Titelbild Osteuropa 1/2005

Aus Osteuropa 1/2005

Die Ukraine am Scheideweg
Ist ein Erpresserstaat reformierbar?

Mykola Rjabčuk

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Abstract

In der Ukraine hat sich eine autoritäre Herrschaft etabliert, die durch drei Elemente gekennzeichnet ist: Korruption ist verbreitet, die Geheimdienste spielen eine zentrale Rolle, und das Recht wird selektiv angewandt. Die Machtclique um Präsident Kučma schreckte vor Wahlfälschungen nicht zurück. Die Chancen für Reformen und die Demokratie scheinen gering. Doch wie die Beispiele Serbien und Georgien zeigen, ist ein politischer Wandel möglich. Dazu müssen innere und äußere Bedingungen erfüllt sein: Die Zivilgesellschaft muß Druck von innen ausüben, die Staatengemeinschaft Druck von außen. Die Proteste gegen die Wahlfälschungen und die internationale Reaktion geben Hoffnung, daß die Ukraine an der Schwelle zu einem gerechteren politischen System steht.

(Osteuropa 1/2005, S. 4–15)

Volltext

Vor· einigen Jahren veröffentlichte der amerikanische Politikwissenschaftler Keith Darden einen Aufsatz, in dem er für die halbautoritären, hybriden Regime auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion den Begriff des „Erpresserstaats“ prägte. Seines Erachtens war die staatlich institutionalisierte Erpressung zu einem zentralen Mittel der Machtausübung in den postsowjetischen Ländern geworden. Nach Darden stützt sich der Erpresserstaat auf drei zentrale Elemente: Erstens ist Korruption weitgehend anerkannt, wird geduldet, in gewisser Weise sogar gehegt und gepflegt. Zweitens bedient sich der Staat intensiv des von der UdSSR ererbten Überwachungsapparats. Er besteht aus dem Innenministerium und dem KGB in seiner je nach Land unterschiedlichen Erscheinungsform. Dazu kommt als neu geschaffene Form der Opričnina die „Steuerverwaltung“. Der Überwachungsapparat hat nicht nur Straftaten zu registrieren, sondern auch sogenanntes Kompromat (kompromittierendes Material) zu produzieren. Das dritte Element ist die selektive Anwendung der Gesetze. Weit und nachsichtig werden sie für „Freunde“ ausgelegt, wozu wirtschaftlich und politisch loyale Untertanen zählen, mit aller Härte, gar offen terrorisierend, werden sie gegen „Fremde“ eingesetzt: gegen Oppositionelle oder solche, die der Abweichung und mangelnden Loyalität verdächtigt werden. Dardens Interpretationsmodell überzeugt auch ohne den Verweis auf die einzigartigen Tonbandaufzeichnungen des Majors der Präsidentengarde und Ex-Geheimdienstlers Mykola Melnyčenko, die Darden ausgiebig zitiert und kommentiert. Die Authentizität dieser Aufnahmen macht die Realität und das Verhalten der Herrschaftseliten in der Ukraine, Rußland, Armenien und Kazachstan deutlicher als jede wissenschaftliche Expertise. Die Mitschnitte sind geradezu paradigmatisch für die Regierungspraxis in Kyïv, in Moskau, Minsk oder in der kirgisischen Hauptstadt Biškek. Schwerer fällt es, Dardens pessimistischen Schlußfolgerungen zuzustimmen. Er geht davon aus, daß das beschriebene System enorm stabil und auf absehbare Zukunft nicht zu verändern sei, da alle, die dazu imstande wären, an Veränderungen überhaupt nicht interessiert sind: „Der Präsident und seine Umgebung halten an der Macht fest, Oligarchen werden reicher, die Massenmedien werden kontrolliert, und die Bevölkerung ist eingeschüchtert, gespalten und unterdrückt.“ Der Zusammenbruch vergleichbarer autoritärer Regime in Jugoslawien und Georgien und nun wahrscheinlich auch in der Ukraine sollte Anhängern der Demokratie Hoffnung machen. Überdies regt er dazu an, jene Faktoren und Bedingungen gründlich und differenziert zu analysieren, die einen Wandel dieser Herrschaftssysteme möglich machen. Zentrale Faktoren des Wandels Darden hat das Bild vereinfacht, indem er die „Macht“ und das „Volk“ in der Ukraine in einem einheitlichen, hoffnungslos grauen Ton zeichnet. „Die Macht“ war jedoch bereits in der Sowjetunion, zumindest nach Stalin, keineswegs homogen. Noch stärker war die Macht in der postsowjetischen Ukraine nach regionalen, wirtschaftlichen, politischen und anderen Gesichtspunkten verteilt. Die notwendige „Einheitlichkeit“ sicherte sich die Zentralmacht mit Hilfe von Erpressung, wobei die Methoden sogar die meisten durch die Privatisierung zu Wohlstand und Einfluß gelangten „Oligarchen“ unvermeidbar zu heimlichen Gegnern des „erpresserischen Staates“ machten. Ein Teil der neuen Wirtschaftseliten wollte sich endlich vom Haken befreien und auf eigene Faust wirtschaftlich und politisch handeln. Mag dies auch nicht für alle gelten, so gilt es zumindest für den überwiegenden Teil der oligarchischen Eliten. Ebenso differenziert stellt sich die Lage in bezug auf das ukrainische „Volk“ bzw. die Bevölkerung dar. Das Gefühl der Entfremdung, das die Bevölkerung gegenüber dem Zirkel der Macht im besonderen und der Politik im allgemeinen hegt, ist seit Jahren erheblich: Dies belegen soziologische Untersuchungen Jahr für Jahr. Die Mehrheit der Ukrainer hat weder in den Staat noch in seine Institutionen noch in die Politiker Vertrauen. Das galt lange Zeit auch für die oppositionellen Politiker, Parteien und Massenmedien. Die postkommunistischen Eliten haben alles daran gesetzt, die von der UdSSR ererbte Gesellschaft in einem unzivilen, atomisierten, entfremdeten und unsolidarischen Zustand zu halten. Trotz dieser Bemühungen haben Keime der Zivilgesellschaft nicht nur überlebt, sondern sich sogar wesentlich weiterentwickelt. Dies demonstrieren die Ereignisse seit den gefälschten Präsidentenwahlen im November 2004. Die ukrainische Zivilgesellschaft entstand erst während der Perestrojka unter dem letzten Generalsekretär der KPdSU und Präsidenten der Sowjetunion Michail Gorbačev. Nach dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 erwies sich die Zivilgesellschaft als nicht stark genug, um den autoritären Staat zu beherrschen und ihn nach dem Beispiel Tschechiens, Polens oder der baltischen Staaten in eine liberale Demokratie zu transformieren. Aber sie erwies sich auch nicht als so schwach, daß sie es zugelassen hätte, von einem neoautoritären Staat unterdrückt zu werden, wie es in Belarus oder Rußland der Fall ist, von den Dikaturen in Mittelasien ganz zu schweigen. Ungeachtet des spürbaren administrativen Drucks entwickelten sich in der Ukraine zahlreiche, zum Teil sehr effektive zivilgesellschaftliche Organisationen, wie das Ukrainische Wählerkomitee, die Menschenrechtsgruppe Charkiv und das Razumkov-Zentrum für wirtschaftliche und politische Forschungen. Daneben existieren unabhängige Medien, die permanent unter Druck stehen. Im Vergleich zu den anderen Staaten des postsowjetischen Raums hat sich in der Ukraine eine einflußreiche Opposition herausgebildet, die fast über die Hälfte der Stimmen im Parlament verfügt. Neben der behutsamen Ausdifferenzierung der Eliten und der Bevölkerung ist noch ein dritter Faktor zu nennen, der den status quo in der Ukraine beeinflussen und verändern kann. Darden hat ihn in seiner pessimistischen Prognose schlicht unberücksichtigt gelassen: Die Rede ist von der internationalen demokratischen Gemeinschaft, die in den letzten Jahrzehnten weltweit ihre Spielregeln durchgesetzt hat und Verstöße gegen diese Regeln auf dem europäischen Kontinent nicht gutheißen kann. Die Tatsache, daß die Europäische Union vorrangig mit ihrer Erweiterung beschäftigt ist und die Vereinigten Staaten mit dem Krieg im Irak, ermöglichte es der ukrainischen Staatsmacht, die Präsidentschaftswahlen weitgehend unbehelligt und ungestraft zu manipulieren. Die Überlegenheit des oppositionellen Kandidaten Viktor Juščenko gegenüber dem von Kučma protegierten Kandidaten Viktor Janukovyč war jedoch deutlich. Die Wahlfälschungen waren deshalb dermaßen unverschämt, daß die internationale Gemeinschaft gezwungen war, ziemlich scharf auf diesen Vorgang zu reagieren, vor allem als Hunderttausende Ukrainer auf die Straße gingen, um gegen die Verletzung ihrer Bürgerrechte zu protestieren. Keiner der drei genannten Faktoren ist für potentielle Veränderungen wichtiger als die anderen, entscheidend sind die Synergieeffekte, die sie gemeinsam entfalten. Erosion der Eliten Ohne Zweifel sind radikale Veränderungen in Ländern ohne demokratische Traditionen oder mit nur sehr schwachen Traditionen sowie einer unterentwickelten Zivilgesellschaft eine direkte oder indirekte Folge der Erosion oder gar Spaltung der autoritären Machtstrukturen. „Abtrünnigkeit der Eliten“, schreibt der angelsächsische Politikwissenschaftler Lucan A. Way, „ist ein wichtiger Bestandteil des Scheinpluralismus“, d.h. eines Pluralismus, dem nicht der Respekt der Herrschenden vor demokratischen Institutionen, Verfahren und den Menschenrechten zugrundeliegt, sondern die Unfähigkeit, im Lande das gewünschte Niveau autoritärer Herrschaft durchzusetzen. In diesem Sinne ist es nicht verwunderlich, daß die Hauptrivalen der autoritären Herrscher in der Regel aus deren enger Umgebung stammen: Juščenko war Ministerpräsident unter Kučma, Kučma war Ministerpräsident unter Präsident Kravčuk, und Kravčuk wiederum war ein wichtiger Mann im Apparat des ukrainischen Parteisekretärs und Brežnev-Gefolgsmannes Ščerbyc’kyj. Im Umfeld der Macht haben sich all diese Personen einen Namen als gemäßigte und kompetente Politiker gemacht. Ihre Popularität hätten sie nie erreicht, wenn sie ihre Karriere in der Opposition gestartet hätten, deren Führer von den Massenmedien entweder verschwiegen oder als gefährliche Extremisten oder – das ist noch schlimmer – als infantile, inkompetente Idealisten dargestellt werden. Die Spaltung der Elite spielte nicht nur eine entscheidende Rolle beim Untergang von Slobodan Milošević in Serbien und Eduard Ševardnadze in Georgien, sondern auch beim Zusammenbruch der kommunistischen Parteiherrschaften zwischen 1989 und 1991. Damit die Spaltung der Elite zu einem offenen Bruch mit den Machthabern führt, bedarf es weiterer Faktoren: erstens eines spürbaren Drucks „von unten“, d.h. der Unterstützung durch die Gesellschaft, zweitens des Druckes „von oben“, d.h. der Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft, deren Votum ganz entscheidend zur Legitimierung oder eben zur Delegitimierung des bestehenden Systems beiträgt. Den abtrünnigen Teilen der Elite nationale und internationale Unterstützung zukommen zu lassen, die ihre konservativen Gegner nicht genießen, hat nicht nur einen moralischen oder ermutigenden, sondern auch einen wichtigen praktischen Aspekt. Bevor sie einen entschlossenen und politisch insgesamt sehr riskanten Schritt in Richtung Opposition tun, ist es für die „Abweichler“ wichtig zu wissen, daß sie im Falle eines Mißerfolges weder von der Bevölkerung noch von der internationalen Gemeinschaft dem Regime zur Bestrafung überlassen werden. Die einflußreiche demokratische Opposition mit einer breiten Wählerschaft, insbesondere im Westen des Landes, diente vielen potentiellen politischen Dissidenten als eine Art Schutzbrief. Bei den Parlamentswahlen 2002 etwa haben Tausende Ukrainer nur deshalb für Julija Timošenko gestimmt, um sie vor Kučmas Staatsanwälten zu retten. Aus demselben Grund waren die Machthaber gezwungen, Andrij Škil’ freizulassen, als er in einem Wahlkreis im Gebiet L’viv zum Abgeordneten des Parlaments gewählt wurde. Das Loch im Eimer als Kardinalfrage der Macht Unter dem Aspekt des autoritären Machterhalts erwies sich die Ukraine neben Moldova als das schwächste Glied in der Kette jener konsolidierten autoritären Regime, die sich in den letzten Jahren auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR etabliert haben. Im Unterschied zu Belarus und Kazachstan, seit kurzem auch zu Rußland, war die politische Konkurrenz in der Ukraine immer eine echte gewesen. Die Folgen ihres Wirkens waren nie vorauszusehen. Weder stärkere Repressionen gegen oppositionelle Politiker und unabhängige Massenmedien noch die Manipulationen der Wahlen und auch nicht die kolossale finanzielle, politische und diplomatische Unterstützung durch den Kreml in Moskau konnten dem herrschenden Regime einen Wahlsieg garantieren. Ende der 1990er Jahre hat der russische Politikwissenschaftler Aleksandr Rubcov die postsowjetischen „Fassadendemokratien“ mit einem neuen Emailleeimer verglichen, der nur einen Defekt hat: Im Boden des Eimers gibt es ein kleines Loch, allerdings so groß, daß es nicht gelingt, das Wasser vom Brunnen bis zur Treppe zu transportieren. Das bedeutet, daß in den GUS-Staaten formal alle demokratischen Institutionen existieren und angeblich auch alle demokratischen Verfahren eingehalten werden. Doch immer gibt es ein „kleines Loch“, unterschiedliche Verstöße gegen das Recht und die Verfahren, um die eigene Macht zu sichern. Das Loch darf jedoch nicht zu groß sein. Anders gesagt, diese Verstöße dürfen gerade so schwer sein, daß keine internationalen Sanktionen drohen, aber schwer genug, um die Macht nicht zu verlieren – wie es 1994 Leonid Kravčuk in der Ukraine und zuvor Vjačeslav Kebič in Belarus passiert war. Die Frage über die minimal notwendigen und die maximal tolerierbaren Verstöße wird zur Kardinalfrage für die Machthaber in autoritären Regimen. Niemand von ihnen will in die Position von Slobodan Milošević oder Nikolae Ceauşescu geraten, und keiner strebt eine internationale Isolation wie die des belarussischen Präsidenten Aleksandr Lukašenko an. Ihr Handlungsspielraum gleicht einem Minenfeld. Er hängt von vielen Faktoren ab. Die wichtigsten sind der bereits erwähnte Druck von unten, der das Ausmaß der für die Machterhaltung nötigen Regelverletzungen erhöht, und der Druck von oben, der das Ausmaß der Verstöße senkt, das sich ein Regime ungestraft leisten kann. Im Falle der Ukraine ist dieser Handlungsraum ziemlich eng. Anders als in Rußland beschränkt sich die Zivilgesellschaft in der Ukraine nicht nur auf die Hauptstadt. Auch in den anderen großen Städten ist politischer Pluralismus mehr oder weniger institutionalisiert. In der Ukraine hat die Zivilgesellschaft neben dem privilegierten Kyïv auch ziemlich tiefe Wurzeln im westlichen Landesteil geschlagen, der keineswegs – wie in sowjetischen Zeiten die Propaganda verkündete und wie jüngst wieder zu hören war – ein „Bollwerk des Nationalismus“ ist, sondern Quelle des politischen Pluralismus und des solidarischen, gesellschaftlichen Widerstandes gegen autoritäre Tendenzen. Im Unterschied zu Rußland hat die Ukraine keine riesigen Rohstoffressourcen, geschweige denn Atomwaffen und auch keine „asiatische, islamische Dimension“ wie Tschetschenien oder die zentralasiatischen Staaten als Nachbarn, die alle „Unzulänglichkeiten der Demokratie“ rechtfertigen könnten und das autoritäre Regime vor harten Sanktionen des Westens schützen. Der ukrainische Handlungsspielraum, in dem das autoritäre Regime seine Willkür ungestraft ausleben darf, hat sich als ziemlich beschränkt erwiesen. Bis zu einem gewissen Grade war es Leonid Kučma durch geschicktes Taktieren und außenpolitisches Manövrieren gelungen, sich mal an den, mal an jenen Partner anzunähern. Auf einen Flirt mit dem Westen folgte ein Flirt mit Rußland, dann wieder die Erpressung beider mit der Drohung, sich dem anderen anzunähern – wofür die Wissenschaft den Begriff der „Multivektorenpolitik“ erfand. Es scheint jedoch, daß dieses Spiel seit dem Skandal um die Tonbandaufnahmen nicht mehr funktioniert. Der Westen ist eines fragwürdigen Partners überdrüssig, der von der traditionellen geopolitischen Orientierung zu einer nicht traditionellen wechselt und umgekehrt. Und Rußland setzt offensichtlich darauf, daß Präsident Kučma in einer Situation realer internationaler Isolation keine andere Wahl hat, als sich im Kielwasser des Kreml zu bewegen. Ukrainische Oligarchie zwischen West und Ost Eine tendentielle Verschlechterung der Beziehungen mit dem Westen bei gleichzeitig wachsendem Einfluß Rußlands fanden die meisten Angehörigen der ukrainischen Elite jedoch nicht attraktiv. Zumindest persönlich sind sie längst im Westen integriert: Sie haben eigene Bankkonten, Immobilien, die nette Angewohnheit, ihren Urlaub in den besten westlichen Kurorten zu verbringen, lassen ihre Kinder in den berühmtesten Universitäten ausbilden und fahren mittlerweile viel lieber nach Baden-Baden zur Kur als nach Moskau ins Kreml-Krankenhaus. Ziemlich unattraktiv fanden viele auch die Stärkung autoritärer Tendenzen in allen Lebensbereichen, den wachsenden Einfluß des Erpresserstaates in Gestalt der Staatsbürokratie und der Sicherheitskräfte. Auf diese Weise waren die Bedingungen geschaffen, um den dritten, extrem wichtigen Faktor für die Veränderung des Regimes in Gang zu setzen: die Spaltung der Elite. Eigentlich hörte dieser Prozeß in der Ukraine nie auf, davon zeugt eine erhebliche Anzahl von ehemaligen Angehörigen der Machtelite in den Reihen der heutigen ukrainischen Opposition. Die ukrainischen Eliten mit unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und sprachlich-kulturellen Ausrichtungen haben im wesentlichen die Herausbildung einer autoritären Einpersonenherrschaft im Lande verhindert, indem sie den Präsidenten zu einer Multivektorenpolitik nach innen und nach außen nötigten. Die Existenz konkurrierender Clans auf der einen Seite und einer einflußreichen demokratischen – und nicht nur der aussichtslosen kommunistischen – Opposition auf der anderen Seite schuf die Chance, daß einer oder mehrere dieser Clans je nach Lage wechselnde Koalitionen mit den Demokraten bildeten. Streng genommen bestand die wichtigste politische Aufgabe für Leonid Kučma in den letzten Jahren darin, solche Allianzbildung und das Auftauchen von Dissidenten im eigenen Lager zu verhindern. Da der Erpresserstaat nicht nur für den einfachen Bürger, sondern auch für den Kleinunternehmer, den Mittelstand und sogar für Großunternehmer eine Gefahr darstellt, ist der wesentliche Teil der Eliten eher an einer Liberalisierung des Regimes als an einer weiteren Verhärtung der autoritären Herrschaft in Richtung auf eine totalitäre interessiert. Eine größere Transparenz in Politik und Wirtschaft erschwert das alte Spiel, reduziert auch die sicheren Einnahmen, macht aber die Situation kalkulierbar, sicherer und unabhängiger von den Launen des autoritären Präsidenten und seines Umfelds. Nicht weniger wichtig ist das Bedürfnis der „neuen Ukrainer“, wie die zu Wohlstand gelangten Profiteure der Privatisierung heißen, legale und legitime internationale Anerkennung zu erreichen – und zwar in der Rolle als ordentliche Unternehmer und zuverlässige Partner und nicht als Helden abschätziger Witze oder als Objekte scharfer Aufmerksamkeit von Interpol, Europol oder anderer ihnen nicht gewogener Organisationen. Entgegen den verbreiteten Vorurteilen exportiert die Ukraine bereits heute fast doppelt soviele Waren und Dienstleistungen in die EU (einschließlich der neuen Mitglieder) wie nach Rußland: 2002 gingen 32,1 Prozent des gesamten Außenhandels in die EU, 17,8 Prozent nach Rußland. 2003 war das Verhältnis 34,1 Prozent zu 18,7 Prozent, und für die ersten acht Monate des Jahres 2004 wurden 31,1 Prozent in die EU gegenüber 17,9 Prozent nach Rußland exportiert. Zwar bedarf es größerer Anstrengungen, um auf den EU-Markt zu kommen. Doch allein sein Volumen, das um das 40fache größer ist als der rußländische Markt, macht ihn unvergleichlich attraktiver und aussichtsreicher, von seinen positiven Rückwirkungen auf Modernisierungseffekte der exportorientierten Industriezweige ganz zu schweigen. Sogar jene ukrainischen Oligarchen, die ihr Geld in Rußland verdienen – hauptsächlich mit dem Import und Re-Export von russischem Öl und Gas –, deponieren ihre Devisen nicht in Moskau und natürlich noch weniger in Minsk oder Astana. All das führt dazu, daß die ukrainischen Wirtschaftseliten nicht nur an der Verbesserung der Beziehungen mit dem Westen interessiert sind, sondern auch persönlich von der politischen Konjunktur und potentiellen Sanktionen abhängig sind. Konsolidierung des Autoritarismus An der Verteidigung des status quo sind nur der Staatsapparat mit dem Präsidenten an der Spitze, die Sicherheitskräfte, Steuerbeamte und andere Profiteure des Erpresserstaates interessiert. Als der geflüchtete Major Mykola Melnyčenko die Gespräche aus dem Amtssitz des Präsidenten mit seinen Mittätern veröffentlichte, wurde deren Interesse am Erhalt des status quo zu einem vitalen Bedürfnis. Für die „Gesprächspartner“ wäre die internationale Isolation des eigenen Landes keine schlechte Variante für die Zukunft. Und im Unterschied zu Eduard Ševardnadze in Georgien, Boris El’cin in Rußland oder seinem Vorgänger Leonid Kravčuk wird Kučma viel gravierenderer Verbrechen beschuldigt als nur der einfachen Korruption. Diese Tatsache machte den ukrainischen Präsidenten zu einer leichten Beute für die „Falken“ in seiner Umgebung. Mit der ständigen Drohung, die Opposition habe theoretisch die Möglichkeit, ihn gerichtlich zu verfolgen, konnten sie ihn einschüchtern und hielten somit eine carte blanche für harte, rechtswidrige Handlungen gegen die Opposition in den Händen – bis hin zu den brutalen Fälschungen der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen im November 2004. Derselbe Fakt machte ihn zudem extrem abhängig von Moskau. Seit dem Skandal um die Ermordung des Journalisten Heorhij Gongadze befindet sich Kučma in der gleichen Paria-Rolle in Europa wie sein belarussischer Kollege Aleksandr Lukašenko. Diese Umstände haben den Einfluß der „Tauben“ im Umfeld von Präsident Kučma wesentlich beschränkt und dementsprechend auch die Möglichkeiten reduziert, mit der demokratischen Opposition einen Kompromiß zu finden und die Macht auf friedlichem Wege zu übergeben. Bereits im Herbst 2003 prognostizierte Kučma, daß die nächsten Präsidentschaftswahlen „so schmutzig wie nie zuvor“ werden würden. Er tat sein Bestes, um diese „Prophezeiung“ Realität werden zu lassen. Die Stichwahl am 21. November 2004 stellte geradezu „gesetzmäßig“ die Krönung einer mehrmonatigen Kampagne unglaublicher Lügen, Provokationen und des Drucks von seiten des Staatsapparates, von Bestechungen und Drohungen dar. Mit Hilfe all dessen versuchte die ukrainische Machtclique ihrem Kandidaten, dem amtierenden Ministerpräsidenten Viktor Janukovyč, den Sieg zu sichern. Die Machthaber wähnten die Sache für erledigt, wenn sie am Tag nach dem Urnengang ein Abstimmungsergebnis bekanntgeben würden, das etwa zehn Prozent von den Resultaten der unabhängigen Wählerbefragungen abweichen würde, um dann eilig die Gratulation des rußländischen Präsidenten Putin entgegenzunehmen. Vermutlich rechneten sie weder mit einer scharfen Reaktion im Land noch auf internationaler Ebene. Es hieß, politisch aktiv seien nur die westukrainischen Anhänger des Oppositionsführers Viktor Juščenko. Um sie zu neutralisieren, reiche es aus, die Straßen zu blockieren und keine Zugfahrkarten nach Kyïv mehr zu verkaufen. Das Kalkül war, daß die Gratulation an den vermeintlichen Sieger und damit die Anerkennung der Wahlen durch Putin sowie weitere diplomatische Schritte Rußlands eine etwaige negative Reaktion des Westens auf die Fälschungen effektiv neutralisieren würden. Das Szenario in der Ukraine sollte dem bereits aus Belarus und Azerbajdžan bekannten ähneln: Die Polizei löst die nicht allzu starken und zahlreichen Demonstrationen in der Hauptstadt auf, und Diplomaten (ukrainische gemeinsam mit den rußländischen) neutralisieren allmählich die nicht allzu scharfe Kritik des Westens. Die Drehbuchautoren haben allerdings die Rechnung ohne den Wirt gemacht! Sie haben die Reife der ukrainischen Zivilgesellschaft und ihre Aktivität unterschätzt. Gesellschaft gegen den Staat Die Ukraine hat bestätigt, daß sie unter allen ehemaligen Sowjetrepubliken am stärksten „verwestlicht“ ist – sieht man von den baltischen Staaten ab, doch diese waren strenggenommen nie sowjetisiert. Die ukrainische Zivilgesellschaft hat unerwartet ihre Stärke und Widerstandsfähigkeit demonstriert, nicht nur im westlichen Teil des Landes, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den Moskauer Herrschaftsbereich fiel. Ähnlich wie im Baltikum war das sowjetische Wertesystem hier nie internalisiert worden. Auch in der Zentralukraine erwies sich die Zivilgesellschaft als ausreichend mobilisiert, obwohl dieser Teil des Landes historisch bis Ende des 18. Jahrhunderts von Rußland kolonisiert und davor lange Bestandteil der Polnisch-litauischen Adelsunion gewesen war. Hier konnten sich eine politische Kultur, Mentalität und individualistische Verhaltensweisen herausbilden, die sich wesentlich von den russischen unterscheiden. Das größte Problem stellen die südöstlichen Gebiete des Landes dar. Bis Ende des 18. Jahrhunderts war es ein Niemandsland – offene Steppe, kontrolliert vom Krym-Chanat. Angehörige unterschiedlicher Ethnien, die sich hier nach der Kolonisierung durch das Russische Imperium im 19. Jahrhundert und während der sowjetischen Industrialisierung im 20. Jahrhundert ansiedelten, bildeten eine eher regionale als russische oder ukrainische nationale Identität. Doch wesentlich ist etwas anderes: Infolge der schwachen Verwurzelung erwiesen sich die Bewohner dieser Gebiete als ziemlich aufnahmefähig für den sowjetischen Wertekodex durch den kommunistischen Staat. Gerade hier – im überindustrialisierten Donbas – hat sich die Zivilgesellschaft bis heute nur minimal entwickelt. Dagegen hat im letzten Jahrzehnt die paternalistische Kontrolle der Untertanen durch den autoritären Staat, insbesondere dank der umfassenden Verschmelzung von Staat und Kriminalität, kontuinuierlich zugenommen. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit hatte die postkommunistische Nomenklatura mit der Zivilgesellschaft geflirtet. Sie tat dies, um ihrer Macht innenpolitische und internationale Legitimität zu verschaffen und um konservative, nach Moskau orientierte Kräfte im eigenen Lager zu neutralisieren. Doch dieselbe Nomenklatura realisierte recht schnell, daß die Entwicklung der Zivilgesellschaft eine Gefahr für ihre eigene Herrschaft bedeutet. Deshalb sind in der Ukraine in den letzten zehn Jahren immer stärker werdende autoritäre Tendenzen zu beobachten. Ein kryptosowjetischer Staat, der seinem Wesen nach kein Rechtsstaat ist, versucht, sich unabhängige gesellschaftliche Institutionen unterzuordnen oder gar sie zu vernichten. Geradezu folgerichtig wurden die südöstlichen Regionen der Ukraine, wo Untertanen und nicht Bürger dominieren, zur wichtigsten Wählerschaft der Machthaber und ihrer Nomenklatura. Gerade dort erhielten die von Oligarchen gelenkten Pro-Regierungsparteien ihre größte Unterstützung bei den Parlamentswahlen 2002. Und ein Repräsentant dieser Region – des am autoritärsten strukturierten und von mafiotischen Praktiken gezeichneten Donbas – wurde zum offiziellen Kandidaten der Machthaber berufen, um ihre Erbhöfe zu sichern. Gleichzeitig wählten die ukrainischen Machthaber eine perfide, auf ihre Weise jedoch sehr effektive Taktik, die noch aus der Sowjetunion stammt und in sowjetischen Denkmustern verankert ist: Die Opposition wurde so dargestellt, als handelte es sich nicht um Demokraten, sondern um „Nationalisten“. Sie wurde als „regionale“ und „extremistische Kraft“ diffamiert, um sie zu marginalisieren. Im gleichen Atemzug versuchten die Machthaber, für sich die „zentristische Nische“ zu monopolisieren. Somit ähnelt der Kampf zwischen der Zivilgesellschaft und dem autoritären Staat, der auf grundsätzlich unterschiedliche Werte zurückgeht, auch in diesem Sinne den osteuropäischen Revolutionen von 1989. Dieser Kampf zwischen autoritärem Staat und Zivilgesellschaft wurde verschleiert als ein banaler Gegensatz zwischen unterschiedlichen Regionen, zwischen konkurrierenden Clans, zwischen verschiedenen Ethnien oder Sprachgruppen oder gar internationalisiert als Kampf zwischen „Amerika“ und „Rußland“. Zum Glück für die Ukraine und die internationale Gemeinschaft ging diese Taktik nur bedingt auf. Dennoch ist eine gewisse Zurückhaltung in zahlreichen Schichten der ukrainischen Gesellschaft und in der internationalen Gemeinschaft gegenüber der ukrainischen demokratischen Bewegung und ihrem Führer Viktor Juščenko festzustellen. Inwieweit ist diese Zurückhaltung berechtigt? Und was ist von diesen Neulingen in Europa zu erwarten? Statt einer Prognose „Juščenko ist kein Nationalist.“ Diesem Urteil stimmen angeblich sogar seine erbitterten Gegner zu, nicht ohne zu ergänzen: „Juščenko selbst – nicht. Aber seine Umgebung …“. Umgebung ist ein ziemlich diffuser Begriff. Die Wahlallianz Naša Ukraïna (Unsere Ukraine) besteht aus einhundert Parlamentsabgeordneten unterschiedlicher Nationalität und politischer Orientierung. Die Hälfte wurde über Parteilisten gewählt, die andere Hälfte gewann ein Direktmandat und hat sich der parlamentarischen Fraktion Naša Ukraïna erst nach den Wahlen angeschlossen. Wie jedes Zweckbündnis ist Naša Ukraïna sehr heterogen. Bei weitem nicht alle Mitglieder lösen bei einem überzeugten Liberalen Sympathie aus – und das ist ganz richtig so. Doch in der Führung der Allianz sind keine eifernden Nationalisten, Antisemiten, Russophobe oder Extremisten zu finden. Es handelt sich um ein relativ gemäßigtes Milieu, das sich aus Wirtschaft, Diplomatie und anderen Kreisen rekrutiert und fähig ist, die Macht zu übernehmen und das Land kompetent zu leiten. Denselben Eindruck hinterläßt das Programm von Naša Ukraïna, das im Mai 2002, gleich nach den Parlamentswahlen vorgelegt wurde, mit der Hoffnung eine zentristische Mehrheit zu erreichen und dementsprechend eine Koalitionsregierung zu bilden. Was Juščenko betrifft, so leitete er fünf Jahre erfolgreich die Nationalbank, insbesondere auch in dem fatalen Jahr 1998, als infolge des Finanzkollaps in Rußland die ukrainische Währung Hryvna zwar schwankte, aber nicht zusammen mit dem rußländischen Rubel in den Abgrund stürzte. Zu verdanken war dies in großem Maße der Kompetenz des Leiters der Notenbank. Als Ministerpräsident von 1999 bis 2001 hauchte er der halbtoten ukrainischen Wirtschaft wieder Leben ein, zerstörte mehrere Strukturen der Schattenwirtschaft. Dafür bezahlte er letztlich mit seinem Posten. Juščenko beseitigte den Barterhandel, zahlte die astronomischen Renten- und Gehaltsschulden aus, reduzierte die Auslandsschulden und setzte eine Reihe unumkehrbarer Reformen durch, deren Folgen bis heute zu spüren sind. Eine überzeugende Charakterisierung von Juščenko bietet ausgerechnet eine Episode, die von dem wachsamen Major Mykola Melnyčenko aufgezeichnet wurde. Eine Person, die Kučma ähnelt, hört einer anderen Person zu, die an den Chef der Steuerverwaltung Mykola Azarov erinnert. Azarov beklagt sich über Juščenko, daß dieser relevante Dokumente nicht unterzeichnen wolle, obwohl es eine mündliche Anweisung vom Präsidenten gebe. „Tja“, seufzt bitter der Präsident, „er ist einfach nicht so, wie wir dachten.“ Selbst wenn die persönliche Anständigkeit Viktor Juščenkos einzige Tugend wäre, würde das reichen, um mit ihm bestimmte Hoffnungen verbinden zu dürfen – zu selten ist dieser Charakterzug in der Politik anzutreffen, besonders in der postsowjetischen. Natürlich sind Viktor Juščenko und Naša Ukraïna die Kinder einer bestimmten Zeit. Sie gehören auch einem spezifischen sozialen Milieu an. In diesem Sinne haben sie ihre unvermeidlichen Beschränkungen und Mängel. Doch es ist zur Zeit das Beste, was es in der postkommunistischen ukrainischen Politik gibt. Zweifellos ist es eine Chance auf eine menschlichere, klügere und gerechtere Gesellschaft. Das Modell dieser Gesellschaft sehen Juščenko und seine Anhänger nicht in Rußland, sondern in Europa. Das ist der Grund, weshalb sie in bestimmten Kreisen den Ruf als „Russophobe“ haben. Aus dem Ukrainischen von Sofija Onufriv, L’viv

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