Titelbild Osteuropa 1-3/2024

Aus Osteuropa 1-3/2024

Zuckerbrot und Peitsche

Editorial


Abstract in English

(Osteuropa 1-3/2024, S. 3–4)

Volltext

Russland führt im dritten Jahr einen offen imperialen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Es geht um die Neueroberung eines Landes, das seit dem 17. Jahrhundert unter der Herrschaft des Zarenreichs gestanden hatte, nach dessen Untergang mit einer Mischung aus Gewalt und Entgegenkommen in die Sowjetunion eingegliedert worden war und das mit deren Auflösung 1991 zusammen mit den 14 anderen Sowjetrepubliken nationale Eigenstaatlichkeit erlangt hatte.

Moskaus Versuch, mit Waffengewalt das äußere Imperium wiederzuerrichten, hat auch die Frage nach dem inneren Imperium erneut auf die politische Tagesordnung gebracht. Russland ist kein Nationalstaat. Es handelt sich um ein Gebilde aus 21 Nationalen Republiken, fünf andere nationale Territorien sowie gut 50 nicht national konstituierte Gebiete. So gesehen ist Russland ein Vielvölkerreich. Doch die Dominanz der Russen ist groß, knapp 80 Prozent der Bevölkerung verstehen sich als solche. Der offizielle Staatsname spiegelt diesen Zwittercharakter: Rossija – Rossijskaja Federacija / Russland – Russländische Föderation.

Von einer Föderation kann allerdings schon lange keine Rede mehr sein. In den 1990er Jahren hatten sich insbesondere die bevölkerungsreichen und wirtschaftsstarken Nationalen Republiken wie Tatarstan und Baškortostan eine erhebliche Autonomie sowie Mitspracherechte im Zentrum erkämpft. Auch die Selbstverwaltung der nichtnationalen Gebiete wurde gestärkt. Wo Moskau die Grenzen der Selbstbestimmung zog, zeigte aber bereits 1994 das Beispiel Tschetschenien. Die kleine Republik im Nordkaukasus erklärte ihre staatliche Unabhängigkeit, woraufhin der demokratisch gewählte Präsident Boris El’cin Truppen einmarschieren ließ, die das Land verwüsteten, aber den Widerstand nicht brechen konnten. Dies gelang erst seinem Nachfolger Putin, der 1999 nach dreijährigem Waffenstillstand den Krieg erneut vom Zaun brach. Zugleich beschnitt er bereits in seiner ersten Amtszeit konsequent die Rechte der Regionen. Formal ist Russland weiter eine Föderation, faktisch ist es seit zwanzig Jahren ein Imperium.

In diesem sind die Machtbeziehungen zwischen Zentrum und Regionen von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich. Die Öl- und Erdgasregionen in Westsibirien und im Hohen Norden sind faktisch Kolonien. Die indigene Bevölkerung ist entrechtet, ihr Land wird zerstört, die nach den autochthonen Völkern benannten Republiken sind nichts als Fassaden. Am anderen Ende der Skala liegt der Nordkaukasus. In den dortigen Republiken ist es in den 1990er Jahren zu einem Exodus der Russen gekommen, insbesondere in Tschetschenien. Der dort von Moskau installierte Gewaltherrscher Ramzan Kadyrov hat das Land in einen islamisch angehauchten Privatstaat verwandelt. Solange Kadyrov loyal zu Putin steht, gibt Moskau ihm freie Hand zu jeder Gewalttat in Tschetschenien – und sogar darüber hinaus. Seine Truppen stehen im besetzten Teil der Ukraine, und seine Schergen sorgen in ganz Russland für Angst und Schrecken.

Zwischen diesen Polen liegen die übrigen nationalen Territorien. Ob nationale Eliten verdrängt oder in die Putinsche Machtvertikale kooptiert wurden, hängt nicht zuletzt von den Mehrheitsverhältnissen ab. Im südsibirischen Tyva stellen die Tuwinen 85 Prozent der Bevölkerung, in der Wolgarepublik Tatarstan die Tataren etwas über 50 Prozent, im an der Grenze zu Finnland gelegenen Karelien bekennen sich nur fünf Prozent der Bevölkerung zur Titularnation. In manchen Regionen geht der Anteil der Russen zurück, in anderen nimmt er zu. Insgesamt gibt es einen erheblichen Russifizierungsdruck. Russisch ist die Sprache der Politik, der Verwaltung, der Justiz, der Wirtschaft und der Wissenschaft. Kleine Sprachen bieten Identität, das Russische Karrieremöglichkeiten. Und – wie Artem Malych es am Beispiel des Udmurtischen zeigt: Auf den Sprachwechsel folgt in der nächsten Generation der Wechsel des Selbstverständnisses. Aus Udmurten werden Russen. Formal gibt es einige Regelungen, die diesen Druck etwas mildern, das Idiom der Titularnationen hat in den Nationalen Republiken sogar den Status einer zweiten Staatssprache. Damit eine Sprache nicht nur in ländlichen Rückzugsgebieten und im familiären Umgang überlebt, sondern auch im öffentlichen Raum eine Rolle spielt, muss diese in gemischten Gebieten jedermann beherrschen. Daher war es in den Nationalen Republiken an den Schulen für Kinder aus russischsprachigen Familien Pflicht, die Republiks-Staatssprache zu lernen. Vielerorts stand diese Regelung ohnehin nur auf dem Papier, seit 2018 ist sie gänzlich abgeschafft. Hier zeigt sich, was die Vielvölkerrhetorik wert ist, die das Putin-Regime im „antikolonialen“ Wettbewerb mit dem Westen für das heimische und das internationale Publikum bemüht.

Wirtschaftlich belegen die Rohstoffregionen – die Autonomen Gebiete der Nenzen, der Jamal-Nenzen sowie der Chanten und Mansen – vorderste Ränge beim Bruttoregionalprodukt sowohl in absoluten Zahlen als auch pro Kopf gerechnet. Tatarstan liegt immerhin auf Rang 6 bzw. 15 unter Berücksichtigung der Bevölkerungsgröße. Auffällig ist jedoch, dass die Mehrzahl der nationalen Territorien bei beiden Indikatoren im unteren Drittel liegt. Dies gilt auch für den Anteil der Bevölkerung, der unter der offiziellen Armutsgrenze lebt.

Russlands Krieg gegen die Ukraine kann nicht ohne Auswirkungen auf das innere Imperium bleiben. Doch diese sind höchst ambivalent. Kriegspropaganda, Militärzensur und verschärfte Repressionen haben im gesamten Land die letzten Reste von freier Öffentlichkeit zerstört. Die baschkirische Umwelt- und Nationalbewegung Baškort wurde bereits 2020 verboten, Anfang 2024 wurde eine der wichtigsten Personen der Bewegung zu vier Jahren Haft verurteilt. Andere Vertreter nationaler Bewegungen der Völker Russlands sind in die Emigration gegangen. Sie haben sich zusammengeschlossen, entfalten eine rege politische Tätigkeit, unterstützen den Freiheitskampf der Ukraine. Ihr Einfluss auf die Lage in der Heimat ist allerdings verschwindend gering.

Zu Recht weist etwa die Stiftung Freies Burjatien darauf hin, dass besonders viele Burjaten in der Ukraine gestorben seien und dass bei einem zahlenmäßig kleinen Volk jeder einzelne Verlust besonders schwer wiege. Doch Moskau rekrutiert nicht nach nationalen Kriterien, sondern der Anreiz, einen Vertrag mit der Armee zu unterschreiben, ist dort besonders hoch, wo der Lebensstandard niedrig ist. Der Monatssold kann ein Vielfaches der üblichen Monatslöhne betragen, die im Fall von Verwundung oder Tod versprochenen Entschädigungen sind nach dem Maßstab armer Regionen astronomisch. Auch vom Aufschwung der Rüstungsindustrie profitieren einige Nationale Republiken, vor allem jene an der Wolga. In Tatarstan ist etwa nahe der Stadt Elabuga Russlands größter Drohnenproduktionsbetrieb entstanden.

Die Erwartung, dass der Krieg zu einer Verschärfung nationaler Gegensätze und dies zu einem Zusammenbruch Russlands führt, ist illusorisch. Das Regime hat die nationalen Eliten fest in die Machtvertikale eingebunden – und alle Widerspenstigen ausgeschaltet. Die Bevölkerung wird mit Zuckerbrot und Peitsche bei der Stange gehalten. Doch wenn der oberste Machtzirkel in Moskau kollabiert, beginnt eine neue Zeitrechnung. Dies wird auch wieder die Stunde nationaler Bewegungen sein.

Berlin, im April 2024                                              Manfred Sapper, Volker Weichsel