„Für ganz Belarus werden die Bajonette nicht reichen“

Bröckeln die Reihen der Staatsmacht, welche Rolle spielt Moskau, welche Auswege aus dem Konflikt in Belarus gibt es? Anatoli Kotov war stellvertretender Abteilungsleiter in der Kanzlei des Präsidenten. Mitte August hat er den Dienst quittiert. Die Staatsmacht hatte eine Grenze überschritten. An dieser Gesetzlosigkeit wollte er nicht beteiligt sein. Er hat seine Entscheidung öffentlich gemacht. Das Portal Meduza hat mit ihm gesprochen, Osteuropa dokumentiert das Gespräch.

Herr Kotov, wie verlief Ihre Laufbahn im Staatsdienst?

Kotov: Angefangen habe ich im Außenministerium, zunächst in der Zentrale in Minsk, in der Rechtsabteilung. Dann wurde ich als Sekretär der Handelsabteilung an die Botschaft in Polen beordert. Später wurde ich noch ein zweites Mal nach Polen geschickt, als Leiter der politischen Abteilung. Eine Zeit lang habe ich als Leitender Berater in der Außenpolitischen Abteilung der Präsidialverwaltung gearbeitet, einige Jahre war ich auch beim Nationalen Olympischen Komitee. Formal ist das NOK natürlich keine staatliche Organisation. Da es aber von zentraler Bedeutung für den Sport ist, steht an der Spitze der Präsident. Ich war dort stellvertretender Direktor der Sektion, die die Europäischen Spiele in Minsk im Jahr 2019 vorbereitet hat. Danach habe ich beim Verband für Cybersicherheit gearbeitet, einer gemeinsamen Plattform der wichtigsten IT-Unternehmen in Belarus. Dort war ich allerdings nur kurz, dann bin ich in den Staatsdienst zurückgekehrt. Zuletzt war ich stellvertretender Abteilungsleiter in der Präsidialkanzlei.

Auf allen diesen Posten ging es auf die eine oder andere Weise immer um das Verhältnis von Belarus zur Außenwelt. In der Präsidialverwaltung waren es die Beziehungen zu den lateinamerikanischen und afrikanischen Ländern, ein wenig auch zu europäischen Staaten, vor allem zu Polen, denn damit hatte ich mich ja lange beschäftigt. In der Präsidialkanzlei war ich mit Außenwirtschaftskontakten befasst.

Haben Sie Aljaksandr Lukašenka persönlich getroffen?

Kotov: Wir sind uns einige Male bei Veranstaltungen mit Sportlern begegnet, aber ein direktes Gespräch gab es da nicht. Zur seiner Person kann ich daher nichts sagen. Außer, dass er tatsächlich ein guter Redner ist und Charisma hat. Er weiß, wie man ein Publikum lenkt. Mit den meisten Ministern und Abteilungsleitern in der Präsidialverwaltung hatte ich aber unmittelbar zu tun.

Und Sie standen immer loyal zur Staatsführung?

Kotov: Sagen wir es so: Ich bin nicht aus dem Staatsdienst ausgeschieden, um mich der Opposition anzuschließen. Mit war es immer wichtig, dass meine Arbeit etwas bewirkt und dass ich in meinem Bereich arbeiten kann. Es gibt Ziele, und es gibt Mechanismen, wie man diese erreicht.

Es klingt zynisch, aber meiner Ansicht nach war ein Wahlsieg [von Lukašenka] durchaus realistisch. Aber die Sache wurde extrem unprofessionell angegangen. Bislang hatte das Volk in der Auseinandersetzung zwischen der Staatsführung und der Opposition immer auf der Seite der Staatsführung gestanden. Jetzt steht es erstmals für sich, gegen Opposition und Staatsführung – die traditionelle Opposition hat ja bei den Wahlen kaum eine Rolle gespielt. Das hätte man verhindern können, und damit auch alles, was danach kam. Hätte mir vor einem halben Jahr jemand gesagt, dass in Belarus Dinge passieren würden, wie sie jetzt passiert sind, ich hätte ihm einen Vogel gezeigt. Aber die politische Führung hat in den vergangenen sechs Monaten eine ganze Reihe fataler Fehler gemacht, und das Ergebnis sehen wir heute auf den Straßen unserer Städte.

Was im August 2020 passiert ist, ist furchtbar. Die mangelnde Professionalität der Staatsführung hat schreckliche Folgen nach sich gezogen, Dinge, wie sie das moderne Belarus noch nicht gesehen hat. Man muss bis zum Großen Vaterländischen Krieg zurückgehen, wenn man etwas Vergleichbares sucht. Für mich sind diese Ereignisse absolut inakzeptabel. Wenn das Opposition ist, dann bin ich in der Opposition. Aber ich sehe es lieber so: Ich stehe auf der Seite des Volks.

Heißt das, dass Sie den Kurs, den die gegenwärtige Staatsführung bis zu den Wahlen 2020 eingeschlagen hatte, weiter für richtig halten?

Kotov: Nein, so würde ich das nicht sagen. Ich war immer ein Befürworter einer rationalen Entwicklung für unser Land. Was jetzt geschieht, ist das genaue Gegenteil.

Alles davor war aus Ihrer Sicht rational?

Kotov: Ich habe gesehen, dass sich die Außenpolitik in die richtige Richtung bewegt und mich dafür auch engagiert: Bereitschaft zum Dialog und zu Verhandlungen mit verschiedenen Seiten, eine Orientierung in mehrere Richtungen und eine Öffnung des Landes. Die Durchführung der Europäischen Spiele in Belarus, das war ein Projekt, das ich mit großem Enthusiasmus verfolgt habe. Einen gewissen Prozentsatz an Pfusch und Bizarrem fand ich akzeptabel, schließlich bewegten wir uns in die richtige Richtung. 2015 war die Lage besser als 2010 und 2018 besser als 2015. Das Jahr 2019 war ein Traumjahr für das internationale Image von Belarus. Die Europäischen Spiele. Zum ersten Mal schaut ganz Europa, nahezu die gesamte Welt, auf unser Land. Alles läuft hervorragend. Sportler und offizielle Delegationen kommen nach Belarus, dazu die Fans, von denen viele das erste Mal im Leben in Minsk sind. Ein Triumph der Sportdiplomatie.

Aber wenn die jüngsten Ereignisse das sein sollen, wofür wir diese Fortschritte gemacht haben, dann bin ich kategorisch gegen diesen Kurs. Daran will ich mich in keiner Weise beteiligen. Ich verstehe nicht, wie man im 21. Jahrhundert in einem absolut europäischen Land unbewaffnete Bürger umbringen kann, eine riesige Zahl von ihnen verprügeln und foltern, und dann nicht einmal den Versuch unternimmt, sich zu entschuldigen. Da ist für mich eine Grenze überschritten.

Der Gesellschaft wurde ein schweres Trauma zugefügt. Siebentausend Menschen haben in den drei Tagen nach der Wahl Polizeireviere und Justizanstalten von innen gesehen. Diese Zahl muss man mit der Zahl der Familienangehörigen der Verhafteten multiplizieren. 450 Menschen haben schwere Verletzungen erlitten, und auch hier kommen die Angehörigen dazu, die von dieser Katastrophe mitbetroffen sind. Für sie wird Belarus nie wieder jenes friedliche Land sein, das es einmal war.

Wenn man zehn oder fünfzehn Menschen einen Schrecken einjagt, dann ist das keine kritische Masse. Aber wenn die Gewalt ein bestimmtes hinnehmbares Maß überschreitet, kann man die Paste nicht mehr in die Tube zurückdrücken. Es bedarf jetzt eines ernsthaften Plans für eine nationale Versöhnung. Man kann eine solche Masse unzufriedener Menschen nicht einfach weiter regieren, ehe man sich nicht wenigstens entschuldigt hat. Aber von wegen entschuldigen … Wer heute Anzeige erstattet, weil er verprügelt wurde, gegen den wird ein Strafverfahren eröffnet. Für mich als Juristen ist das ein Super-Gau des Rechtsstaats. Das ist mehr als nur ein Spiel nach etwas anderen Regeln, das ist die totale Gesetzlosigkeit.

Der Staat hat das Gewaltmonopol. Eine Grundregel aller politischen Theorien. Aber der Gewalt müssen gewisse Grenzen gesetzt sein. Diese sind auch in Belarus festgelegt: Folter ist verboten, die Anwendung von „Sondermitteln“ ist reglementiert. Wenn diese Regeln offen ignoriert werden, dann ist das eine neue Lage. Damit will ich nichts zu tun haben. Wenn dies das Ergebnis der Entwicklung der vergangenen Jahre ist, dann haben wir den falschen Weg eingeschlagen.

Unser Außenminister hat jüngst in einer Erklärung darum gebeten, Belarus Zeit für eine innere Transformation zu geben. Wir hatten sehr viele solcher Chancen, aber wir haben sie nicht genutzt. Man muss den Mut haben anzuerkennen, dass das gegenwärtige System nicht reformierbar ist. Ich habe keine andere Erklärung dafür als die, dass es an professionellem Personal mangelt. In den vergangenen Jahren ist eine Generation von Staatsbeamten herangewachsen, die nichts kann, als „Jawohl“ sagen und die Hacken zusammenschlagen. So kann das nicht funktionieren. Wenn ein Land keinen Bedarf an einem vernünftigen klassischen Management hat, dann braucht man sich über solche Ergebnisse nicht zu wundern.

Wann haben Sie gemerkt, dass sich die Qualität des Regierens verschlechtert?

Kotov: Zwischen 2010 und 2015 hatte ich das Gefühl, dass es in der politischen Führung Leute gibt, denen nicht egal ist, was sie tun, die Bewegung wollen, etwas Kreatives. Es gab sogar eine Menge Leute, die aus dem Ausland zurückkamen, um in den Staatsdienst einzutreten. Sie wollten sich selbst verwirklichen, indem sie das Land vorwärtsbringen. In dieser Zeit blühte auch der belarussische IT-Sektor auf. Um mich herum gab es viele Leute, die eine moderne europäische Ausbildung genossen hatten.

Als ich 2020 in den Staatsdienst zurückkehrte, sah ich, dass sich etwas verändert hatte, und nicht zum Besseren. Der ehemalige Chefredakteur der Zeitung Sovetskaja Belarus’ Pavel Jakubovič hat diese Krise des Regierens in einem längeren Artikel auf eine gezielte negative Selektion in der belarussischen Nomenklatur zurückgeführt.

Zu Jakubovič kann man so oder so stehen, er galt immer als Hüter der belarussischen Staatsideologie. Aber man kann nicht leugnen, dass er ein kluger Mann ist und das System seit der sowjetischen Zeit im Blick hat. Wenn ein solches politisches Urgestein sagt, dass die Krise aufgrund der Kaderpolitik der vergangenen drei-vier Jahre entstanden ist, dann ist das eine These, die man zumindest in Betracht ziehen muss. Ich persönlich teile diese Ansicht.

Stimmt es, dass der Anfang dieser Entwicklung die Ernennung von Natal’ja Kočanova zur Leiterin der Präsidialverwaltung war?

Kotov: Genau das schreibt Jakubovič, ja: Seitdem ist es mit dem Personal bergab gegangen.

Warum ist der Präsident, der sonst stets in allen Angelegenheiten des Staates die Finger im Spiel hatte, plötzlich aus dem Tritt gekommen und hat das Management ineffizienten Leuten überlassen?

Kotov: Das ist schwer zu sagen. Viele führen es darauf zurück, dass er von Leute umgeben war, die ihm Honig ums Maul geschmiert haben.

Leute, die aus dem Staatsdienst ausgeschieden sind, nennen in diesem Zusammenhang die Pressesprecherin des Präsidenten Natal’ja Ėjsmont, die Damen aus der Protokollabteilung und Kočanova. Würden Sie sich dem anschließen?

Kotov: Wenn ich der einzige wäre, der das sagt, bräuchte man es nicht ernst zu nehmen, denn ich bin bei weitem kein Veteran und kein Schwergewicht in diesem System. Aber wenn zehn verschiedene Leute mir das gleiche sagen, dann scheint doch etwas dran zu sein. Genau dieser Niedergang hat auch dazu geführt, dass das Volk auf die Straße gegangen ist. Covid-19 und die dadurch ausgelöste Wirtschaftskrise hat uns alle betroffen. Aber was macht die Staatsführung? Sie erklärt: „Bei uns gibt es kein Corona!“, „Bei uns ist alles in Ordnung.“ Das hat die Leute aufgebracht. Warum hat die Staatsführung sich so verhalten? Ich habe keine andere Erklärung dafür als die genannte.

Wie ist die Stimmung unter den Staatsbediensteten jetzt, in der Krise? Überwiegt die Loyalität mit der Führung oder die Sympathie mit den Demonstranten?

Kotov: Im Staatsapparat gibt es immer mehrere Kategorien von Menschen. Es gibt diejenigen, die schon sehr lange dort arbeiten und sich einfach nichts anderes mehr vorstellen können. Wenn man zehn, fünfzehn Jahre in derselben Behörde arbeitet und dort auf der Karriereleiter nach oben gewandert ist, dann verengt dies das Denken. Viele dieser Leute wollen nicht einmal mehr in ihrem eigenen Feld etwas Neues lernen.

Es gibt auch solche, die persönlich an Rechtsbrüchen beteiligt waren, die Leute aus den Sondereinsatztruppen des OMON zum Beispiel, oder die Lehrer, die als Mitglieder der lokalen Wahlkommissionen falsche Zahlen in die Protokolle geschrieben haben. Diese Leute stehen mit dem Rücken zur Wand, sie fühlen sich auf die eine oder andere Weise verantwortlich für das, was geschehen ist.

Und dann gibt es Leute – zu dieser Kategorie zähle ich mich –, die wollen, dass der Staat angemessen handelt. Diese Leute gehen jetzt, denn sie haben gesehen, was die Staatsführung davon hält, wenn man eine eigene Meinung hat. Man gilt als unzuverlässig, als psychisch labil, oder als jemand, der „die Bedeutung des historischen Augenblicks“ nicht versteht. „Wir sind von Feinden umzingelt und müssen unsere Reihen schließen“, das ist die Devise. Ich dagegen bin froh, dass es solche Leute mit eigener Meinung gibt und dass sie nicht schweigen.

Wer hat sie in den letzten Wochen in diesem Sinn beeindruckt?

Kotov: Natürlich Pavel Latuško. Auch Dmitrij Semčenko ist zurückgetreten. Er hatte einen hohen Posten beim staatlichen Fernsehkanal ONT. Formal gehörte er nicht zur Präsidialverwaltung, er hat aber sehr eng mit der Leitung des Pressedienstes zusammengearbeitet. Er war einer der zentralen Leute im Pressepool des Präsidenten, faktisch der Leiter. Am selben Tag wie Semčenko ist auch Artem Proskalovič zurückgetreten, der stellvertretende Vorsitzende der Zentralen Rechtsabteilung in der Präsidialverwaltung. Ich kenne ihn nicht persönlich, aber er hat sehr lange in der Präsidialverwaltung gearbeitet und genoss dort eine riesige Autorität als Jurist ersten Ranges. Er ist von heute auf morgen gegangen, aus denselben Gründen wie alle anderen.

Erwähnen sollte man die Sportler. Es gibt einen offenen Brief mit Forderungen an die Staatsführung, den bis heute [9.9.2020] vierhundert Leute unterzeichnet haben, darunter Spitzensportler, vor denen man einfach Respekt haben muss. Unsere Marathonläuferin Ol’ga Mazurenok, die Turnerin Melitina Stanjuta, der mehrfache Weltmeister im Sambo-Ringen Stepan Popov, die Kugelstoßerin Nadežda Ostapčuk, die Spielerinnen der Basketball-Nationalmannschaft, die Schwimmerin Aleksandra Gerasimenja, die bei den Olympischen Spielen 2012 zwei Silbermedaillen gewonnen hat. Die Sportler sind die einzige Gruppe mit Einfluss auf die öffentliche Meinung, die als Kernwähler von Lukašenka galten. Mit ihnen haben sich alle identifiziert. Was die Sportler sagen, hat moralisches Gewicht, gerade für Leute, die ins Zweifeln gekommen sind.

Rücktritte gibt es auch auf der mittleren Führungsebene des Staatsapparats und der Gewaltministerien. Manche sprechen offen über ihre Gründe, andere ziehen sich diskret zurück. Aber die Welle rollt. Es sind die fähigsten Leute, die gehen. Je weniger fähige Leute in der Verwaltung arbeiten, desto schlechter wird sie funktionieren. Das System schrumpft zusammen wie das Balzacsche Chagrinleder. Unser Außenminister hat erklärt: Umso besser, wenn die Unzufriedenen gehen, auf diese Weise schließen wir unsere Reihen nur noch fester und werden widerstandsfähiger. Aber wenn wir schon mit dem Staatsapparat, wie er davor war, in die Krise geschlittert sind, dann wird dieses Ausbluten den Zusammenbruch nur beschleunigen. Es gibt intelligente Mitarbeiter, und es gibt treu ergebene. Diese beiden Kategorien fallen nicht immer zusammen. Intelligente Leute lassen sich schwerer führen, aber je mehr Ergebene es gibt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein System an seiner Inkompetenz scheitert.

Wenn die Staatsführung weiter einen Dialog mit der Gesellschaft ablehnt, kommt es dann doch noch zu der vielbeschworenen Spaltung der Eliten?

Kotov: Ich glaube nicht, dass es auf der Ebene der bekannten Köpfe im Umfeld des Präsidenten zu einer Spaltung kommt. Das sind genau die Leute, die sich in die Ecke getrieben fühlen und sich nur in eine Richtung bewegen werden.

Gibt es in Lukašenkas Umfeld Figuren, auf die sich beide Seiten einigen könnten? Nicht zuletzt aus oppositionellen Kreisen wird in diesem Zusammenhang oft der ehemalige Ministerpräsident Sjarhej Rumas ins Spiel gebracht.

Kotov: Das Staatsoberhaupt hat sich zu Rumas erst kürzlich geäußert, wenn auch indirekt. Einige „unsichere Kantonisten“ seien in den Ruhestand geschickt worden, in die Wirtschaft. Das war wie auf Rumas gemünzt. Er wurde allgemein hoch geschätzt, nicht nur weil er sich im Bankensektor als effizienter Manager bewährt hat, sondern auch wegen seines kommunikativen und respektvollen Führungsstils.

Bedeutet das, dass Rumas eine solche Kompromissfigur bleibt, oder hätte jeder Versuch, wieder in die Politik zu gehen, schwerwiegende Konsequenzen für ihn?

Kotov: In der Tat beging man in den vergangenen Jahren faktisch Selbstmord, wenn man solche rote Linien überschritt. Genau das klang kürzlich auch in einem Fernsehbeitrag über Pavel Latuška an: Lukašenka erklärte, Latuška habe eine rote Linie überschritten, ausgerechnet er, der früher fast auf Knien vor ihm herumgerutscht sei.

Es mag zynisch klingen, was ich jetzt sage: Die derzeitigen Mitglieder des Koordinationsrats der Opposition mögen in der Gesellschaft einen gewissen Rückhalt haben, aber auf der Gegenseite wird niemand auf sie hören, weil sie der Nomenklatura einfach fremd sind. Es braucht also Figuren, die vielleicht zu den Ehemaligen gehören, aber keine Abstoßungsreaktion auslösen. Aber sobald sich jemand zu weit aus dem Fenster lehnt, wird er entweder in die Emigration getrieben oder hat ein Strafverfahren am Hals.

Hat Sie die Brutalität der Einsatzkräfte überrascht?

Kotov: Ja. So etwas hatte es in Belarus vorher nicht gegeben – ganz egal, was für Geschichten über den Umgang der Sicherheitskräfte mit der Opposition kursieren. So etwas haben wir hier seit den 1940er Jahren nicht gesehen. Natürlich war es für die Leute, die es früher schon erwischt hat, auch kein Spaß, aber glauben Sie mir, so wie jetzt war es nie. Es gab Festnahmen, ja, aber die Leute wurden nicht geschlagen und erniedrigt, es gab maximalen psychologischen Druck, aber keine Folter. Ich habe keine Erklärung für diese Brutalität. Die Nibelungentreue, die der Sicherheitsapparat derzeit zur Schau stellt, kann ich mir dagegen sehr wohl erklären, das ist gerade eine Folge der Brutalität. Auf Folter stehen in unserem Land harte Strafen, bis hin zur Todesstrafe. Die Leute haben jetzt wirklich das Gefühl, dass sie mit dem Rücken zur Wand stehen.

Es ist bereits eine gesellschaftliche Spaltung im Gange: Familien und Nachbarn, die früher sehr eng miteinander umgingen, beäugen sich jetzt misstrauisch. Wenn jemand bei der Miliz arbeitet, dann wird seine Familie schon schief angeschaut. Das ist schon ein ziemlicher Druck. Schüler vertrauen ihren Lehrern nicht mehr, weil sie wissen, dass 10 plus 10 bei Marja Ivanovna 110 macht. Der Widerstand drückt sich in ganz banalen Dingen aus, die Eltern wollen zum Beispiel nicht mehr für Renovierungsarbeiten spenden.

Auf der anderen Seite verstehe ich auch die Einsatzkräfte und die Beamten sehr gut, die das alles mitgemacht haben. Für sie gibt es scheinbar keinen Weg zurück. Aber das hat es schon in vielen Ländern gegeben. Selbst dort, wo es sogenannte Lustrationen gab – ein großes Wort –, wurden nur sehr wenige Leute wirklich zur Verantwortung gezogen, der Anteil war verschwindend gering. Meist genügt es, wenn die Leute – selbst die, die sich wirklich schuldig gemacht haben – um Verzeihung bitten, manche werden auf einen niedrigeren Posten versetzt und müssen ein Diziplinarverfahren über sich ergehen lassen. Genauso muss das laufen.

Es ist ganz wichtig, an dieser Stelle nicht in irgendein Rachemuster zu verfallen. Die belarussische Gesellschaft ist wirklich überschaubar, wir müssen alle weiter miteinander leben. Ohne Versöhnung ist das nicht möglich.

Es sieht, ehrlich gesagt, auch nicht danach aus, als würde die Gesellschaft Rache fordern oder den OMON auf die Knie zwingen, wie das in der Ukraine der Fall war …

Kotov: Genau. Wir werden dauernd mit dem ukrainischen Majdan verglichen, mit den Ländern im Südkaukasus, wo es auf beiden Seiten ziemlich hart zur Sache ging. Belarus ist aber anders.

Manche nehmen an, dass Lukašenka es schaffen werde, „auf Bajonetten zu sitzen“. Der Höhepunkt der Proteste sei bereits vorbei. Wie realistisch ist das?

Kotov: Für ganz Belarus werden die Bajonette nicht reichen. Demonstrationen und Protestaktionen finden längst nicht mehr nur in Minsk statt, sondern auch an Orten, wo es früher nichts dergleichen gab. In dieser Situation ist das Land nicht mehr zu regieren. Ein Protest dieser Größenordnung lässt sich nicht einfach niederschlagen, er kann sich höchstens von selbst totlaufen. Ich sehe mehrere mögliche Szenarien. Das einfachste wäre eine Transformation des Systems und ein Dialog mit der Gesellschaft. Die zweite Variante wäre, sich weiterhin auf die „Bajonette“ zu stützen, während das Land immer tiefer in eine Wirtschaftskrise rutscht. Und anders als früher wird es Kredite jetzt nur noch von einer Seite geben: von Russland. Aber die werden die Symptome nur kurzfristig lindern, die Ursachen der Unzufriedenheit werden nicht verschwinden. Belarus ist auf Moorgrund gebaut, und nirgends ist ein Feuer so schwer zu löschen wie im Moor. Das wird Ihnen jeder Feuerwehrmann bestätigen.

Wird die Abhängigkeit der belarussischen Führung von Moskau jetzt noch größer? Wie wahrscheinlich ist in dieser Situation die „vertiefte Integration“ beider Länder, die sich die Vertreter Russlands wünschen? Und welche Folgen hätte sie?

Nüchtern betrachtet, ist der Einfluss Russlands auf die Lage in Belarus entscheidend. Würde Russland nicht nur pro forma, sondern real Neutralität wahren und keine der beiden Seiten unterstützen, hätte die belarussische Revolution schon Ende August gesiegt. Stattdessen schauen wir zu, wie Journalisten aus Russland die Jobs der belarussischen Kollegen übernehmen, die aus moralischen Gründen gekündigt haben. Wir hören, dass eine Reserveeinheit der russländischen Nationalgarde bereitgestellt worden sei, um bei Bedarf in den inneren Konflikt in Belarus einzugreifen. Aber wir haben hier keinen Majdan, es geht hier nicht um irgendein abgekartetes Spiel, der Protest ist weder proeuropäisch, noch antirussisch, hier protestiert das belarussische Volk. Kein einheimischer Politiker, der seinen Verstand beisammen hat, will an der Grenze zu Russland einen Wassergraben mit Krokodilen anlegen. So etwas fordern nur irgendwelche extremistischen Randfiguren, aber solche gibt es überall. Es ist völlig klar, dass Russland unser Nachbar und einer unserer wichtigsten Partner in Politik und Wirtschaft ist. Wir brauchen normale, transparente und sachliche Beziehungen, in denen alle Verträge erfüllt werden.

Selbstverständlich verfolgt Russland ausschließlich seine eigenen Interessen, so wie die derzeitige politische Führung sie versteht, und kümmert sich nicht um die Interessen des belarussischen Volks.

Aber was passiert, wenn Moskau den Druck auf das geschwächte Lukašenka-Regime verstärkt und eine „vertiefte Integration“ fordert?

Kotov: Für Russland gibt es hier aus meiner Sicht zwei mögliche Szenarien. Nummer eins: Man unterzeichnet entsprechende Vereinbarungen mit der gegenwärtigen belarussischen Führung. Dadurch zieht man den Unmut der Belarussen auf sich. Jeder hier sieht die vertiefte Integration als Verrat an der Unabhängigkeit, die Leute wollen in ihrem eigenen Land leben. Das zweite Szenario: man stößt einen schrittweisen, kontrollierten Umbau an. Zum Beispiel indem man eine Verfassungsreform und anschließende vorgezogene Neuwahlen unterstützt. In der Zwischenzeit könnte Russland prorussische Politiker in Belarus aufbauen – denn bisher, das hat sich gezeigt, gibt es hier keine Politiker, die die Sprache des Kremls sprechen, einfach weil Lukašenka bisher das Monopol auf den Dialog mit Moskau hatte. Das ist die sanftere Variante – für Russland wäre sie einleuchtend, ob sie allerdings von den Belarussen akzeptiert würde, ist eine andere Frage. Und ob dafür genug Zeit bleibt …

Lukašenka hat das Team von Viktar Babaryka beschuldigt, genau solche Kontakte zu Moskau zu pflegen.

Kotov: Beschuldigen kann man, wen man will, aber de facto hat der amtierende Präsident diese Kontakte monopolisiert. Manche Leute meinen sogar, Sjarhej Rumas sei genau deshalb seines Amts enthoben worden, weil der Kreml in ihm einen fähigen Finanz- und Wirtschaftsfachmann und einfach einen umgänglichen Menschen sah.

Genau in diesem Sinn verstehe ich es auch, wenn Lavrov sagt, dass Lukašenka der einzige Gesprächspartner für Moskau ist. Deshalb versucht die amtierende belarussische Führung auch zu verhindern, dass im Koordinationsrat der Opposition jemand sitzt, mit dem Moskau ins Gespräch kommen könnte. Der Koordinationsrat soll möglichst abweisend und antirussisch wirken.

Auf einem anderen Blatt steht, dass Russland mit seinem übermäßigen Bemühen, in anderen Ländern prorussische Politiker aufzubauen, noch nirgends Erfolg gehabt hat. Genau das Gegenteil ist herausgekommen. Prorussische Politiker gelten als Verräter. So ist paradoxerweise auch die gegenwärtige georgische Regierung so prorussisch wie keine zuvor.

Russland profitiert davon, wenn in seinen Nachbarländern vernünftige, pragmatische Regierungen amtieren, die dafür sorgen, dass man dort investieren kann, ohne fürchten zu müssen, dass einem das Unternehmen jederzeit abgenommen werden kann. Russland würde davon profitieren, wenn es das Recht des belarussischen Volkes anerkennt, selbst über seine Zukunft zu bestimmen. Jeder Versuch, die derzeitige Führung an der Macht zu halten, wird den Unmut gegen Russland anfachen. Bislang wurden bei den Demonstrationen weder russische Flaggen verbrannt noch EU- oder USA-Fahnen geschwenkt, aber mit seiner ungeschickten und arroganten Politik riskiert Russland, dass sich das ändert. Es ist eine Sache, wenn Machthaber das eigene Volk nicht respektieren, aber noch einmal eine andere, wenn Leute, die deine „Brüder“ sein wollen, die Gewalt der Sondereinsatzkräfte gegen dich nicht verurteilen und sogar noch eigene Truppen schicken wollen.

Wie überzeugend finden Sie das Programm des Koordinationsrats der Opposition? Glauben Sie, der friedliche Protest hat noch Chancen zu siegen?

Kotov: Die Forderungen des Koordinationsrats sind einerseits ganz einfach und klar: Freilassung der politischen Gefangenen, Bestrafung derjenigen, die für die Gewalt gegen Demonstranten verantwortlich sind, und faire, freie Neuwahlen. Andererseits kann man sagen, dass diese Forderungen ziemlich utopisch sind, weil sie keinerlei klares wirtschaftliches und politisches Programm enthalten. Dabei müssten wirtschaftliche und politische Reformen sofort folgen, wenn die genannten Forderungen erfüllt sind. Gleichzeitig ruft der Koordinationsrat ja zu einem Dialog aller politischen Kräfte auf, und bei diesem Dialog geht es letztlich genau um die Entwicklung solcher Programme. Sicher hat gegenwärtig keine der Seiten eine genaue Vorstellung davon, was mit der Wirtschaft des Landes los ist. Darum brauchen wir einen vernünftigen Kompromiss.

Das Gespräch führte Maksim Solopov

Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja und Volker Weichsel