Titelbild Osteuropa 1/2004

Aus Osteuropa 1/2004

Editorial
Kontinentaldrift

Manfred Sapper, Volker Weichsel

(Osteuropa 1/2004, S. 3–4)

Volltext

Wenn die Indizien nicht trügen, sind wir Zeugen einer europäischen Kontinentaldrift besonderer Art. Die ostmitteleuropäischen Staaten vollenden im Mai 2004 durch den Beitritt zur EU ihre „Rückkehr nach Europa“, zu der sie vor anderthalb Jahrzehnten mit der Forderung nach mehr Demokratie und Freiheit aufgebrochen waren. Diese Europäische Union der 25 Mitglieder wird eine andere sein als bisher. Die Ostmitteleuropäer haben nun eine Stimme im europäischen Chor. Welche Gestalt die EU annehmen wird, wie Entscheidungen getroffen werden, welche Institutionen wie zu reformieren sind, das alles bleiben offene Fragen. Doch Demokratie, Öffentlichkeit, Legitimität und Rechtsstaatlichkeit stehen auf der Agenda in Brüssel und in den Mitgliedsstaaten. Gleichzeitig driftet Rußland politisch in die andere Richtung. Die Wahlen zur Staatsduma vom 7. Dezember gelten als Ende einer Epoche. Das Putinsche Modell der gelenkten Demokratie ist so perfekt exekutiert worden, daß der Demokratie dasselbe Schicksal zu widerfahren droht: „Eine perfekt gelenkte Demokratie ist so dysfunktional, daß sie niemand mehr braucht. Selbst der nicht, der sie geschaffen hat.“ Das ist der illusionslose Befund des Moskauer Journalisten Maksim Sokolov auf den folgenden Seiten. Diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ in Europa stellt Osteuropa vor neue Herausforderungen. Einerseits gilt es als primäre Aufgabe, die politischen Entwicklungen im Osten des Kontinents analytisch zu begleiten. Andererseits sind die europäischen Integrationsprozesse in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur aufzunehmen, zu vermitteln und zu erklären. Diese Bandbreite abzudecken, ist die Aufgabe einer interdisziplinären Zeitschrift. Das vorliegende Heft leistet dies auf exemplarische Weise: Neben dem erwähnten Kommentar aus russischer Feder beleuchten zwei weitere Beiträge Aspekte und Implikationen der gelenkten Demokratie in Rußland. Doch geprägt wird das Heft von einer kulturellen Annäherung an das neue Europa über die Literatur. Hier gilt es zu fragen, woraus sich die Renaissance des Mitteleuropa-Topos bei den erfolgreichen Schriftstellern Andrzej Stasiuk und Jurij Andruchovyč speist, oder wie in der polnischen Literatur das Trauma der Shoah verarbeitet wird. Das sind Beiträge für jene Osterweiterung des europäischen Denkens, vor der die westeuropäische Öffentlichkeit noch steht und der Osteuropa verpflichtet ist. Damit ist der Kurs abgesteckt, den die Zeitschrift auch in diesem Jahr zu verfolgen gedenkt. Jedes zweite Heft wird ein Themen- oder Schwerpunktheft sein. Die Februar-Ausgabe ist Belarus gewidmet, dann folgen Themenhefte zur EU-Osterweiterung und zu Energiepolitik in Gesamteuropa. Und eine Drift in eigener Sache gibt es ebenfalls zu vermelden. Osteuropa hat einen neuen Partner. Seit dem 1. Januar 2004 erscheint die Zeitschrift im Berliner Wissenschafts-Verlag. Im Laufe des Jahres erhält Osteuropa ein neues Erscheinungsbild. Die alte Dame der deutschen Osteuropaforschung hat sich zu einem moderaten Face-Lifting entschlossen. Und aufgrund technischer Umstellungen in der Redaktion erscheint das vorliegende Heft später als üblich. Das bitten wir zu entschuldigen.