Das Jahr 1989 in Ostmittel- und Osteuropa


Das Jahr 1989 in Ostmittel- und Osteuropa

Wie in der DDR so ging im Jahr 1989 überall in Ostmitteleuropa nach 40 Jahren die kommunistische Einparteienherrschaft zu Ende. Überall zwischen Ostsee und Schwarzem Meer waren es die gleichen Forderungen, denen die autoritäre Staatsmacht nichts mehr entgegenzusetzen hatte: Freiheit, Demokratie, Bürgerrechte und nationale Selbstbestimmung. Die Ausgangslage, die treibenden Kräfte, und der Gang der Ereignisse unterschieden sich jedoch erheblich.

In Polen rang eine Massenbewegung, die Gewerkschaft Solidarność, zehn Jahre mit dem Staat, bevor beide im Frühjahr 1989 am Runden Tisch einen Übergang zur Demokratie aushandelten. In der Tschechoslowakei hatte nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968 nur eine kleine Gruppe von Bürgerrechtlern die Anpassung verweigert. Noch im Herbst 1989 schien die Kommunistische Partei fest im Sattel zu sitzen. Doch im November brach das Regime in nur zehn Tagen zusammen. In Ungarn hatte die Arbeiterpartei bereits seit den 1970er Jahren der Gesellschaft manche Freiheiten gelassen. Dies ermöglichte 1989 die Selbstabschaffung der Diktatur per Gesetz. Ganz anders in Rumänien: Zwar protestierten auch dort im Winter 1989 Zehntausende gegen die rücksichtslose Herrschaft von Nicolae Ceauşescu. Doch kommunistische Funktionäre aus der zweiten Reihe stürzten den Diktator, ergriffen die Macht und schlugen alle weiteren Proteste nieder. Bis erstmals freie Wahlen stattfanden, dauerte es weitere Jahre.

Auch in der Sowjetunion war das Jahr 1989 nur eine Zwischenstation. Die Parteiführung unter Michail Gorbatschow hatte mit einer neuen Außenpolitik ab Mitte der 1980er Jahre den Umbruch in Ostmitteleuropa erst möglich gemacht. Auch im Land selbst wurde die Politik weniger repressiv. Vor allem in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie in Georgien nutzten dies Volksbewegungen, die 1989 offen nationale Selbstbestimmung forderten. Die Entscheidung fiel erst 1991: Nach einem gescheiterten Putsch setzten sich in Moskau Kräfte durch, die an einem gewaltsamen Erhalt der Sowjetunion kein Interesse hatten. Der Vielvölkerstaat löste sich auf, 15 neue Staaten erschienen auf der Landkarte Europas.

„Samtene Revolutionen“ – der Verzicht auf Gewalt

Der Umbruch im Jahr 1989 war ein friedlicher. Nichts hebt die Ereignisse in Ostmitteleuropa so sehr aus der Geschichte der Revolutionen heraus wie ihr gewaltfreier Verlauf. Die kommunistischen Regime ließen nicht auf Demonstranten schießen, um ihre Macht zu verteidigen; die siegreichen Kräfte übten keine Rache für die Jahrzehnte der Unterdrückung; rivalisierende Gruppen trugen ihren Konkurrenzkampf nicht mit Waffen aus. Dies war alles andere als selbstverständlich: 1956 hatte die sowjetische Armee den Aufstand in Ungarn niedergeschlagen; 1968 unterdrückten Truppen des Warschauer Pakts unter sowjetischer Führung die reformsozialistische Bewegung in der Tschechoslowakei; in Polen waren 1956, 1970 und 1976 Revolten erstickt worden und 1981 hatte General Jaruzelski das Kriegsrecht ausgerufen.

Auch 1989 war der Gewaltverzicht keineswegs selbstverständlich. So wie die DDR-Führung erwogen hatte, die Demonstration in Leipzig am 9. November 1989 gewaltsam aufzulösen, so waren am 21. November Einheiten der tschechoslowakischen Volksmiliz nach Prag gebracht worden. Doch sie wurden nicht eingesetzt. Die herrschenden Parteien verzichteten einfach auf ihren Machtanspruch, schrittweise wie in Polen und Ungarn, oder in einem plötzlichen Kollaps wie in der Tschechoslowakei. Erheblich dazu beigetragen hat, dass die Demonstranten selbst Gewaltverzicht zu ihrem Programm gemacht hatten. Die Sammlungsbewegung in der Slowakei drückte es bereits in ihrem Namen aus: „Öffentlichkeit gegen Gewalt“.

Entscheidend aber war, dass die Sowjetunion den Parteiführungen in Ostmitteleuropa die Unterstützung entzogen hatte. Sie mussten fürchten, einen gewaltsamen Kampf gegen das aufgebrachte Volk zu verlieren und später zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dass die Geschichte auch anders hätte verlaufen können, zeigt der Blick nach Rumänien. Dort kamen im Dezember 1989 bei Schusswechseln in Timişoara und Bukarest über 1000 Menschen ums Leben, der Diktator und seine Ehefrau wurden nach einem kurzen Schauprozess hingerichtet. Auch in Georgien (April 1989) und Litauen (Januar 1991) gab es je mehr als ein Dutzend Tote, als sowjetische Einsatzkräfte Demonstrationen auflösten.

Die Macht der Ohnmächtigen – die Bürgerrechtsbewegungen

Adam Michnik und Lech Wałęsa, Václav Havel, Anna Šabatová und Miroslav Kusý, György Konrád und Ágnes Heller, Ljudmila Alexejewa, Andrej Sacharov und Tomas Venclova. Zehn Namen, die für Tausende weitere stehen. Frauen und Männer, Schriftsteller, Elektromechaniker und Atomphysiker, Menschen der unterschiedlichsten Herkunft schlossen sich in katholischen Zirkeln, Arbeiterkomitees und Diskutierklubs zusammen. Sie wurden entlassen, verhaftet, verbannt, ins Exil getrieben. Sie hatte nichts als ihren unbeugsamen Glauben an die Freiheit des Einzelnen und die Macht der historischen Wahrheit.

Und sie hatten eines gemeinsam: Sie beriefen sich auf das Recht und maßen die kommunistischen Regime an deren eigenen Ansprüchen. Diese waren in den Verfassungen niedergelegt, vor allem aber hatten sich die kommunistischen Staaten Osteuropas in der KSZE-Schlussakte von 1975 auf die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten verpflichtet. Darauf berief sich die Charta 77 in der Tschechoslowakei ebenso wie die Helsinki-Komitees, die in mehreren Republiken der Sowjetunion gegründet wurden.

Überall im kommunistischen Ostmittel- und Osteuropa blieben die Bürgerrechtsbewegungen kleine Gruppen. Ihre Schriften, die sie wegen der Zensur unter großen Risiken im Selbstverlag (Samizdat) publizierten, erreichten nur kleine Teile der Bevölkerung. Nur in Polen war die Lage ganz anders. Dort hatte die Gewerkschaft Solidarnść Mitte der 1980er Jahre zehn Millionen Mitglieder – die größte soziale Bewegung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Bürgerrechtler hätten die kommunistische Herrschaft alleine nicht zu Fall bringen können, schon gar nicht, wenn die Regime entschlossen gewesen wären, ihre Macht um jeden Preis zu erhalten. Zum Umbruch kam es erst, als 1989 Hunderttausende auf die Straßen gingen. Doch sie hatten die Ideen und den Mut des Jahres 1989 vorweggenommen und konnten die Hoffnungen der Menschen in einem historischen Augenblick bündeln. Nichts zeigte dies so eindrücklich wie die Wahl des erst Monate zuvor aus dem Gefängnis entlassenen Václav Havel zum Präsidenten der Tschechoslowakei.

„Rückkehr nach Europa“

40 Jahre war Europa geteilt. Mauern, Stacheldraht, Minenfelder, Selbstschussanlagen und Grenzsoldaten hatten die Menschen im kommunistischen Osten daran gehindert, sich ein eigenes Bild vom Leben im anderen Teil des Kontinents zu machen. So ließen sich 1989 all die Hoffnungen und Sehnsüchte, die in den Jahrzehnten der kommunistischen Diktatur gewachsen waren, auf eine kurze Formel bringen: „Rückkehr nach Europa!“ Gemeint war Reisefreiheit, Religionsfreiheit, Berufsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, und nicht zuletzt, angesichts von Mangelwirtschaft und Umweltzerstörung: bessere Lebensverhältnisse.

Die Formel brachte auch einen Anspruch zum Ausdruck. Von Talinn bis nach Bukarest, in Vilnius ebenso wie in Warschau und Prag reklamierte man die Zugehörigkeit zu Europa als historisches Recht. So hatte sich 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein neues Geschichtsbild durchgesetzt. Die kommunistischen Parteien hatten ihren Machtanspruch seit 1945 auch damit begründet, dass sie unter der Führung der Sowjetunion den Osten des Kontinents vom nationalsozialistischen Deutschland befreit hatten, das aus der Mitte Europas Vernichtung und Zerstörung gebracht hatte. „Rückkehr nach Europa“ konnte nur deswegen zur Formel des Jahres 1989 werden, weil die Menschen in Ostmitteleuropa nicht mehr glaubten, dass von Deutschland eine Gefahr für sie ausgeht. Der tschechische Dissident Jiří Dienstbier etwa hatte 1985 in einer Schrift mit dem Titel „Träumen von Europa“ formuliert, dass man sich vor einer Wiedervereinigung Deutschlands nicht fürchten dürfe, wenn man das Ende der sowjetischen Vorherrschaft in Ostmitteleuropa wünsche.

Doch das Umdenken hatte auch die Sowjetunion erreicht. Parteichef Gorbatschow sprach von einem gemeinsamen Haus Europa. So wurde im November 1990, ein Jahr nach den friedlichen Revolutionen in Ostmitteleuropa und der Öffnung der Grenzen, mit der „Charta von Paris“ das Ende des Ost-West-Konflikts und der Teilung Europas in einem Vertrag besiegelt.

„Wir sind das Volk“

Demokratie war eine zentrale Forderung von 1989. Doch wer ist das Volk, von dem die Herrschaft ausgehen soll? Als die kommunistische Repression nachließ, entstanden überall im Osten Europas nationale Bewegungen. In ihnen versammelten sich Menschen, die sich aufgrund ihrer Sprache, ihres Glaubens, ihrer Erinnerung an historische Ereignisse nicht von jenem Staat vertreten fühlten, in dem sie lebten. Besonders groß waren diese Bewegungen im Baltikum. Estland, Lettland und Litauen waren in der Zwischenkriegszeit unabhängige Staaten gewesen, die Sowjetunion verleibte sie sich im Zweiten Weltkrieg ein. Vorausgegangen war ein Geheimabkommen zwischen dem Deutsche Reich und der Sowjetunion, in dem die beiden totalitären Staaten Osteuropa in Einflusszonen aufteilten. Am 26. August 1989, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts, bildeten zwei Millionen Menschen eine 600 Kilometer lange Menschenkette von Vilnius über Riga nach Tallinn, um für die Wiedererrichtung ihrer Nationalstaaten zu demonstrieren. Auch in Georgien, der Ukraine und Belarus forderten Nationalbewegungen mehr Autonomie oder die Unabhängigkeit von Moskau.

Die „nationale Wiedergeburt“ führte nicht nur zum Ende der Sowjetunion. In der Slowakei spielte die nationale Idee eine zentrale Rolle beim Umbruch von 1989. Von der in diesem Jahr errungenen Demokratie führte ein direkter Weg zur staatlichen Unabhängigkeit: Nach freien Wahlen 1992 lösten Tschechen und Slowaken den gemeinsamen Staat auf. Nicht zufällig waren es Ungarn, das im Mai 1989 begann, die Grenzanlagen zu Österreich abzubauen und der Teilung Europas ein Ende zu setzen: Gut zwei Millionen Ungarn leben in den Nachbarstaaten Ungarns. Ein Europa ohne Grenzen sollte diese Trennung überwinden.

Während die Auflösung der Sowjetunion weitgehend friedlich verlief und die im Jahr 1989 erhobenen nationalen Forderungen später in europäische Abkommen über Minderheitenrechte eingingen, führten konkurrierende Herrschafts- und Territorialansprüche in Jugoslawien zum Krieg. Alleine in Bosnien und Herzegowina kamen zwischen 1992 und 1995 über 100 000 Menschen ums Leben.

Protest gegen Umweltzerstörung

Weite Teile des kommunistischen Osteuropa waren im Jahr 1989 von einer verheerenden Umweltzerstörung gekennzeichnet. Vielerorts waren nach vier Jahrzehnten rücksichtsloser Ausbeutung die natürlichen Lebensgrundlagen erschöpft. Millionen Menschen litten unter der Luftverschmutzung, die das Heizen und die Stromgewinnung mit Braunkohle verursachten. Die Flüsse waren vergiftet, die Wälder starben. Staudammprojekte in Sibirien und die Braunkohleförderung in Ostdeutschland und Nordböhmen hatten ganze Landschaften verschwinden lassen. Die Staatsmacht verschwieg die Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und unterdrückte die Diskussion über Alternativen.

Auch die Sowjetführung wollte den Atomunfall im nordukrainischen Tschernobyl im Jahr 1986 zunächst kaschieren. Doch das Ausmaß der Katastrophe war zu groß, sie ließ sich nicht geheim halten. Das ökologische Desaster und die Politik der Vertuschung unterminierten das Vertrauen in die kommunistische Herrschaft. So entstand nicht zuletzt bei der Suche nach der Wahrheit über die Umweltzerstörung jene Zivilgesellschaft, die 1989 ihre Stimme erhob.

Meist war der Umweltfrage eng mit der nationalen Frage und zwischenstaatlichen Konflikten verbunden. In Ungarn protestierten viele Menschen gegen ein geplantes slowakisches Wasserkraftwerk an der Donau. In Bulgarien war das 1988 gegründete „Komitee für den Schutz von Russe“ eine der ersten zivilgesellschaftlichen Organisationen. Es forderte, dass die Vergiftung der nordbulgarischen Stadt durch ein Chemiewerk im benachbarten Rumänien beendet werde. In Litauen verknüpfte die Bewegung Sąjūdis die Forderung nach einer Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen mit dem Protest gegen den Bau eines dritten Reaktors im Atomkraftwerk Ignalina. Auch in der Ukraine und in Belarus brachten die Volksbewegungen der späten 1980er Jahre die ökologische Frage in Zusammenhang mit dem Widerstand gegen Fremdherrschaft.

30 nach ’89

Das Jahr 1989 hat Europa fundamental verändert. Mit der Überwindung der kommunistischen Herrschaft ging die Teilung des Kontinents zu Ende. Das von der Sowjetunion dominierte Militärbündnis des Warschauer Pakts wurde aufgelöst, die sowjetischen Soldaten aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und Ostdeutschland abgezogen. Auch die Wirtschaftsgemeinschaft der sozialistischen Staaten, der RGW, wurde abgewickelt. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands verschwand ein Staat, 15 neue entstanden mit der Auflösung der Sowjetunion. Zwei weitere kamen mit der Teilung der Tschechoslowakei hinzu. Jugoslawien zerfiel in fünf Staaten, später kamen Montenegro und Kosovo hinzu.

15 Jahre nach 1989 traten im Jahr die drei baltischen Staaten, die vier ostmitteleuropäischen Staaten und das einst zu Jugoslawien gehörende Slowenien der Europäischen Union bei. Drei Jahre später folgten die beiden südosteuropäischen Staaten Rumänien und Bulgarien, 2011 Kroatien. Alle übrigen Staaten des Balkans führen mit der EU Gespräche oder bereits Verhandlungen über einen Beitritt. Bis auf Bosnien-Herzegowina, Serbien und Nord-Makedonien sind alle diese Staaten auch der NATO beigetreten. Unter den Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben die Ukraine und Georgien enge Beziehungen zur EU aufgebaut. Auch die europäischen Gesellschaften sind durch Handel, Arbeitsmigration, Auslandsstudien, Jugendaustausch und Tourismus zusammengewachsen.

30 Jahre nach dem welthistorischen Umbruch ist das Erbe des friedlichen Umbruchs von 1989 jedoch nicht mehr unangefochten. Russland hat die Idee, Teil des „gemeinsamen Hauses“ Europa zu werden, fallengelassen. Moskau will einen eigenständigen Machtpol im Osten des Kontinents bilden und beansprucht den postsowjetischen Raum als Zone privilegierten Einflusses. In Russland, in geringerem Maße aber auch in einigen ostmitteleuropäischen Staaten, wird das Erbe des Jahres 1989 in Frage gestellt: politische Machtbeschränkung durch Gewaltenteilung sowie eine freie und pluralistische Gesellschaft.

Autor: Volker Weichsel
Die sieben Texte wurden verfasst für das Projekt 30 Jahre Friedliche Revolution, einem Berliner Festival an sieben Tagen und sieben Orten zum 1989. Sie sind vom 4.-10.11.2019 am Brandenburger Tor in einem Programmpavillon zu sehen.

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