Titelbild Osteuropa 5/2016

Aus Osteuropa 5/2016

Russlands Volkswirtschaft 2016
Fundamentaldaten einer fundamentalen Krise

Andrej Movčan

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Abstract in English

Abstract

Russland steckt in einer fundamentalen Wirtschaftskrise. Diese wird nicht zu einem raschen Zusammenbruch führen. Die Devisenreserven sind groß, das Bankensystem bislang recht stabil. Auch soziale Unruhen drohen nicht. Die politische Führung setzt auf Machterhalt und bedient Partikularinteressen. Dies verschlimmert die Lage. Ohne einen grundlegenden Neuanfang wird Russland im Ressourcenzyklus gefangen bleiben und immer weiter abrutschen. Einziger Ausweg ist mehr Rechtssicherheit. Erst wenn nicht mehr täglich der Verlust des Eigentums droht, werden der Kapitalabfluss und die Abwanderung der Hochqualifizierten aufhören.

(Osteuropa 5/2016, S. 33–49)

Volltext

Russland steckt in einer fundamentalen Wirtschaftskrise. Diese wird nicht zu einem raschen Zusammenbruch führen. Die Devisenreserven sind groß, das Bankensystem bislang recht stabil. Auch soziale Unruhen drohen nicht. Die politische Führung setzt auf Machterhalt und bedient Partikular­interessen. Dies verschlimmert die Lage. Ohne einen grundlegenden Neuanfang wird Russland im Ressourcenzyklus gefangen bleiben und immer weiter abrutschen. Einziger Ausweg ist mehr Rechtssicherheit. Erst wenn nicht mehr täglich der Verlust des Eigentums droht, werden der Kapitalabfluss und die Abwanderung der Hochqualifizierten aufhören.

Russlands Volkswirtschaft ist in einem Ressourcenzyklus gefangen. Der Einbruch des Ölpreises ab Mitte 2014 trifft Russland daher hart. Anfang der 2000er Jahre hatte der Anstieg des Ölpreises nach einem Tiefstand Ende der 1990er Jahre zu einer raschen Vermehrung der Staatseinnahmen geführt. Die Erdöleinnahmen erlaubten es dem Staat, nicht nur die Ölindustrie, sondern auf indirektem Weg auch den Bankensektor und auf diese Weise nahezu die gesamte Volkswirtschaft zu kontrollieren. Dies wirkte sich negativ auf die gesamte Volkswirtschaft aus.

Im Jahr 2008 kamen 65-70 Prozent der Staatseinnahmen direkt oder indirekt aus dem Export fossiler Brennstoffe (Erdöl, Erdölprodukte, Erdgas und Kohle). Der Zusammenhang zwischen der Änderung des Ölpreises und der Entwicklung des Wirtschaftswachstums sowie auch des Umfangs der Devisenreserven war sehr eng.[1] Der Rubel war wegen des massiven Zustroms von US-Dollar aus dem Ölgeschäft stark überbewertet: In den Jahren 2006 und 2007 lag der Marktkurs um 35 Prozent höher, als es die im Vergleich zum Ausland hohe Inflation gerechtfertigt hätte.

Auf die wirtschaftliche Entwicklung Russlands wirkten in diesen Boom-Jahren drei Faktoren ein: Erstens verursachte der Staat durch sein Streben nach Kontrolle der Finanzströme eine Verschlechterung des Investitionsklimas und schützte die Rechte der Investoren nicht. Dies führte zu Kapitalflucht und braindrain. Aus Russland wurden nach Auflösung der Sowjetunion mehr als eine Billion Dollar ausgeführt, viele gut ausgebildete Menschen verließen das Land.

Zweitens führte die Sterilisation der Budgetüberschüsse zu einer Verminderung der Geldmenge, was die Kosten für Kredite steigen ließ und daher die Rentabilität von Investitionen senkte. Kapitalintensive oder nur langsam wachsende Wirtschaftszweige konnten sich nicht entwickeln.

Drittens sorgte die Regierung für einen starken Anstieg der Löhne. Der Rohstoffexport ermöglichte so eine Ausweitung des privaten Konsums weit über dem Durchschnitt vergleichbarer Länder. Doch die hohen Löhne trieben zusammen mit hohen Steuern die Produktionskosten in die Höhe. Russland wurde als Standort unattraktiv, Importe ersetzten die inländische Produktion. Russland geriet in nahezu allen Wirtschaftszweigen in Rückstand. Bestehende Sektoren verloren ihre Konkurrenzfähigkeit, neue entwickelten sich nicht. Am Bruttoinlandsprodukt (BIP) Russlands hatten die Förderung fossiler Rohstoffe in den Boomjahren 2000–2008 einen Anteil von 20 Prozent, der wegen des Dollarzustroms übermäßig entwickelte Handel 30 Prozent, der Energiebinnenverbrauch und die Infrastrukturausgaben zusammen 15 Prozent, weitere staatliche Projekte ebenfalls 15 Prozent und der Bankensektor neun Prozent. Auf sonstige Dienstleistungen und das produzierende Gewerbe entfielen kaum mehr als zehn Prozent.[2]

Darauf basierte eine unvernünftige Sozialpolitik: Der Anstieg der Einkommen der Bevölkerung lag über dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts, selbst wenn man den Ölanteil am BIP berücksichtigt. Rund 30 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung sind direkt und fast acht Prozent indirekt beim Staat angestellt, was den Staatshaushalt unverhältnismäßig stark belastet.[3] Eine Rentenreform, die den Staatshaushalt langfristig entlastet, verschiebt die Regierung immer wieder. Überdies war der Haushalt in den Boomjahren durch ambitionierte, aber nicht nachhaltige Projekte sowie die aufgeblähten Aufwendungen für Rüstung und Sicherheit überdehnt. Aufgrund der endemischen Korruption verschwand zudem viel Geld in dunklen Kanälen.

Als der Ölpreis im Jahr 2014 einbrach, hatte Russland somit eine nicht diversifizierte, quasimonopolisierte Wirtschaft, der die Grundlagen für Wirtschaftswachstum fehlten. Dies bedeutet nicht, dass Russland heute vor einem wirtschaftlichen Zusammenbruch steht. Der Staat hat in den Zeiten hoher Ölpreise ausreichend Reserven angelegt, um Krisenzeiten überstehen zu können.[4] Die Gold- und Devisenreserven übersteigen den für das Gesamtjahr 2016 zu erwartenden Umfang des Imports um das Dreifache. Dies ist – nicht zuletzt aufgrund der geringen Importe – eine im Vergleich zu vielen anderen Ländern außergewöhnlich hohe Importdeckungsquote.[5] Auch die Unternehmen haben einen ausreichenden Kapitalstock. Die Bevölkerung verfügt über mehr als 250 Milliarden US-Dollar Guthaben bei Banken und wahrscheinlich über ebenso viel Bargeld. Sie besitzt langlebige Gebrauchsgüter, und die Wohnfläche pro Einwohner hat sich in den Boomjahren mehr als verdoppelt. Der Einkommensrückgang der privaten Haushalte seit 2014 war zwar präzedenzlos, doch er wirft Russland – bei einem Ölpreis von 35 US-Dollar pro Barrel – nur auf das Niveau der Jahre 2004-2005 zurück, also in eine Zeit, die zwar keine des Wohlstands war, jedoch eine der Stabilität. Im Gesamtjahr 2016 wird das BIP pro Einwohner nach pessimistischen Prognosen rund 7500 Dollar betragen.[6] Damit liegt Russland in der Rangliste aller Staaten ungefähr auf Platz 70 – etwa auf gleicher Höhe mit Turkmenistan und etwas unter China. Beim BIP zu Kaufkraftparitäten rangiert es mit 13 000 bis 14 000 Dollar pro Einwohner ca. auf Platz 90, wo auch Algerien, die Dominikanische Republik, Thailand, Kolumbien, Serbien und die Vereinigten Arabischen Emirate liegen. Das sind bescheidene Zahlen, aber keine, vor denen sich das Regime fürchten muss: Die Zone der „Farbrevolutionen“ beginnt bei einem BIP von nominal ca. 6000 US-Dollar pro Kopf und kaufkraftbereinigt 9000–10 000 US-Dollar. Sinkt der Ölpreis nicht unter 35 US-Dollar pro Barrel – und bleibt das Bankensystem stabil –, so hat Russland auch ohne Reformen mindestens drei weitere Jahre relativer ökonomischer Stabilität.

Zur Zeit noch stabil: das Bankensystem

Eine zentrale Kennziffer zur Bewertung der Krisenfestigkeit von Banken ist die Eigenkapitalquote. Doch es ist unklar, über wieviel Fremd- und Eigenkapital Russlands Banken verfügen. Seit vielen Jahren hat die Zentralbank Russlands es toleriert, dass private und staatliche Banken ihre reale Lage vertuschten, indem sie ihre Bilanzen durch überbewertete Aktiva, spezielle „Ringgeschäfte“ und die Unterbewertung der Risiken von Krediten und Investitionen schönten. Gemessen am Umfang der Aktiva pro Beschäftigten arbeiten Russlands Banken um ein Vielfaches weniger effizient als jene in den USA oder der EU. Die Höhe der vergebenen Kredite ist deutlich geringer, die Risiken hingegen sehr viel höher. 2016 werden sie erheblich wachsen: Bereits 2015 wurden 30 Prozent der Verbraucherkredite nicht bedient.[7] Bei den Geschäftskrediten ist die Lage völlig unklar, denn sie wird auf jede mögliche Weise vertuscht.

Gleichzeitig sinkt die Anzahl der Banken in Russland jährlich um zehn Prozent und beträgt heute weniger als 700. Die Konzentration des Bankenvermögens ist sehr hoch: Auf die größten fünf Banken entfallen rund 55 Prozent der Bankenaktiva und auf die größten 50 schon 87 Prozent.[8] Um ein Zusammenbrechen des Bankensystems zu verhindern, würde es reichen, diese 50 Banken zu retten. Gingen die übrigen 650 bankrott, so hätte dies allenfalls den positiven Effekt, dass das System bereinigt und jene Anleger ihr Geld verlieren würden, die bei der Jagd nach höheren Zinsen das größte Risiko eingegangen sind.

Das Gesamtkapital aller Banken Russlands liegt nominell bei lediglich neun Billionen Rubel. Theoretisch wäre der Staat zu einer vollständigen Rekapitalisierung des Bankensystems in der Lage. Im Gesamtjahr 2016 werden die Banken jedoch nicht mehr als 1–1,5 Billionen Rubel frisches Kapital benötigen. Natürlich könnte der Staat nicht für die vergebenen Kredite in Höhe von 41 Billionen Rubel eintreten, von denen ein wachsender Anteil nicht zum vertraglich vereinbarten Zeitpunkt getilgt wurde oder deren Rückzahlung nicht mehr zu erwarten ist. Aber diesen Krediten stehen in den Bilanzen der Banken 44 Billionen Rubel an Einlagen juristischer und natürlicher Personen gegenüber und der Staat hat schwere Waffen in seinem Arsenal der Stabilisierungsmaßnahmen, etwa die gesetzliche Verpflichtung zur Umwandlung von Deviseneinlagen in Rubel zu einem niedrigen Kurs oder das Einfrieren von Einlagen und ihre Umwandlung teilweise in Bankkapital und teilweise in langfristige Staatsobligationen. Dies sind jedoch außerordentliche Maßnahmen, die 2016 wahrscheinlich nicht ergriffen werden. Anders könnte es 2018 aussehen, wenn am Jahresende Präsidentschaftswahlen stattfinden sollen und die Sicherheitsreserven des Bankensystems sogar bei einem konstanten Ölpreis von 50 US-Dollar pro Barrel verbraucht sein werden.

Alle Probleme hausgemacht

Russlands Unternehmen sind – von den Sanktionen abgesehen – in einer günstigen außenwirtschaftlichen Lage: Russland ist Mitglied der WTO und anderer internationaler Wirtschaftsorganisationen, hält seine Devisenreserven in äußerst sicheren Anleihen und Währungen, für Devisen- und Außenhandelsgeschäfte gibt es keine Begrenzungen, die Zinssätze, zu denen der Staat seine Schulden aufgenommen hat, sind niedrig. Schließlich sind Russland bzw. Unternehmen aus Russland nicht mehr als andere Länder auch von außenwirtschaftlichen Beschränkungen wie einer Abschottung von Märkten, Anti-Dumping-Zöllen oder Handelsbeschränkungen betroffen.

Bei näherer Betrachtung haben auch die Sanktionen der USA und der EU gegenwärtig keinen entscheidenden Einfluss auf die Wirtschaft Russlands: Sie erschweren einer begrenzten Anzahl von Unternehmen die Kreditaufnahme auf internationalen Kapitalmärkten und einem engen Kreis russländischer Bürger die Einreise in die USA bzw. die EU-Staaten. Die in den USA und der EU befindlichen Vermögenswerte eines kleinen Kreises natürlicher und juristischer Personen wurden eingefroren. Beschränkungen unterliegen außerdem zwei sehr enge Segmente: für die Exploration und die Förderung von Erdöl in der Tiefsee oder in der Arktis sowie für Schieferölprojekte dürfen keine Dienstleistungen mehr erbracht werden und die Ausfuhr von Gütern und Technologien mit doppeltem – militärischem und nichtmilitärischem – Verwendungszweck (Dual-Use) nach Russland ist verboten.[9]

Selbst wenn die Zahl der Unternehmen, die von Einschränkungen bei der Kreditaufnahme betroffen sind, nicht so klein wäre, hätte dies kaum Einfluss auf Russland. Denn das Land hat bereits seit einigen Jahren seine Außenschuld verringert. Diese ist nur doppelt so hoch wie die staatlichen Gold- und Devisenreserven. Addiert man zu den staatlichen die privaten Gold- und Devisenreserven, so ist die Quote der Außenschuld sogar wesentlich geringer. Russland braucht gegenwärtig überhaupt keine umfangreichen Auslandskredite, denn die Mehrzahl der Unternehmen verringert ihre Geschäftstätigkeit, statt in neue Projekte zu investieren, und hat so einen Umsatzrückgang zu verzeichnen. Nur wenn weitere Staaten Restriktionen für die Kreditvergabe verhängen würden, der Kreis der sanktionierten Unternehmen aus Russland ausgeweitet und auch die Kreditaufnahme durch den russländischen Staat eingeschränkt werden würde, hätten solche erheblich ausgeweiteten Sanktionen massive Auswirkungen auf Russlands Wirtschaft. In drei bis fünf Jahren wären Russlands Gold- und Devisenreserven aufgebraucht und das Land zur Aufnahme großer Kredite gezwungen, die es dann nicht erhielte. Doch dies ist nicht die heutige Situation.

Die Einschränkungen beim Export von Technologie nach Russland werden, wenn sie aufrechterhalten werden, langfristig natürlich Auswirkungen auf dessen Volkswirtschaft haben. In fünf bis sieben Jahren könnten die Förderkosten von Erdöl und Erdgas steigen, die Fördermengen zurückgehen. Heute sind diese Beschränkungen allerdings noch nicht spürbar.

Dasselbe gilt für die Beschränkungen bei den Dual-Use-Gütern. Russland steigert gegenwärtig die Herstellung von Rüstungsgütern, und der Rüstungsexport liegt mit mehr als zehn Milliarden Dollar pro Jahr auf hohem Niveau. Ein Einfluss der Sanktionen ist nicht festzustellen.[10] Erst längerfristig könnte Russlands Rüstungsindustrie Nachteile gegenüber den Konkurrenten aus den USA, der EU, Israel und vor allem aus China erleiden. Denn bereits heute – ohne dass dies bereits auf die Sanktionen zurückzuführen wäre – gibt es Anzeichen für eine Schwächung der Stellung Russlands auf dem globalen Rüstungsmarkt. Indien wird wahrscheinlich seine Kampfflugzeuge zukünftig nicht mehr in Russland kaufen. China erwirbt zwar noch Luftabwehrsysteme aus Russland, Flugzeuge entwickelt es jedoch bereits selbst. Wenn in 15–20 Jahren die hochentwickelten Länder Kampfflugzeuge der sechsten Generation und andere Länder solche der fünften Generation in den Dienst stellen werden, wird Russland wahrscheinlich wenig anzubieten haben.[11]

Die Gegensanktionen, also die von Russlands selbst verhängten Beschränkungen beim Import von Agrarprodukten und Lebensmitteln aus der EU, den USA und einigen weiteren Staaten, wirken sich ebenfalls kaum auf Russlands Volkswirtschaft aus. Der Import nach Russland ging zwar in den vergangenen zwei Jahren zurück. Doch trifft dies für sehr viele Waren zu, nicht nur für die auf der Sanktionsliste. Grund ist die Abwertung des Rubel, die Auswirkungen des Importverbots sind unbedeutend. Doch auch der angebliche positive Effekt blieb aus. Da die in Russland hergestellten Lebensmittel, die die Importwaren ersetzen sollen, von außerordentlich schlechter Qualität sind, stieg die Nachfrage nach diesen Produkten nicht.

Erhebliche negative Auswirkungen auf Russlands Wirtschaft hat daher nur das unvorhersehbare und inkonsequente feindselige Verhalten Russlands gegenüber ausländischen Unternehmen. Der Versuch, das Land in zentralen Bereichen – etwa Telekommunikation, Zahlungssysteme, Transport, IT, Navigation sowie Förderung der Zivilgesellschaft und von Wohlfahrtsorganisation – „autark“ zu machen, geht auf das Zusammenwirken bestimmter Unternehmen mit partikularen Interessen und korrupten Beamten zurück. Einer übergeordneten ökonomischen Rationalität folgt es nicht. Daher werden erhebliche Mittel eingesetzt, um Produkte zu erhalten, die keineswegs einen vollwertigen Ersatz für moderne Technologien darstellen. In manchen Fällen muss komplett auf internationale technische Standards verzichtet werden. Dies ist es, was die Sicherheit Russlands real bedroht, nicht erfundene Bedrohungen aus dem Ausland.

Kein Ausweg in Sicht

Russlands Volkswirtschaft befindet sich in einem krisenhaften Prozess des Niedergangs, der Archaisierung und des Verlusts der Konkurrenzfähigkeit. Es spricht wenig dafür, dass Russland aus der Gefangenschaft im Ressourcenzyklus und damit aus der Krise entkommen kann. Da in Russland in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu wenig investiert wurde, liegt die Auslastung der Produktionskapazitäten sogar in der heutigen Depressionsphase bei fast 85 Prozent. Ein bedeutender Teil – Schätzungen gehen von 40 Prozent aus – der Produktionskapazitäten Russlands sind technologisch veraltet. Mit ihnen können keine Erzeugnisse hergestellt werden, die auf dem Markt bestehen könnten.

Der Bestand an Werkzeugmaschinen ist in den vergangenen zehn Jahren um die Hälfte zurückgegangen. Nur selten wurden ausgesonderte Maschinen durch neue, mit höherer Leistung ersetzt. Um Wirtschaftswachstum zu generieren, muss jedoch die Kapitalintensität der Produktion gesteigert und neue Kapazitäten müssen geschaffen werden. Dafür hat der Staat keine Mittel: Das Haushaltsdefizit betrug 2015 drei Prozent und wird im Jahr 2016 auf fünf Prozent steigen.[12] Auch die staatlichen Unternehmen haben keine freien Mittel und die privaten inländischen und die ausländischen Unternehmen sind wegen der Vertrauenskrise nicht bereit, in Russland zu investieren.

Russland leidet zudem an einem großen Effizienzproblem. Das gilt sowohl für die Energieeffizienz als auch für die Logistik. Russland benötigt zur Generierung der gleichen Summe des Bruttoinlandsprodukts viermal so viel Energie wie Japan, und die Kosten für den Gütertransport, die Lagerung und die Zollabfertigung sind signifikant höher als in Entwicklungsländern und sogar als in vielen entwickelten Ländern. Daher sind Waren aus Russland kaum konkurrenzfähig.

Zudem ist Russland mit einem Mangel an Arbeitskräften konfrontiert. Deren Zahl geht aufgrund des Schrumpfens der Bevölkerung pro Jahr um ein halbes Prozent zurück.[13] Hinzu kommt, dass der größte Teil der arbeitenden Bevölkerung in Bereichen tätig ist, in denen es keine oder nur sehr geringe Wertschöpfung gibt: im Staatsdienst, bei den Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsdiensten, im Handel und im äußerst ineffizienten Bankensektor. Der übrige Teil erfüllt nicht die Anforderungen des Landes: Es herrscht selbst auf dem niedrigen heutigen, wenig entwickelten Niveau in der Produktion und bei Dienstleistungen ein katastrophaler Mangel an Ingenieuren, Technikern, qualifizierten Arbeitern, kompetenten Managern und Verwaltungsfachleuten. Die öffentlichen Versorgungsunternehmen stützen sich auf eine im gesetzlichen Graubereich liegende Ausbeutung der Arbeit von Millionen Migranten, darunter viele ohne Aufenthalts- oder Arbeitsgenehmigung. Überweisungen aus Russland waren für Kirgistan bis 2013 die wichtigste Einnahmequelle des Staates, für Tadschikistan die zweitwichtigste. Auch für die Ukraine, für Usbekistan, Moldova und Belarus waren sie von erheblicher Bedeutung.

Da sowohl der Wert des Rubel als auch die Kaufkraft der Bevölkerung in Russland seit 2014 deutlich gesunken sind, ist die Zahl der Arbeitsmigranten stark zurückgegangen. Daher gibt es bei den kommunalen Versorgungsunternehmen heute einen Arbeitskräftemangel. Gleiches gilt für alle anderen Sektoren, etwa den Einzelhandel, in denen viele unqualifizierte Arbeitskräfte beschäftigt werden.

Ein weiteres Problem ist das widersprüchliche und inkonsequent angewendete Wirtschaftsrecht. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Eigentumsrechte. Ausländische Inverstoren mussten ebenso wie Unternehmer aus Russland erkennen, dass auf den Staat kein Verlass ist, dass er ihnen sogar feindlich gesonnen ist. Hinzu kommt die endemische Korruption. Russland zog daher nur wenig ausländische Direktinvestitionen an, Unternehmer aus Russland investierten im Ausland. Seit dem Jahr 2000 ist der Kapitalexport höher als der Gewinn aus dem Export von fossilen Rohstoffen.[14] Der Anteil der privaten Wirtschaft am BIP – ohne private Gesellschaften, die in Wirklichkeit vom Staat kontrolliert werden – ist auf 30-35 Prozent zurückgegangen.[15] Die private Wirtschaft erzeugt pro Einwohner heute ein BIP im Umfang von weniger als 3000 Dollar. Der Anteil der Klein- und Mittelunternehmen am BIP beträgt 20-22 Prozent, während er in vielen anderen Ländern bei 40-55 Prozent liegt. Russlands Bürger halten bei Banken in der Schweiz und in anderen europäischen Ländern sowie in Hongkong und Singapur Guthaben im Umfang von mehr als einer Billion Dollar. Jedes Jahr verlassen 20 000 bis 30 000 Hochqualifizierte und Unternehmer Russland.[16] In den USA leben daher rund sechs Millionen Emigranten der ersten und zweiten Generation, von denen sich drei Millionen als Russen bezeichnen. In Israel sind es eineinhalb Millionen, in Großbritannien mehrere hunderttausend, in den übrigen europäischen Ländern mindestens eine Million. Russland hat somit ungefähr zehn Millionen Menschen – rund sieben Prozent seiner Bevölkerung – verloren, die zur Mittelschicht gehört hätten. Der gesamten Mittelschicht in Russland gehören heute kaum mehr als zehn Millionen Menschen an.[17] Inverstoren, Unternehmer und Hochqualifizierte haben jegliches Vertrauen in das Land verloren. Daran wird sich nichts ändern, solange es keinen radikalen Umbau des politischen Systems und der Verwaltung des Landes gibt.

Die Abwertung des Rubel stimulierte zwar den Export, stabilisierte den Haushalt und verhinderte eine „harte Landung“ der Wirtschaft. Allerding kann man von ihr keinen wachstumsfördernden Effekt erwarten. Denn wachsen kann ausschließlich die heimische Nachfrage, die in Rubel berechnet wird und praktisch nicht zunimmt. Für eine Steigerung der Exporte bedarf es Investitionen und neuer Technologien, beide gibt es nicht. Hinzu kommt, dass für fast alle in Russland hergestellten Waren Rohstoffe, Vorprodukte oder Produktionsanlagen importiert werden müssen (die Abhängigkeit variiert je nach Ware zwischen 15 Prozent und 70-80 Prozent). Die Abwertung des Rubel hat die Produktionskosten und sogar die Kosten von Dienstleistungen deutlich schneller wachsen lassen als die Nachfrage.


Trends im Jahr 2016

Russlands Volkswirtschaft hat sich in der ersten Jahreshälfte 2016 auf niedrigem Niveau stabilisiert. Der Ölpreis ist nicht unter 25 US-Dollar pro Barrel gefallen – ein Tiefpunkt war mit knapp 28 US-Dollar im Februar 2016 erreicht. Der Höchststand lag bei 52 US-Dollar Anfang Juni 2016.

Die Inflationsrate, die von der Geldpolitik und vom Ölpreis abhängt, hat sich von 15 Prozent zwischen August 2014 und August 2015 auf 7,5 Prozent zwischen Juli 2015 und Juli 2016 halbiert. Der Kurs des Rubel zum Dollar hat sich leicht verbessert, von über 80 Rubel, die ein US-Dollar Anfang 2016 kostete, auf 65–70 Rubel in der Jahresmitte 2016. Von dem Kurs von 30–35 Rubel pro Dollar, der vor 2014 viele Jahre galt, ist dies weit entfernt. Das BIP (in konstanten Rubeln) ist nach einem Einbruch von 3,7 Prozent im Jahr 2015 im Vergleich zum Vorjahr in der ersten Jahreshälfte 2016 um weitere 1,8 Prozent zurückgegangen und beträgt nur noch 7800 US-Dollar pro Kopf. Die Investitionen werden im Gesamtjahr 2016 um 10-20 Prozent zurückgehen, die langfristigen Investitionen einschließlich der Bauinvestitionen werden noch stärker fallen. Manche Prognosen sagen voraus, dass die Bauinvestitionen und insbesondere die Wohnungsbauinvestitionen um 50 Prozent sinken werden.

Dank des flexiblen Rubelkurses wird das Haushaltsdefizit nicht allzu groß werden. Die Regierung will es auf maximal drei Prozent des BIP begrenzen.[18] Dieses Defizit kann durch eine Kombination von Staatsverschuldung und Verwendung der Gold- und Devisenreserven aus dem Reservefonds gedeckt werden. Doch dies ist nur die formale Seite der Angelegenheit. Real werden die Mittel aus dem Haushalt – unabhängig davon, wofür sie konkret ausgegeben werden (hauptsächlich für laufende Beschaffungen, Ge­hälter und Investitionen) – je nach Verwendungszweck zu 30 bis 70 Prozent für den Import für Waren und Dienstleistungen eingesetzt. Daher senkt die Abwertung des Rubel die absolute Kaufkraft derjenigen, die Mittel aus dem Haushalt erhalten. Genau lässt sich dies mit den zugänglichen Daten nicht errechnen, ein Rückgang der Kaufkraft des Haushalts im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 15 Prozent und im Vergleich zu 2014 um 25-30 Prozent erscheint jedoch realistisch.

Russlands Regierung lehnt weiter hartnäckig alle Reformen ab. Allenfalls versucht sie mit kleineren Emissionen von Staatsanleihen, einer geringfügigen Anhebung der Steuer- und Abgabensätze sowie einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der bestehenden Steuern und die Einführung neuer direkter und indirekter Steuern die größten Haushaltslöcher zu stopfen und ein kritisches Wachstum der Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Parallel dazu wird die Zahl der Einnahmequellen für Unternehmen wachsen, deren Besitzer gute politische Kontakte haben. Dies gilt auf lokaler Ebene für gebührenpflichtige Parkplätze, auf nationaler für die Mitte November 2015 eingeführte LKW-Maut. In beiden Fällen geht der größte Anteil der eingezogenen Gebühren an den privaten Betreiber – im Falle der LKW-Maut ist dies das Unternehmen RT-Invest transportnye sistemy, das zu 50 Prozent im Besitz von Igor’ Rotenberg ist, einem Sohn des wegen seiner Nähe zum Kreml auf der EU-Sanktionsliste stehenden Milliardärs Arkadij Rotenberg. Die in die kommunalen, regionalen oder den föderalen Haushalt fließenden Mittel reichen nicht einmal zur Amortisierung der Anfangsinvestitionen. Dies sind die Vorboten einer neuen Art von Geschäften kremlnaher Unternehmer in Zeiten, in denen die Rohstoffrente nicht mehr wie einst sprudelt. Die einflussreichen Elitengruppen werden alles daran setzen, die Verluste zu kompensieren, indem sie auf neue Renteneinkünfte setzen: auf Bestechungsgelder, Zwangsbeteiligungen sowie unlautere Wettbewerbsvorteile. Die Staatsführung wird sich gezwungen sehen, diese Praktiken zu unterstützen, um die Akzeptanz in diesen Kreisen nicht zu verlieren.

Die Zunahme der Steuerbelastung wird die Wirtschaftsaktivität reduzieren und große Teile der Klein- und Mittelunternehmen in die Schattenwirtschaft abdrängen. Da dies dem Handel leichter fällt als dem produzierenden Gewerbe, wird letzteres einen besonders tiefen Einbruch erleben. Die Lücke wird von minderwertigen Importwaren gefüllt werden, deren Einfuhr im rechtlichen Graubereich liegt. Ihre Produktion werden allenfalls jene wenigen Betriebe steigern, die für den Export produzieren und von den gesunkenen Herstellungskosten profitieren oder Waren herstellen, die nicht preisgünstig importiert werden können. Die Qualität der Produkte wird zweifellos weiter zurückgehen und die Produktpiraterie zunehmen. Davon werden sowohl Vorprodukte als auch Endprodukte betroffen sein, da die Hersteller die Kosten senken wollen und die staatlichen Kontrollbehörden nachlässig arbeiten oder ihre Mitarbeiter bestochen werden.

Politische Stabilität trotz Wirtschaftskrise

Die Wirtschaftskrise wird mit großer Wahrscheinlichkeit in nächster Zeit nicht zu sozialer Instabilität führen und die Popularität der gegenwärtigen Führung nicht gefährden. Dies hat mehrere Gründe. Erstens ist die Krise nach einer langen Periode des Wachstums eingetreten, und dessen ist sich die überwiegenden Mehrheit der Bürger Russlands bewusst. Ende 2015 lag das BIP pro Einwohner real auf demselben Niveau wie 2006 und die Reallöhne auf dem des Jahres 2007.[19] Bis Ende 2016 werden diese Kennziffern sich voraussichtlich um ein weiteres Jahr zurückentwickelt haben, also denen der Jahre 2005 und 2006 entsprechen. Auf dem Tiefpunkt im Jahr 1999 waren das BIP pro Kopf um 21 Prozent und der Reallohn um 40 Prozent niedriger als 2016 gewesen.[20] Die Menschen in Russland wissen, dass die gegenwärtige Situation besser ist als jene vor 15 Jahren. Dies erscheint ihnen wichtiger als die Tatsache, dass sich die Lage in den vergangenen drei Jahren erheblich verschlechtert hat. Erst wenn die Einkommen der Bevölkerung sich dem Niveau des Jahres 1999 annähern, wird die Unzufriedenheit massiv zunehmen.

Zweitens waren sowohl der Wohlstandszuwachs in den Jahren 2000-2012 wie auch die Stagnation und der Rückgang in den Jahren 2014 und 2015 äußerst ungleich verteilt. Nur eine kleine soziale Gruppe spürte und spürt erhebliche Veränderungen. Das Wachstum des Wohlstands konzentrierte sich auf Moskau und andere große Städte. In Moskau betrug das BIP pro Einwohner 2014 rund 35 000 Dollar und ist mittlerweile auf rund 20 000 Dollar gesunken.[21] Die große Mehrheit der Bevölkerung konnte ihre Lebensverhältnisse in den vergangenen 15 Jahren immerhin ein wenig verbessern, und diese wurden in letzter Zeit nur ein wenig schlechter. Einige Zahlen zeigen, wie klein die Gruppe ist, die von der Wohlstandsexplosion profitierte und unter dem Einbruch leidet, und wie groß die Gruppe, die kaum Veränderungen spürt. Im Jahr 2015 besaßen nur 24 Prozent der Bevölkerung außerhalb von Moskau einen Reisepass, und nur sieben Prozent der Einwohner Russlands hielten sich in den vergangenen Jahren ein- oder mehrmals im Ausland auf. Der Medianwert der Einkommen liegt fast 40 Prozent unter dem Mittelwert, einer kleinen Gruppe mit hohen Einkommen steht also eine große Gruppe mit niedrigen Einkommen gegenüber.[22] Weniger als 20 Prozent der Bevölkerung verfügen über Bankguthaben und nicht mehr als vier Prozent besitzen Devisenvermögen.[23] Die Einkommen des reichsten Zehntels der Bevölkerung betrugen Ende der 1990er Jahre acht Mal so viel wie jene des ärmsten Zehntels, heute sind sie um das Achtzehnfache höher.

Drittens gibt es in Russland im Unterschied zu westlichen Demokratien keine offene Konkurrenz um die Macht, die von unabhängigen Medien begleitet und von oppositionellen Teilen der Elite finanziert und organisiert wäre. Es gibt faktisch ein staatliches Monopol auf politische Informationen, unabhängige Medien erreichen maximal zehn Prozent der Bevölkerung.[24] Während in Demokratien die Medien wirtschaftliche Probleme meist aufbauschen, um Aufmerksamkeit zu erlangen, und oppositionelle Bewegungen ihre sozialen Aktionen mit Hilfe der Informationsdienste koordinieren können, spielen die Medien heute in Russland die Probleme herunter und die Opposition hat keine Finanzmittel und kann ihre Proteste nicht koordinieren.

Viertens ist ein interner Konflikt in kremlnahen Kreisen unwahrscheinlich. Die Interessen der Eliten sind ausreichend separiert, allem Anschein nach wollen die Elitegruppen den Frieden wahren. Es gibt zwar nur eine einzige Person, die zu einer Ausbalancierung der Interessen in der Lage ist. Doch es ist wenig wahrscheinlich, dass Vladimir Putin diese Rolle in den kommenden Jahren nicht mehr wahrnehmen wird.

Allerdings lehrt die Erfahrung vieler Länder, dass ungeachtet vorhandener checks and balances oft ein Konflikt ausbricht, wenn der Anteil der Öl- und Gasrente am BIP unter 10-12 Prozent und das BIP pro Einwohner unter 6000 Dollar fällt.[25] In Russland ist der Rentenanteil nur wenig höher (16-17 Prozent des BIP) und sinkt allmählich, während für das BIP pro Kopf für 2016 8500 Dollar prognostiziert werden.[26]

Von anderen Ländern ist wiederum bekannt, dass ein Konflikt zwischen den Machtgruppen, auch wenn er nicht die Form eines direkten Kriegs zwischen Clans annimmt, dennoch zu einer spürbaren Destabilisierung der Volkswirtschaft führt. Denn es kommt zu umfangreichem Personalaustausch – bis hin zum Rücktritt von Führungsfiguren. Es werden für die Wirtschaft schädliche Entscheidungen gefällt, und die Risiken steigen, weil sich die Auseinandersetzung zwischen den Clans auf juristisches Gebiet verlagert und es zu einer Vielzahl von Strafverfahren und Ähnlichem kommt. Eine derartige Situation entsteht sogar unter stabilen und gut organisierten Eliten dann, wenn die Führungsfigur (oder die Führungsgruppe) ausfällt.

Schließlich besteht in Russland, wo die Macht nicht institutionell verankert ist, wo keine Konkurrenz um die Macht besteht und wo Handlungen und Entscheidungen nicht kritisch hinterfragt werden, sondern die öffentliche Meinung durch Propaganda weitgehend manipuliert und durch vorgetäuschte Probleme abgelenkt wird, ein hohes Risiko für eine äußerst teure, irrationale und irreparable Entscheidung, die zu einer einschneidenden Veränderung der Situation mit äußerst negativen ökonomischen Konsequenzen führt. Die Steuerlast könnte in einem Ausmaß angehoben werden, das eine schwere Kontraktion der Wirtschaftsaktivität zur Folge hat. Militäreinsätze könnten Kosten verursachen, die die Wirtschaft ruinieren oder zu stark verschärften Sanktionen führen, etwa zu einem Ölembargo oder zu einem Verbot der Ausfuhr von Ersatzteilen für Flugzeuge und Maschinen oder von Futtermitteln nach Russland. Verheerend wäre auch eine staatliche Regulierung der Preise, des Kapitalverkehrs oder des Wechselkurses.

Das Szenario Katastrophe

Schrumpft die Wirtschaftsleistung Russlands konstant weiter, wird der Staat in drei bis vier Jahren ein neues Regime einführen müssen: Preisregulierungen, Beschränkung des Devisenverkehrs, Monopolisierung des Außenhandels, umfangreiche Verstaatlichungen, Lohnbegrenzungen, garantierter Mindestkonsum. Der Niedergang wird sich dennoch fortsetzen. Bis zu einem völligen Zusammenbruch können weitere zehn Jahre vergehen. Dramatische Ereignisse könnten allerdings dazu führen, dass die Lage außer Kontrolle gerät. Die Folge wären ein weitgehender Zusammenbruch des Handels und ein Übergang zur Tauschwirtschaft. Der Dollar würde rasch zum zentralen Zahlungsmittel, der Devisenhandel jeder Kontrolle entgleiten. Die Staatseinnahmen würden erheblich zurückgehen, viele heute selbstverständliche Verbrauchs- und Gebrauchsgüter wären nicht mehr erhältlich. Große Teile der Bevölkerung müssten sich auf die Hilfe von Familienangehörigen oder die Unterstützung von Hilfsorganisationen verlassen, die Alltagskriminalität würde sich massiv ausbreiten.

Sollte es zu einem solchen Katastrophenszenario kommen, würde der Zusammenhalt des Staates erheblich geschwächt. Jene Regionen Russlands, die mehr in den interregionalen Finanzausgleich einzahlen, als sie zurückerhalten, würden die Zahlungen kürzen. Arme Regionen würden die Bindung an ein Zentrum verlieren, das sie nicht mehr unterstützt. Lokale Konflikte würden um sich greifen, vor allem im Nordkaukasus würden die Spannungen zunehmen. Eine lange Phase politischer Instabilität könnte sogar zu einem Zerfall des Landes führen, der wohl nicht so vergleichsweise unblutig wie jener der Sowjetunion verlaufen würde.

Ein solches Szenario kann kaum durch ein einzelnes Ereignis ausgelöst werden. Eine Kombination von zwei oder drei Faktoren kann jedoch zur Katastrophe führen. Ein solcher Faktor wäre eine Bankenkrise, die der Staat nicht durch eine Rekapitalisierung der Banken beendet. Schwierigkeiten beim Zahlungsverkehr würden bei den Sparern Panik auslösen, die versuchen, ihre Guthaben abzuheben und in Devisen oder Sachwerte umzutauschen, auch wenn dies direkt verboten wird. Der Zahlungsverkehr würde komplett zusammenbrechen, die Inflation und die Devisenkurse würden in die Höhe schießen und der Rubel als Zahlungsmittel ausfallen. Eine solche Situation hat Deutschland Mitte der 1920er Jahre erlebt.

Ein zweiter Faktor, der dazu beitragen könnte, dass ein Katastrophenszenario eintritt, wäre ein Versagen oder eine wesentliche Minderung der Funktionsfähigkeit einer großen Zahl von Infrastruktureinrichtungen als Folge von Abnutzung, unterlassener Wartung, eines Mangels an Ersatzteilen oder an Energie. Dies kann geschehen, wenn im Staatshaushalt die Mittel für Modernisierungsinvestitionen fehlen. Unter bestimmten Bedingungen können Havarien bei Schlüsselobjekten der Infrastruktur, auch wenn sie sich nicht auf andere Objekte auswirken, gravierende Folgen für die Wirtschaft haben. Besonders gefährdet sind die kommunalen Versorgungssysteme (Wasser-, Gas- und Stromversorgung für die Haushalte), wenn es zur Unterfinanzierung und dem Zusammenbruch des lokalen Systems der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft kommt.

Ein dritter Faktor wäre ein scharfer Rückgang der Förderung fossiler Rohstoffe als Folge anhaltend niedriger Weltmarktpreise. Mit den heute in Russland angewandten Ölförderverfahren ist ein deutlich wesentlich geringerer Ausbeutungsgrad der Felder zu erreichen, als es moderne Verfahren ermöglichen. Gibt es keine gravierenden Änderungen, ist damit zu rechnen, dass die wirtschaftlich nachhaltige Höchstfördermenge sich ungefähr bis 2035 halbieren wird. Freilich ist unklar, welchen Effekt die gegenwärtige beschleunigte Förderung mit der vorhandenen Technik haben wird. Es ist nicht auszuschließen, dass eine kurzfristige Steigerung der Förderung mit veralteter Technik dazu führt, dass die Ölförderung schon in den kommenden drei bis vier Jahren deutlich fallen wird. Was dann passiert, zeigt das Beispiel Venezuelas, das zwei Drittel seiner potentiellen Förderung verloren hat und bereits Öl im Ausland kaufen muss.

Ein vierter Faktor wäre ein Kollaps ganzer Industriezweige. Wegen der zurückgehenden Kaufkraft wird in Russland in den kommenden Jahren die Nachfrage nach verschiedenen Waren und Dienstleistungen und insbesondere nach langlebigen Konsumgütern zurückgehen. Davon wird eine ganze Reihe von Wirtschaftszweigen betroffen sein. Dies sind zum einen viele Kleinunternehmen aus dem Dienstleistungsbereich, etwa Frisöre, Schönheitssalons, Sportclubs und Cafés, die zudem auf importierte Vorprodukte angewiesen sind, so dass bei zurückgehender Nachfrage auch ihre Kosten erheblich steigen. In diesem Sektor arbeiten in Russland mehr als drei Millionen Menschen.[27]

Ebenfalls bedroht ist die Bauindustrie. Die Kosten für die Errichtung von einem Quadratmeter Wohn- oder Büroraum sind – inflationsbereinigt – in den letzten Jahren um 20 Prozent gefallen, also auf das Niveau von 2002, die Preise auf das Niveau von 2001.[28] Während jedoch 2002 1,5 Millionen Beschäftige 49 Millionen Quadratmeter errichteten, hat sich die Zahl der Beschäftigten bis 2014 auf 5,7 Millionen fast vervierfacht, die Fläche ist jedoch lediglich um weniger als das Dreifache auf 138 Millionen Quadratmeter gestiegen.[29] Man kann annehmen, dass das Bauvolumen auf den Stand von 2002 sinken wird. Dies bedeutet, dass in der Bauindustrie drei bis vier Millionen Menschen arbeitslos werden. Auf relevante Subventionen für den Bausektor, dessen heutiger Produktions­umfang 200 Milliarden Dollar bei einer Gewinnmarge von acht Prozent beträgt, ist nicht zu hoffen. Dutzende von Milliarden Dollar wären erforderlich.[30]

Zu den bedrohten Branchen zählen auch der Bankensektor, das Beförderungswesen, der Tourismus, das Hotel- und Gaststättenwesen sowie der Handel mit Importwaren. Es droht die Gefahr eines gleichzeitigen, sich gegenseitig verstärkenden Zusammenbruchs verschiedener Wirtschaftszweige, in dessen Folge fünf bis zehn Millionen Menschen ihre Arbeit verlieren.

Mit dem Teufel gegen Beelzebub

Russlands Führung wird nach Wegen suchen, um mehr Geld in den Haushalt zu spülen, damit der Appetit der Interessengruppen befriedigt werden kann. Für liberale Reformen hat sie kein Mandat, vielmehr finden in der Bevölkerung solche Stimmen viel Gehör, die eine Einschränkung des Außenhandels und der Marktmechanismen, eine umfangreiche Geldemission, Verstaatlichungen und staatliche Infrastrukturinvestitionen fordern.[31]

Zunächst wird die Führung jedoch versuchen, die Einnahmen des Staats ohne grundlegende Reformen in die eine oder andere Richtung zu erhöhen. Erstes Mittel ist die Abschaffung von Steuervergünstigungen sowie die Erweiterung von Steuern und Abgaben. Angesichts der wirtschaftlichen Depression kann die Führung die Steuerlast für die Unternehmen nicht wesentlich erhöhen. Daher werden eher die Steuern für alle öffentliche Einrichtungen und ihre Bediensteten angehoben, so dass bei formal stabilen oder sogar steigenden Zuwendungen und Löhnen dennoch mehr Geld in den Haushalt zurückfließt. Ein anderer Weg ist, Abgaben zu erhöhen oder einzuführen, die die Bevölkerung nicht umgehen kann, etwa Kommunalabgaben, Steuern auf Bankeinlagen, auf Gewinne aus Kursdifferenzen, auf den Devisenumtausch. Ein weiterer Weg ist, Steuern oder Abgaben zu erhöhen oder einzuführen, die sehr viele Menschen zahlen, so dass selbst eine sehr kleine Erhöhung eine relevante Zunahme des Steueraufkommens erbringt. Dies gilt für die Vermögenssteuer, Steuern auf stark nachgefragte Waren, für Autobahn- und Parkplatzgebühren, Kindergarten- und Schulgebühren. Vieles spricht dafür, dass gerade solche Steuern und Abgaben eingeführt werden, bei deren Erhebung die Einnahmen zu einem Großteil aufgefressen werden oder verschwinden.

Der Staat könnte auch versuchen, mehr Einnahmen zu erzielen, in dem er sehr hohe Steuern einführt, die nur eine sehr kleine Schicht der Bevölkerung betreffen, die nicht relevant für die Stabilität des politischen Systems sind. Zu denken wäre an exponentiell steigende Steuersätze auf Immobilien, Autos oder Kunstwerke, die jedoch von allen, die dem Kreml nahestehen, umgangen werden können. Ebenso könnten hohe Gebühren auf Reisepässe und Ausgaben im Ausland erhoben werden. Letzteres kann leicht erreicht werden, indem die Ausfuhr von Bargeld verboten und die Steuer auf Bankabhebungen aus dem Ausland erhoben wird. Auch die Einkommenssteuer für die obersten drei bis fünf Prozent der Bevölkerung könnte massiv angehoben werden. Ebenso könnten Steuern für Wohnungen in zentraler Lage, für Eigenheime, für hochwertige Einrichtungsgegenstände, Wertsachen und teure Kleider eingeführt werden.

Neben der Erhöhung der Einnahmen wird der Staat wohl auch seine Ausgaben senken. Das Rentenalter wird definitiv erhöht werden. Die Ausgaben für Bildung und Gesundheit werden sicher gekürzt werden. Alle Unternehmen, die Waren an staatliche Einrichtungen liefern oder Dienstleistungen anbieten, werden die Preise senken müssen. Dies wird auf Kosten der Qualität gehen, daher werden die Kontrollen laxer werden. Sicher werden Leistungen betroffen sein, deren Streichung oder Kürzung nicht unmittelbar erkennbar ist. Zu denken ist etwa an den Umfang medizinischer Leistungen und die Menge und die Qualität von Medikamenten in Krankenhäusern. Außerdem kann die Finanzierung von Musikschulen und anderen Einrichtungen der außerschulischen Bildung gekürzt oder gestrichen werden. Sie können privatisiert oder Organisationen unterstellt werden, die ihren Einfluss ausweiten möchten und loyal zur Staatsmacht stehen, insbesondere der Russischen Orthodoxen Kirche. Regionalen Eliten, die bislang großzügig finanziert wurden, wird nahegelegt werden, ihren Appetit zu zügeln. Wenn der Staat Loyalität nicht mehr erkaufen kann, wird er auf Zwang setzen.[32]

Auch Konfiskationen sind nicht ausgeschlossen. Betroffen sein könnten etwa die inländischen Bankguthaben der Bevölkerung, die gegenwärtig 250 Milliarden Dollar betragen.[33] Auch könnte ein großes Bankensterben zugelassen oder herbeigeführt werden. Die nach dem Konkurs verbleibenden Aktiva würde der Staat übernehmen. Andere Mittel sind ein Zwangsumtausch von Devisenguthaben in Rubel zu einem niedrigen Kurs oder der zwangsweise Umtausch von Rubelguthaben in langfristige Staatsanleihen oder Aktien staatlicher Banken. Der Staat kann auch auf das Auslandsvermögen zugreifen, etwa in dem er Auslandsguthaben für Staatsbürger mit erstem Wohnsitz in Russland verbietet.

Zahlreiche Unternehmen könnten konfisziert werden. Entweder würden dann dem Haushalt direkt neue Einnahmen zufließen oder der Appetit großer und kleiner Günstlinge von Interessengruppen wird gestillt, so dass diese Kürzungen aus den Haushalt akzeptieren. Vielleicht wird es in einigen Jahren auch zur richterlich angeordneten Vermögenskonfiskation kommen. Der Staat wird „auf gesetzlicher Grundlage“ das Vermögen unbequem gewordener oder einfach schwacher Eigentümer einziehen und es an mächtige und loyale Vertreter der einflussreichen Gruppen veräußern, so dass er weniger aufwenden muss, um deren Loyalität zu sichern, und gleichzeitig Mittel in das Staatsbudget fließen.

Der Staat kann auch Leistungen, die er gegenwärtig umsonst oder zu symbolischen Gebühren zur Verfügung stellt, dazu nutzen, um seine Personalausgaben zu verringern. Er könnte es zur Bedingung für ein gebührenfreies Studium machen, dass die Studenten sich verpflichten, nach dem Studium für eine gewisse Zeit eine – niedrig bezahlte – Stelle im Staatsdienst annehmen. Eine Befreiung von Studiengebühren könnte auch an eine Verpflichtung zum Wehrdienst oder zu einem Zivildienst geknüpft werden. Eine andere Möglichkeit ist ein allgemein verpflichtender Arbeitsdienst, auch für Frauen.

Alle diese Maßnahmen werden allerdings keinen nachhaltigen Effekt haben. Innerhalb von drei bis vier Jahren wird ihr Potential erschöpft sein.

Dann wird die Regierung beginnen, die Preise und generell jede Wirtschaftstätigkeit zu regulieren, den Binnenmarkt abschotten, ganze Industriezweige de facto verstaatlichen, Ersparnisse und sonstiges Eigentum konfiszieren und grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeiten weiter einschränken.


Heilmittel Infrastrukturinvestitionen?

Staatliche Investitionen in die Infrastruktur können unter bestimmten Bedingungen direkte Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum haben. Dies gilt, wenn sie der Nachfrage entsprechen, und zwar entweder einer, die es bereits gibt, oder einer, die erst entsteht. Ist dies nicht der Fall, verpuffen die Investitionen. In einigen Staaten Afrikas haben staatliche Infrastrukturinvestitionen das Wachstum angespornt. Dort reichte die Infrastruktur nicht einmal für die grundlegenden Handels- und Produktionsbeziehungen, ausländische Unternehmen waren zu Investitionen bereit und die Bevölkerung gewillt, sich in moderne Wirtschaftsbeziehungen einzugliedern. In Ländern wie Russland, wo die Infrastruktur auf einem mittleren Niveau liegt, sind solche Erfolge nicht zu erwarten. Die heutige wirtschaftliche Depression ist nicht Folge einer schwach entwickelten Infrastruktur. Die Kosten für Transport, Kommunikation und Logistik sind zwar hoch, wesentlich höher sind aber die Kosten, die durch mangelnde Rechtssicherheit, fehlenden Investorenschutz, politische Risiken und Korruption verursacht werden. Zudem fehlt es in Russland an Kapital und Arbeitskräften für ein zügiges Wachstum. Umfangreiche Infrastrukturinvestitionen des Staates sind mit zahlreichen Problemen konfrontiert.

Vor allem ist das Risiko von Fehlallokationen hoch. Die Mittel fließen nicht in die geeignetsten Investitionsobjekte, sondern in solche, die für die mächtigsten Lobbyisten am nützlichsten sind und die einen großen Schauwert haben. Ein Beispiel ist die für den APEC-Gipfel 2012 errichtete Brücke auf die Insel Russkij vor Vladivostok, eine der größten Schrägseilbrücken der Welt, die mehr als eine Milliarde US-Dollar verschlang, aber weder einem Bedarf entsprach, noch einen solchen schuf. Ein anderes sind die Investitionen vor den Olympischen Winterspielen in Soči. Gleiches gilt für die Gas­pipeline Sila Sibiri.[34]

Darüber hinaus ist die Finanzierung meist fragwürdig: Die Projektkosten sind von Anfang an überhöht, oft fließen bis zur Hälfte der Ausgaben gar nicht in das Projekt, sondern wandern auf offshore-Konten. Dieser Kapitalabfluss hat auch eine Abwertung des Rubel zur Folge. Sodann ist die Ausführung sehr oft mangelhaft: Der Bau geht langsam voran, Qualitätsstandards werden nicht eingehalten, ein Teil der Objekte erweist sich als wenig oder gar nicht nutzbar. Auch ist die Nutzung oft nicht gesichert: Die Objekte werden nicht fertiggestellt, es fehlt geeignetes Personal, und der Bedarf ist fraglich. Zusätzliche Mittel für den Unterhalt und die Umstellung auf andere Verwendungen werden nicht zugeteilt, viele Objekt liegen daher brach. Schließlich haben die Investitionen einen Einfluss auf die allgemeine Nachfrage: Die Mittel für die Infrastrukturinvestitionen werden durch Emission von Staatsobligationen aufgebracht, wodurch die Inflation steigt, die Kaufkraft abnimmt und der Bedarf an derartigen Objekten noch geringer wird.

Ebenso gibt es eine negative Auswirkung auf das Geschäftsklima: Die Umleitung von Ressourcen in staatliche Investitionen senkt die Geschäftstätigkeit und erhöht die Kosten für unabhängige Geschäftszweige, denn bei niedrigem Produktionsniveau und knappem Arbeitskräftepotential ziehen die staatlichen Investitionen sowohl Rohstoffe als auch Arbeitskräfte aus anderen Verwendungen ab und heben das Preis- und das Lohnniveau an. Die Mittel fließen nicht nur direkt in den Import von Rohstoffen, Materialien und Ausrüstungen. Auch die in den Projekten Beschäftigten geben ihre Löhne zu einem großen Teil für Waren aus, die importiert werden, was ebenfalls den Rubelkurs unter Druck setzt und so die Kaufkraft verringert. Auch ersticken staatliche Investitionen andere Reformansätze. Die Elite profitiert von den Projekten, so dass ihr Wille zu echten Reformen, die ihnen langfristig ihr Einkommen sichern würden, geschwächt wird. Reformen werden aufgeschoben, das Land fällt weiter zurück.

Selbst wenn man annimmt, dass es einen Bedarf an dem Ausbau der Infrastruktur gibt und sich die genannten Probleme überwinden lassen, müssen gigantische Ausgaben getätigt werden, um eine Volkswirtschaft wie jene Russlands in Schwung zu bringen. Statistiken zeigen, dass in Staaten mit mittlerem Einkommen und einem stabilen Niveau staatlicher Investitionen von drei bis vier Prozent des BIP eine Erhöhung der Infrastrukturinvestitionen um ein Prozent dazu führt, dass das BIP einmalig um 0,08 Prozent ansteigt und sich dieser Anstieg in den Folgejahren um jeweils 75 Prozent abschwächt. Damit das BIP um drei Prozent zunimmt, müssten in Russland die Investitionen im ersten Jahr um 36 Prozent erhöht werden, im Folgejahr um 18 Prozent, dann um neun Prozent und so weiter. Die staatlichen Investitionen müssten insgesamt fast vervierfacht, nimmt man die Verluste durch Korruption und mangelnde Effizienz hinzu, sogar versiebenfacht werden. Nach vorsichtigen Schätzungen müsste Russland für eine Steigerung des BIP um drei Prozent für viele Jahre 15 Prozent seines BIP in die Infrastruktur investieren. Zum Vergleich: Mexiko investiert fünf Prozent des BIP in die Infrastruktur, Indien zehn Prozent, Indonesien weniger als sieben Prozent und China zwischen sechs und elf Prozent.

Einziger Ausweg: Verringerung der Risiken

Die Probleme der Volkswirtschaft Russlands lassen sich auf einen Nenner bringen: Die Risiken sind im Vergleich zu den Gewinnmöglichkeiten viel zu hoch. Russland ist ein Land mit mittleren Einkommen, in dem es praktisch keine Nischen für Geschäfte mit hohen Gewinnmargen gibt. Quasimonopolistische Konglomerate berechnen der Wirtschaft für zentrale Güter und Dienstleistungen (Energie, Transport) überhöhte Preise. Auch hängt Russland stark vom Import ab, die Rohstoffe und Vorprodukte sind jedoch aufgrund des Wechselkurses teuer und werden zudem übermäßig besteuert.

Daher kann Wachstum nur generiert werden, indem die Risiken verringert werden. Auch in den hochentwickelten Ländern – in Nordeuropa, in den USA und in Kanada – sind die Gewinnmargen gering, in erster Linie aufgrund starker Konkurrenz, hoher Steuern und eines langsamen Wachstums der Nachfrage. Dennoch nimmt das BIP dort pro Einwohner jährlich um 1000 Dollar zu – für Russland wäre das ein Zuwachs von 13 Prozent! –, der Grund ist, dass die Risiken gering sind. Das zentrale Risiko ist, dass die Eigentumsrechte kaum geschützt sind. Man führe sich vor Augen: Der Moskauer Bürgermeister nennt Eigentumsurkunden verächtlich „Zettel“. Hinzu kommt die generelle Rechtsunsicherheit bei Streitigkeiten mit den Regulierungs- und den Finanzbehörden sowie mit den Sicherheitsapparaten, aber auch bei Konflikten zwischen den Wirtschaftssubjekten.

Soll sich dies ändern, bedarf es umfangreicher Gesetzesänderungen. Internationalen Gerichtshöfen und internationalem Recht muss ein Primat eingeräumt werden. Bei Streitigkeiten mit dem Staat muss eine Unschuldsvermutung gelten, Strafverfahren sollten nur noch dann eröffnet werden dürfen, wenn ein Gericht dies in einem Zivilverfahren unterstützt hat oder sogar den Fall explizit an ein Strafgericht verwiesen hat. Unternehmen müssen als juristische Person geschützt werden, wenn gegen den Eigentümer oder gegen Topmanager Anklage erhoben wird. Es müssen flächendeckend Geschworenengerichte eingerichtet werden. Richter müssen von der untersten Ebene an von unabhängigen Ausschüssen gewählt werden. Gutgläubig vom Staat erworbene Rechte müssen einem Schutz unterliegen, auch wenn der Staat dabei gegen Vorschriften verstoßen hat (bona fide), die hundertprozentige Legalisierung von Eigentum muss möglich sein. Solche Reformen würden dazu führen, dass Unternehmer und Investoren die Risiken neu bewerten. Sie würden einen Übergang von dem heutigen feudalen und korrumpierten Rechtssystem zu einem Modell bedeuten, bei dem die Parteien in rechtsstaatlicher Weise Streitigkeiten austragen.

Wichtig zur Risikominderung sind schließlich gesetzliche Vorschriften zum Schutz von Unternehmern und Investoren bei Gesetzesänderungen und staatlichen Entscheidungen (nicht nur wenn dabei gegen Recht verstoßen wird) und bei anderem Handeln oder Nichthandeln von Staatsorganen oder Amtsträgern in allen Fällen, in denen Unternehmern und Investoren Verluste entstehen oder Gewinne entgehen. Insbesondere müssen Unternehmer und Investoren vor Gesetzesänderungen und staatlichen Entscheidungen geschützt werden, die in bestehende wirtschaftliche Grundlagen eingreifen und dadurch die Geschäftsführung wesentlich beeinträchtigen. Dies ist der Fall, wenn vernünftigerweise auf die Weiterführung der Geschäfte unter den gegebenen Bedingungen vertraut werden konnte oder der Staat entsprechende Garantien (auch mündliche) für das Weiterbestehen dieser Bedingungen gegeben hat. Auch sollten Sammelklagen vor internationalen Gerichten ohne Beschränkung zugelassen werden.

Aus dem Russischen von Roland Götz, Berlin

 


[1]   Der Korrelationskoeffizient lag bei 0,9–0,95; Andrej Movčan: Iz kakich ožidanii rasčitivalsja Rossijskij budžet 2016. Moskva, 9.11.2015, <http://carnegie.ru/commentary/2015/11/09/ru-61.908/ilb1>.

[2]   Berechnungen des Autors auf der Basis von Rosstat-Daten, <www.gks.ru/wps/wcm/connect/

    rosstat_main/rosstat/ru/statistics/accounts>.

[3]   Berechnungen des Autors auf der Basis von Rosstat-Daten, <www.gks.ru/wps/wcm/connect/

    rosstat_main/rosstat/ru/statistics/population/level/>.

[4]   Berechnungen des Autors auf der Basis von Rosstat-Daten, <www.gks.ru/wps/wcm/connect/

    rosstat_main/rosstat/ru/statistics/accounts/>.

[5]   Berechnungen des Autors auf der Basis von Daten der Zentralbank, <www.cbr.ru/hd_base/

    ?PrtId=mrrf_7d>.

[6]   Berechnungen des Autors auf der Basis von Zahlen aus Anastasija Nikitina: Prognoz rossijskoj ėkonomiki Vsemirnogo banka. Rezkij rost urovnja bednosti, in: Neftegazovaja vertikal’, 23.10.2015, <www.ngv.ru/news/prognoz_rossiyskoy_ėkonomiki_vsemirnogo_banka_rezkiy_

    rost_urovnya_bednosti/?sphrase_id=2680501>.

[7]   Berechnungen des Autors auf der Basis von Daten der Zentralbank Russlands, <www.cbr.ru/ statistics/?PrtId=sors>.

[8]   Berechnungen des Autors auf der Basis von Daten von RIA „Rejting“, <www.riarating.ru/ banks_rankings/20160128/630007654.html>.

[9]   Für eine Liste der juristischen und natürlichen Personen, gegen die Einreiseverbote oder Wirtschaftssanktionen ausgesprochen wurden, siehe: Osteuropa, 7/2014, S. 31–54.

[10]  Vladislav Gordeev: Pod sankcijami Rossija narastilia ob”em ėksportnych zakazov na oružie, 8.11.2015, <www.rbc.ru/politics/08/11/2015/563f132a9a7947484a611039>. – Rossija v 2015 godu ėksportirovala oružie bolee čem na $15 mlrd, 30.12.2015, <http://ria.ru/defense_ safety/20151230/1351521721.html#ixzz3vnTJYWoV>.

[11]  Die Entwicklungsgenerationen beziehen sich auf Flugzeuge mit Strahlantrieb. Als erste Generation werden Jäger und Jagdbomber aus den Jahren 1940–1953 bezeichnet. Die Einführung der fünften Generation begann etwa 1995. Russlands Rüstungsindustrie ist mit dem teilweise gemeinsam mit Indien hergestellten Mehrzweckjäger Suchoj-T-50 vertreten, der ab 2018 in Dienst genommen werden soll.

[12]  Berechnungen des Autors auf der Basis von Daten des Finanzministeriums, <http://minfin.ru/ ru/statistics/fedbud/index.php#>.

[13]  Berechnungen des Autors auf der Basis von Rosstat-Daten, <www.gks.ru/wps/wcm/connect/ rosstat_main/rosstat/ru/statistics/population/demography/>.

[14]  Berechnungen des Autors auf des Basis von Daten des Föderalen Zolldienstes der RF,

    <www.customs.ru/index.php?option=com_newsfts&view=category&id=51 &Itemid=1977>.

[15]  Berechnungen des Autors auf der Basis von Rosstat-Daten, <www.gks.ru/wps/ wcm/connect/

    rosstat_main/rosstat/ru/statistics/enterprise/reform>.

[16]  Berechnungen des Autors auf der Basis von Daten der Zentralbank Russlands, <www.cbr.ru/ statistics/?PrtId=svs>.

[17]  Institut sovremennogo razvitija (INSOR), <www.insor-russia.ru/ru/news/about_insor/377>.

[18]  Föderales Gesetz N 359-FZ „O federal’nom bjudžete na 2016 god“, <www.consultant.ru/ document/cons_doc_LAW_190535>.

[19]  Berechnungen des Autors auf der Basis von Daten von Rosstat, <www.gks.ru/wps/wcm/ connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/accounts>.

[20]  Berechnungen des Autors auf der Basis von Daten von Rosstat, <www.gks.ru/wps/wcm/ connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/accounts>.

[21]  Berechnungen des Autors auf der Basis von Daten von Rosstat, <www.gks.ru/wps/wcm/ connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/accounts/>.

[22]  Berechnungen des Autors auf der Basis von Daten von Rosstat, <www.gks.ru/wps/wcm/ connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/wages/>.

[23]  Berechnungen des Autors auf der Basis von Daten von Rosstat, <www.gks.ru/wps/wcm/ connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/population/level>.

[24]  Denis Volkov: Sociologija. Rodina vne kritiki. Vedomosti, 18.3.2016, <www.vedomosti.ru/ opinion/articles/2016/03/18/634111-rodina-kritiki>.

[25]  Auf die Bedeutung der Öl- und Gasrente, also des Anteils der nicht dem Arbeits- und Kapitaleinsatz direkt zuzurechnenden Einkommen aus der Ausbeutung von fossilen Bodenschätzen am BIP, haben Clifford Gaddy und Barry Ickes hingewiesen: Clifford Gaddy, Barry Ickes: Resource Rents and the Russian Economy, in: Eurasian Geography and Economics, 8/2005, S. 559–583.

[26] <https://ru.wikipedia.org/wiki/Список_стран_по_ВВП_(номинал)_на_душу_населения>.

[27]  Berechnungen des Autors auf der Basis von Daten von Rosstat, <www.gks.ru/wps/wcm/ connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/enterprise/reform/>.

[28]  Berechnungen des Autors auf der Basis von Daten von Rosstat, <www.gks.ru/wps/wcm/ connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/enterprise/building/>.

[29]  Ebd.

[30] <https://ru.wikipedia.org/wiki/Строительство>.

[31]  Siehe dazu – mit anderer Einschätzung zur Bedeutung dieser Stimmen – Roland Götz: Der Pragmatismus hinter dem Getöse. Fiskal-, Geld- und Währungspolitik in Russland, in: Osteuropa, 11–12/2015, S. 51–69, hier S. 60–67.

[32]  Siehe dazu den Artikel von Margarete Klein in diesem Band, S. 19–32.

[33]  Berechnungen des Autors auf der Basis von Daten der Zentralbank Russlands, <www.cbr.ru/ statistics/?PrtId=sors>.

[34]  Zu Soči siehe Martin Müller: Think big! Das Großprojekt Soči 2014, in: Osteuropa, 6–8/2012, S. 313–324. – Zu Pipeline „Sila Sibiri“ siehe Aleksandr Gabuev: Traumpartner China? Russlands Suche nach neuen Öl- und Gasmärkten, in: Osteuropa, 5–6/2015, S. 85–97.

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