ sprach. Diese Folgen seien die Zerstörung deutscher Städte, der Tod Hunderttausender Zivilisten durch Flächenbombardierung und die Vertreibung, das Flüchtlingselend von zwölf Millionen Ostdeutschen“ gewesen – bisher „nur Thema im Hintergrund“, so Grass: „Selbst in der Nachkriegsliteratur fand die Erinnerung an die vielen Toten der Bombennächte und Massenflucht nur wenig Raum.“ Der Nobelpreisträger wandte sich als Erzähler allerdings nicht dem Luftkrieg zu, sondern – in seiner Novelle Im Krebsgang (2002) – dem Thema der Flucht und Vertreibung. Freilich könnte sich das, was in diesem Buch über die nicht erfüllte „Aufgabe seiner Generation“ zu lesen ist (formuliert von einem „Alten“, der Grass stark ähnelt), sich genausogut auf den Bombenkrieg beziehen: Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos … Das „gemiedene Thema“, das Gefühl, es „dürfte nur jener und nicht dieser Toten gedacht werden“ – was umschreibt besser den Begriff des Tabus? Damit ist ja nicht im religiösen Sinn ein tradiertes, von Strafandrohung gestütztes Verbot gemeint, sondern so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz, die stillschweigende Übereinkunft einer Gesellschaft, über bestimmte Dinge nicht oder nur mit Vorsicht zu reden. Wenn man das Wort seiner negativen Bedeutung entkleidet, können sich hinter einem Tabu auch unausgesprochene Einsichten verbergen, eine begründete Zurückhaltung, eine mehr oder weniger unbewußte Scheu und Berührungsangst. Daß sich weniger skrupulöse Autoren in der Nachkriegszeit ohne viel Problembewußtsein auf das Thema Luftkrieg warfen, muß nicht gegen diese Überlegung sprechen – auch nicht der Umstand, daß auf der anderen Seite vielleicht nicht so sehr die Wirkung des Tabus, sondern die Einsicht in die immensen handwerklichen Schwierigkeiten beim Umgang mit diesem Thema manchen Autor zum Schweigen geführt hat. Wer immer von den Jüngeren sich später dem Sujet näherte, tat es jedenfalls mit Skrupeln, mit einem spürbaren Zögern – manche nur halbherzig wie Biermann, der in Versen und einer autobiographischen Skizze sein Erleben umrissen hat, aber erklärt, er könne keinen Roman darüber schreiben. Alexander Kluge hält ein „inneres Gefühl von Proportionen“ beim Schreiben für nötig: „Ohne das Kapitel ‚Verschrottung durch Arbeit’, das sich mit einem KZ bei Halberstadt befaßt, mit dem ich mich vorher ausführlich beschäftigt habe, hätte ich auch den Luftangriff nicht erzählen können.“ Auch Sebald sagt, er habe sich dem Bombenkrieg nur mit seinen früheren Büchern im Rücken literarisch nähern können – nur auf Grund der dort beschriebenen Leiden von Emigranten und Verfolgten habe er gedacht, es sich erlauben zu können, auch über dieses Thema „einiges vorzubringen“, und daß „der Beifall von der falschen Seite, der zu erwarten war, mir nicht zu nahe kommen würde“. Das Unbehagen bei diesem Thema wird noch lange nicht, vielleicht niemals nachlassen. Jeder kennt es, der sich überhaupt mit der Materie beschäftigt (nicht wenige weisen jedes Interesse daran weit von sich) – es liegt in ihr begründet: Die Masse der Toten ist zu unvorstellbar, die einzelnen Schicksale sind zu unbegreiflich, die finstere Sogkraft der Leichen im Keller zu beängstigend, als daß so einfach darüber zu reden und nachzudenken wäre. Hätte es nur einen großen Angriff dieser Art gegeben, etwa den auf Darmstadt, wo am 11. September 1944 in zwanzig Minuten mehr als 12 000 Menschen starben, dann wäre das vielleicht ein Ereignis, das zu tradieren wäre wie einst das berühmte Erdbeben von Lissabon. Doch 600 000 Tote am Boden und 100 000 zusätzlich in der Luft (das sollte nicht vergessen werden: die alliierten Flieger starben in unfaßbar großer Zahl auf ähnlich entsetzliche Weise) – da stößt jede Form von Erzählung am Ende an ihre Grenzen. Schon deswegen war der Bombenkrieg in all den Jahrzehnten nach dem Krieg auch außerhalb der Literatur kein sehr beliebtes Thema, auch wenn das in den Familien unterschiedlich gehandhabt worden sein mag. Denn so wenig sich die Kriegsgeneration in den Jahren nach 1945 überhaupt vorstellen konnte, jemals etwas anderes als Trümmer um sich herum zu sehen, so energisch und konsequent wollte sie in dem Moment nichts mehr von alledem wissen, als sich in der Bundesrepublik früher als erwartet ein neuer Wohlstand abzeichnete. Die immer wieder gestellte Frage, ob das „Tätervolk“ sich mit seinen eigenen Opfern beschäftigen dürfe, ist vielleicht am ehesten mit dem schlichten Hinweis zu beantworten, daß es einen Unterschied macht, ob Schriftsteller (oder auch andere), wie gleich nach Kriegsende oft genug geschehen, sich diesen Leidenserfahrungen zuwenden, bevor auch nur den Versuch unternommen wurde, das von den Deutschen angerichtete weltweite Leid zur Kenntnis zu nehmen, – oder aber ein halbes Jahrhundert danach, zu einer Zeit, wo die Leugner des Genozids nur mehr in einem verschwindend kleinen Haufen Verwirrter zu finden sind. Und wo doch bei der Frage, wer schuldig geworden sei bei der Zerstörung der deutschen Städte, gar eines Kriegsverbrechens, einer in erster Linie zu nennen ist: der „grausige Mann“, wie Hitler in Thomas Manns Doktor Faustus (1947) genannt wird. Oder wie es Bertolt Brecht schon 1944 im Gedicht sagte: Das sind die Städte, wo wir unser „Heil!“ Den Weltzerstörern einst entgegenröhrten. Und unsere Städte sind auch nur Teil Von all den Städten, welche wir zerstörten.

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